Giovanna
Testa
Giovanna Testa
war elf Jahre alt, als der zweite Mann ihrer Mutter in den Kerker
kam. Das Gerichtsurteil sagte: Wegen schwerer Sittlichkeitsverbrechen,
begangen an der eigenen Stieftochter. Die Leute von Portofino sagten:
Giovannas wegen. Denn der Gastwirt Pietro war, wenn auch von etwas
scheuer und vielleicht sogar etwas hinterhältiger Gemütsart,
ein ganz ruhiger Mensch, den man außerdem für viel zu
feige hielt, um ein Verbrechen zu begehen. Giovanna hingegen hatte
ganz die leidenschaftliche Natur ihres Vaters, eines Sizilianers,
geerbt und man hätte nicht sagen können, was heißer
und flammender war: ihre nachtschwarzen Augen oder ihr südliches
Temperament.
nd so glaubten die Leute ihr einfach nicht, daß sie all die
schrecklichen Dinge, die Pietro ins Verderben brachten, ausgesagt
hatte, einfach weil sie ihrer müde war und bei der Mutter weder
Glauben noch Schutz fand, sondern sie sagten: Sie hat gewiß
mit Pietro etwas gehabt und hat sich rächen wollen, - diese
schwarze Pantherkatze! - Denn die Leute urteilen nach dem Schein,
und sie dachten nicht daran, daß Pietro innen ein sehr verdorbener
Mensch sein konnte, auch wenn er nicht gerade stahl oder mordete,
und daß eben seine Feigheit es war, die ihn an einem Kinde
sich vergreifen ließ, - weil er vor einem erwachsenen Menschen
Furcht hatte.
Hatte Giovanna
überhaupt seit der zweiten Ehe ihrer Mutter keine rosigen Tage
gehabt, so war ihre Lage nach dieser Skandalgeschichte einfach eine
beklagenswerte. Ihre Mutter war eine unduldsame, harte Person, die
den lieben Gott beständig auf den Lippen haben mußte,
weil in ihrem Herzen nur Raum für den Geldbeutel war. Sie hatte
den faulen und sinnlichen Pietro lediglich der ansehnlichen Schenke
wegen geheiratet, die sein Vater ihm vererbt hatte, denn es war
ihr Ehrgeiz, eine angesehene Frau zu sein. Wenn er gestorben oder
plötzlich verunglückt wäre, so hätte das vermutlich
nur ihren Mund, nicht aber ihre Gefühle in Bewegung gesetzt.
Aber diese anrüchige und höchst schmachvolle Art seines
Abganges erbitterte sie auf das tiefste.
Eine Flut von Schmutz, vor allem aber von Hohn und Spott ergoß
sich ja auch auf sie und das angesehene Haus, und wenn sie sich
nach außen auch nichts merken ließ und hartnäckig
gegen alles Ungemach ankämpfte, so platzte sie doch innen fast
vor Wut und Zorn und Ärger. Hätte sie Pietros habhaft
werden können, so wäre sie ganz sicher mit dem Besenstiel
auf ihn losgegangen. Es war wirklich zweifelhaft, ob es nicht eine
härtere Strafe für ihn gewesen wäre, wenn man ihn
bei dieser erbitterten und handfesten Frau gelassen hätte!
Aber er war nun einmal im Kerker und ihrem Zorne entrückt,
und deshalb hielt sie sich an Giovanna, in der sie die Quelle all
des Unglücks sah, das über sie hereingebrochen war.
Sie gab vor, ihr die Sündhaftigkeit auszutreiben, indem sie
sie an den Haaren riß oder sie ohrfeigte und knuffte, sobald
sie nur mit ihr allein war, und lief Giovanna ihr dann fort und
auf die Straße, so riefen ihr die Kinder die wüsten Dinge
nach, die sie von ihren Müttern gehört hatten. Im Anfang
ließ das leidenschaftliche Kind sich das nicht gefallen, sondern
schimpfte seinerseits wieder, aber daraus pflegten sich dann Tätlichkeiten
zu entwickeln, bei denen sie, die allein war, gewöhnlich wieder
Prügel bezog, so daß sie schließlich die Zusammenstöße
mit ihresgleichen vermied. Und so war sie denn förmlich geächtet
und verfemt von allen, und sie kannte überhaupt nur ein einziges
Plätzchen, an dem sie ungestört war und Ruhe und Frieden
hatte, und das war ganz draußen am äußersten Ende
des steilen Felsenkaps von Portofino, an der Punta.
Dort stand, einsam und ganz grün umrankt, ein kleines steinernes
Madonnenbild, und davor war eben noch so viel Platz, um niederzukauern.
Nach rechts und links, von wo aus man auf die rote Riviera hätte
zurückblicken müssen, war der Ausblick verwachsen. Aber
geradeaus sah man durch sanft schwankende Pinienzweige weit hinaus
auf das tiefblaue Meer, das ferne, endlos ferne mit der tiefen Bläue
der Luft verschwamm, - dort, von wo der Schirokko den Gluthauch
eines fernen Erdteils herübertrug. Und tief zu Füßen,
an den zerklüfteten Felsen, schlug schäumend die Brandung
an und sang ein seltsames, herzerschütterndes Lied mit einem
ewig wiederkehrenden Refrain von wilder Sehnsucht - und von Verzweiflung.
- -
Immer, wenn Giovanna nicht mehr ein noch aus wußte, dann flüchtete
sie zu der kleinen Madonna an dem großen weiten Meer, und
all die verbissene Wut, der Schmerz, der Zorn, den sie in sich trug,
löste sich hier in eine Flut von Tränen auf. Und sie schaute
mit nassen Augen stundenlang auf die See, und wenn sie wieder nach
Hause mußte, warf sie einen Blick heißer Dankbarkeit
auf die Madonna, die einzige, die sie verstand und ihr ein Plätzchen
gönnte, die ihr mild und freundlich zulächelte. Denn ihr
kindliches Gemüt gab sich keine Rechenschaft darüber,
daß das, was an diesem Fleck so wunderbar mit ihrem eigenen
Wesen harmonierte, nicht das stumme steinerne Bildchen, sondern
daß es die Natur war, die Natur in ihrer ungebändigten
Urwüchsigkeit. - -
Ihre Mutter hätte schwerlich wegen eines so verdorbenen Geschöpfes,
wie es die Giovanna in ihren Augen war, auch noch Geld ausgegeben.
Aber als das Mädchen älter wurde, entwickelte es sich
zu einer üppigen Schönheit, der die Männer nachstellten,
noch ehe sie vierzehn Jahre alt war. An sich hätte Signora
Testa das nicht für einen Fehler gehalten: ein schönes
Mädchen ist ein gutes Aushängeschild für eine Schenke!
Aber in diesem Falle handelte es sich meist um übelberüchtigte
und liederliche Gesellen, die sich an die Mädchen von gutem
Ruf nicht heranwagen konnten und in der Verfemten leichte Beute
witterten, Leute, die ihre Zeche schuldig blieben und anderes zweifelhaftes
Gesindel nach sich zogen. Da es ihr aber ohnedies schwer genug wurde,
ihr Haus wieder zu Ansehen zu bringen, beschloß sie, dieses
Unglücksgeschöpf von einem Mädchen einfach fortzuschicken.
Sie kannte von früher her die Oberin eines Klosters, eines
Ordens von Schulschwestern, weit genug von Portofino, und sie brachte
es mit einer Flut von scheinheiligen Tränen über das Seelenheil
dieses unglücklichen Kindes und über ihre eigene trostlose
Lage denn auch glücklich fertig, daß die guten Nönnchen
für ein lächerlich geringes Entgelt - um der Madonna willen
- das räudige Schäflein bei sich aufnahmen.
Man hatte Giovanna durchaus nicht nach ihren Gefühlen gefragt,
als man sie so ohne weiteres ins Kloster steckte. Aber - trotzdem
ihr feuriges Temperament unter anderen Umständen nach mehr
Abwechslung verlangt hätte - sie hatte in den letzten Jahren
so viel Prügel bekommen, sie war so gehetzt gewesen, hatte
so viel Wüstes und Abscheuliches über sich ergehen lassen
müssen und hatte eine solche Angst und einen solchen Abscheu
vor den Männern, die ihr verfängliche Fragen stellten
oder sie anzufassen versuchten, daß sie den ruhigen Frieden
innerhalb der Klostermauern ordentlich wie eine Erlösung betrachten
mußte. Zwar ging sie im Anfang stumm und verschlossen einher,
mit einer gewissen mißtrauischen Furcht, ob das alles nicht
vielleicht doch nur ein neues Mittel sei, sie zu quälen, zumal
die frommen Nönnchen sich ihrerseits auch ein wenig abwartend
verhielten und sie anfangs so vorsichtig behandelten wie etwa ein
fremdartiges wildes Tier. Aber eines Tages fand sie in einem Seitenkapellchen
der Klosterkirche ein Madonnenbild, das sie unwiderstehlich an das
Bildchen draußen an der Punta erinnerte. Und während
sie sich in seinen Anblick vertiefte, meinte sie ganz in der Ferne
das Lied der Brandung zu hören, und noch in der Erinnerung
wirkte jener Ort so mächtig auf ihr Gemüt, daß sie
den lockigen Kopf auf die braune Betbank legte und bitterlich weinte.
So fand sie die Schwester Seraphina. Schwester Seraphina war schwindsüchtig
und sie sah mit ihrem schmalen, wächsernen Gesicht und den
schwärmerischen großen Augen oft ganz verklärt aus
wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Als sie das Kind so herzbrechend
schluchzen hörte, kam sie in ihrer stillen Weise herbei, setzte
sich neben es, löste ihm sanft den Kopf von dem Betpult und
bettete ihn, ohne ein Wort zu sagen, an ihre Schulter.
Diese zarte und liebevolle Bewegung hatte zur Folge, daß Giovanna
- nach einem mehr vom Erstaunen als vom Trotz verursachten kurzen
Zaudern - ihren Lockenkopf noch fester gegen das dunkle Schwesterngewand
preßte und sich bei dieser ersten verstehenden und mitleidigen
Brust so recht von Herzen ausschluchzte. - Seraphinens leichte schmale
Hand strich ihr dabei sanft über den Scheitel und, von der
Situation hingerissen, erzählte die Kleine ihr unter strömenden
Tränen von der Madonna, von der kleinen Madonna draußen
an der Punta, ihrer einzigen Freundin in ganz Portofino.
Dieser Zug des so bös verschrieenen Mädchens rührte
Schwester Seraphina vollends. Sie nahm sich von Stund an seiner
an und beschäftigte sich täglich mit ihm. - Giovannas
Herz blühte unter ihrem sanften Zuspruch auf wie eine Rose
im warmen Sonnenschein. Es war an sich nur natürlich, daß
das vereinsamte Kind sich, seinem leidenschaftlichen Naturell entsprechend,
aufs engste an diese einzige Freundin anschloß, ganz abgesehen
davon war aber Seraphina auch das gerade Gegenteil von allem und
allen, die Giovanna bis dahin kennen gelernt hatte. - Nicht nur
ihre Augen, - ihr ganzes Wesen hatte zuweilen etwas Unirdisches,
so, als ob dieser Körper zwar dazu bestimmt wäre, noch
eine Weile auf der Erde zu wandeln, der Geist aber bereits verklärt
sei und durch die gebrechliche Hülle hindurchstrahle. Schwester
Seraphina wußte, daß sie nur noch kurze Zeit zu leben
hatte; sie löste bewußt alles Irdische von sich ab, und
die Welt schrumpfte in ihren Augen zu einem wesenlosen Schein zusammen.
An ihre Stelle setzte sie wunderliche Gebilde, aus Todesahnung und
krankhaft gesteigerter Religiosität geboren, und sie verlor
sich infolgedessen zuweilen so tief in einen fast beängstigenden
Mystizismus, daß die anderen, realer veranlagten Schwestern
ihr weder folgen konnten noch wollten. Aber die feurige, schwärmerische
und unbeschäftigte Phantasie der Halbwüchsigen, von Liebe
und Dankbarkeit noch gehoben und getragen, machte all diese Irrgänge
voller Inbrunst mit, umsomehr als dies nach der Uhr geregelte strenge
Leben weder ihren Geist noch ihre Sinne genügend beschäftigte.
Und es war ein rührendes, freilich zugleich ungesundes Bild,
dieses schwellende, üppige Leben an der Seite der Todgeweihten
vor dem Bilde der Jungfrau auf den Knieen liegen zu sehen, mit ihr
die verzücktesten Gebete stammelnd.
Schwester Seraphina gewann einen so absolut entscheidenden Einfluß
auf Giovanna, daß diese, als ihre Mutter ganz unerwartet starb
und sie somit völlig verwaist war, sich keinen Augenblick besann,
ihrem Rate zu folgen: nämlich nie mehr in diese schmutzige,
häßliche und sinnlose Welt hinauszugehen, sondern auf
immer im Kloster zu bleiben. Und - wohin hätte sie auch gehen
können? Allein, verwaist, arm - denn ihr eigener Vater hatte
ihr nicht viel hinterlassen und von der Familie des Stiefvaters
hatte sie zuletzt eine Hilfe zu erwarten! - sah sie nirgend einen
Anhaltspunkt. Wer hätte ihr da draußen geholfen, wer
ihr auch nur ein freundliches Wort gesagt? Hier hingegen kannte
man sie, hatte man sich an sie gewöhnt, hier half man ihr,
- kurzum: sie entschloß sich ohne weiteres dazu, Nonne zu
werden. Und es war nur ein großer Schmerz, daß sie ihrer
mangelnden Vorbildung halber nicht auch Schulschwester werden konnte
wie ihre geliebte Seraphina. Sie trat in einen Orden von Krankenschwestern
ein, weniger aus besonderer Neigung zum Krankenpflegen, als weil
diese Wahl ihr ermöglichte, in derselben Stadt ganz in der
Nähe Schwester Seraphinas zu bleiben und sie von Zeit zu Zeit
zu sehen. Und es gab in diesem anstrengenden Beruf, namentlich in
der ersten Zeit der Ausbildung, so viel zu tun und zu lernen, daß
sie Abends zum Umsinken müde war und gar nicht darüber
nachdachte, daß die Natur sie zu allem anderen eher vorausbestimmt
hatte als gerade zur Nonne. Auch wurde ihr der so zufällig
erwählte Beruf mit der Zeit lieb, weil er ihr half, mehr und
mehr über die trüben Eindrücke ihrer Kinderzeit hinwegzukommen,
und je mehr sie sich einarbeitete, desto mehr sanken hinter ihr
die Tage von Portofino in ein graues Meer der Vergangenheit, der
Vergessenheit.
Nur eines beunruhigte sie zuweilen, besonders seit sie dem täglichen
Einfluß der Schwindsüchtigen entrückt war. Das war
eine Unruhe, die sie von Zeit zu Zeit überfiel, eine treibende
Unruhe, die ihr Herz schneller pochen ließ und machte, daß
sie verträumt und sehnsüchtig hinter den weißen
Wölkchen herschaute, die flüchtig durch das tiefe Blau
des Firmamentes segelten. Es half gar nichts, wenn sie versuchte,
sich durch Beten darüber hinwegzubringen: diese Unruhe war
stärker als das Beten und machte, daß sie ihren Rosenkranz
einherplapperte, ohne die mindeste Andacht dabei zu haben, - im
Gegenteil, ihre Gedanken sprangen während dieser frommen Handhabung
umher wie die jungen Lämmer. Sie nahm sich vor, mit Seraphina
darüber zu reden, aber da es zweifellos etwas Unrechtes war,
unterließ sie es immer wieder, dem mehr und mehr vergeistigten
Antlitz der Schwindsüchtigen gegenüber. Dann wollte sie
in der Beichte davon sprechen, aber sie wußte keinen Namen
dafür: eine eigentliche Sünde war es eben auch nicht!
Und als sie endlich, geradezu gequält, sich fest vornahm, Seraphinas
Rat einzuholen, war es zu spät geworden. Schwester Seraphina
war gestorben.
Ihr Tod war der erste tiefgehende, große und reine Schmerz
in Giovannas Leben, ein Verlust, gegen den der Verlust ihrer Mutter
fast ein belangloses Ereignis war. Und es war ein Schmerz, - nicht
wie das, was sie in Portofino empfunden hatte, etwas, das trotzig,
verbissen und böse macht, sondern ein Schmerz, der fördert,
der besser macht. Zwar war sie zuerst ganz fassungslos, und sie
weinte, wann immer sie allein und unbeobachtet war; aber nie in
ihrem Leben war sie so freundlich, so weich, so voller Liebe und
so der Liebe bedürftig wie in den Wochen nach Seraphinens Ende.
In dieser Zeit wurde ein Mädchen ins Krankenhaus gebracht,
eine von den Unglücklichen, die des Nachts auf den Straßen
sich herumtreiben. Sie hatte sich in einem Anfall von Verzweiflung
aus dem Fenster gestürzt, war von Vorübergehenden gefunden
worden und lag nun da mit zerschmetterten Gliedern, entstellt und
rettungslos verloren. Giovanna hatte ein besonderes Mitleid gerade
mit dieser Kranken, vielleicht weil die anderen Schwestern sie mit
etwas bedenklichen Augen betrachteten, so wie man auch sie, Giovanna,
einmal angeschaut hatte; und sie blieb fast immer länger bei
der Armen, als es der Dienst gerade erfordert hätte. Es schien
ihrem blühenden jungen Leben, namentlich in Rückerinnerung
an den gehabten Verlust, so schrecklich, so ganz unfaßlich,
daß man sich selber töten, selbst Hand an sein Leben
legen könne, daß sie einmal leise und fast schüchtern
fragte, wie sie "das" hätte tun können?
Das Mädchen sah sie trotz seiner Schmerzen fast spöttisch
an und sagte: " Sie meinen wohl, das wäre eine Sünde?"
Giovanna oder, wie sie jetzt hieß, Schwester Maria, schwieg;
freilich fand sie von ihrem Klosterstandpunkte aus, daß es
eine Sünde sei, aber ihr menschlich warmes Gefühl verbot
ihr, diesem hilflosen Unglück gegenüber davon etwas zu
sagen, und die Todkranke fuhr mühsam aber hastig fort: "
Ich will Ihnen mal etwas sagen: Eine Sünde ist höchstens,
daß ich es nicht früher getan habe! Man sollte es gleich
tun, wenn man fühlt, daß man den Halt verloren hat. Ich
wollte damals auch; denn ich bin aus einer anständigen Familie.
Aber, du lieber Gott, ich war noch so jung! - Ich konnte nicht.
- Brachte es nicht fertig. - Ich habe mich schrecklich damit gequält,
daß ich es nicht konnte, aber es graute mir so davor."
Sie machte eine Pause, erschöpft wie sie war, und sah starr
vor sich hin; dann fügte sie mit einer müden Bewegung
hinzu: "Nachher, wenn man erst so ganz abgehetzt und fertig
ist, wenn man so gar keinen Ausweg mehr sieht, dann kommt es ganz
von selber; - dann ist es geschehen, man weiß selbst nicht
wie -"
Am Bette dieser Kranken stand Giovanna, als an einem Morgen statt
des gewohnten alten Anstaltsarztes ein eleganter junger Mann von
höchstens dreißig Jahren eintrat. Als er die Schwester
erblickte, stutzte er und blieb ganz betroffen stehen: eine so junge
und vor allen Dingen so verblüffend schöne Nonne war ihm
ohne Zweifel noch nicht vorgekommen. Er faßte sich nur mühsam
und sagte ihr, immer noch befangen: der alte Herr sei nicht unbedenklich
erkrankt und er habe einstweilen die Vertretung übernommen.
Dann machte er seine Runde durch den Krankensaal; aber ehe er ihn
wieder verließ, traf die schöne Schwester ein Blick seiner
dunklen Augen, der voll der unverhohlensten Bewunderung war.
Als Giovanna wieder allein war, fühlte sie sofort, wie jene
verwirrende Unruhe sie wieder befiel, und zwar stärker als
je in ihrem Leben. Ihr Herz pochte wie rasend bei dem bloßen
Gedanken, diesen brennenden Augen morgen wieder gegenüberzustehen,
und sie erwog den Gedanken, ob sie sich nicht von einer anderen
Schwester vertreten oder sich zu einer anderen Station versetzen
lassen sollte. - Aber es fiel ihr nichts ein, womit sie einen solchen
Wunsch hätte begründen sollen; es lag ja in Wirklichkeit
gar nichts vor, was sie hätte anführen können! -
So fand sie denn der folgende Tag auf ihrem Posten wie alle anderen
Tage, und sie tat ihr möglichstes, auch so ruhig und sicher
zu sein wie sonst. Aber als der Arzt eintrat, schlug ihr die flammende
Röte bis an die Haarwurzeln, und sie wandte mit einer fast
kindlich bittenden Gebärde den Kopf zur Seite. -
Gerade dies Erröten und diese unwillkürliche Bewegung
machten sie noch reizender als zuvor. Ihre Schönheit, - die
von Haus aus eine sinnliche war, - hätte unter anderen Umständen
vielleicht in erster Linie verführerisch, aufreizend gewirkt.
Aber hier, an diesem Orte und in dieser Tracht, hatte sie zugleich
etwas unendlich Rührendes; sie wirkte etwa wie eine frisch
erblühte, duft- und farbenprangende Rose in der Düsternis
und Farblosigkeit eines Gefängnishofes, und der Arzt konnte
kaum seine Augen von ihr abwenden.
Dieser junge Mann war eine leidenschaftliche Natur, deren Leidenschaftlichkeit
jedoch durch seine korrekten und untadeligen Umgangsformen äußerlich
ziemlich verhüllt wurde. Man hätte ihn im Verkehr mit
den Frauen und Mädchen seiner Kreise sogar kalt nennen können,
denn trotzdem, oder auch weil er durch Geburt und Erziehung der
besten Gesellschaft angehörte, hatte er wenig Hochachtung vor
den Frauen. Er hielt sie für heuchlerisch, falsch und verdorben,
und er hatte ordentlich die fixe Idee, es würde unmöglich
sein, eine zu finden, von der man mit Sicherheit sagen könnte,
sie sei ein reines Mädchen. - Er wurde im Freundeskreise mit
diesem seinem Mißtrauen oft genug geneckt, besonders da er
selber durchaus kein heiliger Aloisius war, - aber er machte jenen
naiven Unterschied, den ziemlich alle Männer machen, und obwohl
er sich selbst in seiner Lebensweise durchaus keinen Zwang auferlegte,
hatte ihn diese sozusagen rückblickende Eifersucht tatsächlich
bisher verhindert, sich ernsthaft an irgend ein junges Mädchen
anzuschließen. -
Giovanna mußte für ihn eine förmliche Erleuchtung
sein: ein Weib, so jung, so verwirrend schön, ganz voll von
jenem prickelnden süßen Reiz, für den er im Grunde
so empfänglich war - und zugleich eine Nonne, ein der Welt,
aller Sinnenlust und Unreinheit entrücktes Wesen, das die Tracht
einer Heiligen trug und das befangen erröten konnte wie ein
Kind! - Freilich, - was sie von der Welt trennte, das trennte sie
auch von ihm, - und wenn er sich schon über alle Schranken
hinweggesetzt haben würde, so war nicht anzunehmen, daß
eine Nonne das gleiche tun würde. -
Aber der alte Arzt blieb viele, viele Wochen krank. - Viele, viele
Wochen lang trafen die beiden jungen Menschen fast täglich
zusammen. Viele Wochen, in denen seine Blicke täglich beredter
wurden, in denen Giovanna täglich vor dem Bilde der Madonna
in Tränen zerfloß, händeringend, um Rettung flehend
vor schwerer Sünde, - nach Seraphina jammernd, die ihr hätte
helfen können. -
Ob sie den schweren Sieg über sich selbst errungen hätte,
wenn man ihr Ruhe und Zeit gelassen hätte, wer vermag das zu
sagen? Aber eine andere Schwester hatte das Paar beobachtet, und
eines Tages ließ die Oberin "Schwester Maria" zu
sich kommen und sagte ihr, sie halte es für besser, sie auf
eine entfernte Station zu schicken. Sie fügte hinzu: eine junge
Schwester habe zuweilen Anfechtungen und sie solle fleißig
beten.
Von der Minute an war alles aus. Giovanna fühlte nichts mehr,
hatte für nichts mehr Verständnis, konnte nichts mehr
denken als: Man will uns trennen, ich soll ihn nicht mehr sehen!
Ihr ganzes heißes Temperament brach sich Bahn; sie war nicht
mehr Nonne, sie fühlte nicht mehr als Nonne, sie war Weib,
ganz Weib, dem man das Teuerste, den Geliebten, nehmen will. Und
am nächsten Tage, dem letzten, der ihr blieb, wußte sie
es einzurichten, daß sie mit ihm zugleich den Saal verließ,
und während sie durch das Vorzimmer gingen, das um diese Stunde
ganz leer war, sagte sie ihm plötzlich, ihm voll in die Augen
sehend, daß man sie fortschicken werde, weit fort, morgen
schon.
In der nächsten Sekunde hatte er, seiner selbst nicht mehr
Herr, sie in seinen Arm gerissen.
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Er sagte ihr, sie solle mit ihm fliehen; er wolle sie draußen
zu seinem Weibe machen. Er sagte ihr, er wolle sie zu seinen Eltern
bringen, - ach, was sagte er ihr nicht alles in diesen kurzen Minuten!
Er hätte kein Wort zu sprechen brauchen. Giovanna Testa war
durch diese eine selige Umarmung vollends zu dem erwacht, was sie
ihrem ganzen Wesen nach war: Weib, hingebendes, vertrauendes, mit
Leib und Seele in seiner Liebe untergehendes Weib. Vergessen war,
was sie band, was hinter ihr lag. Sie fühlte nur noch, daß
sie ihn liebte, ihm ganz vertraute, daß diese Liebe das Reinste,
Höchste und Beste war, dessen sie überhaupt fähig,
daß sie deshalb etwas Göttliches war. Und sie wußte,
daß sie mit ihm gehen würde, bis ans Ende der Welt: D
e i n L a n d, m e i n L a n d! D e i n G o t t -- d e r m e i n
e!
Am selben Abend warf sie, ohne sich nur eine Minute zu besinnen,
ihr ganzes Leben hinter sich und folgte ihm.
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Er hatte ihr gesagt, er würde sie zunächst zu seinen Eltern
bringen, und vielleicht, oder sogar wahrscheinlich, war das auch
seine ehrliche Absicht gewesen. - Aber er selbst war, wie bemerkt,
ein leidenschaftlicher Mensch, und als dieses schöne und hingebende
Geschöpf zum ersten Male ungestört und unbelauscht in
seinen Armen lag, änderte er seinen Plan. Giovanna folgte ihm
fraglos: was er tat, das mußte ja das Beste und Richtigste
sein! Und so gingen sie zunächst zusammen nach Neapel.
Sie blieben dort drei Wochen lang, drei Wochen so voll brennender
Glut, so voll blendender Helle, wie die Sonnenstrahlen, die draußen
auf dem blauen Golf lagen, drei Wochen, die Giovanna vorkamen wie
ein einziger, wunderbarer, nicht enden wollender Traum. Dann reiste
er nach langem, zärtlichem Abschied allein wieder nach dem
Norden, um, wie er ihr sagte, Klarheit in ihr Verhältnis zu
bringen, seine Familie über seinen Schritt aufzuklären
und vor allem alles zu einer Eheschließung im Auslande Notwendige
vorzubereiten.
Giovanna blieb allein zurück, in der seit Jahren ungewohnten
Tracht und Umgebung, und sie träumte, sein erstes zärtliches
Billett von der Reise auf dem Herzen, von der wundervollen Zukunft,
die ihrer harrte. Vorbei all das Wüste damals von Portofino,
vorbei das Mystische, Übersinnliche Schwester Seraphinas, vorbei
der strenge Dienst, die klösterliche Gebundenheit: das Leben
war da, das Leben, das bunte, jauchzende Leben, nach dem sie sich
unbewußt gesehnt hatte, nach dem sie griff, wie ein Kind nach
der lachenden Frucht, das herrlichste, süße, wundervolle
Leben! Wie sie es ihm schön machen, wie sie ihm dienen, wie
sie ihm alles, alles danken wollte! - -
Am zweiten Tage nach seiner Abreise bekam sie keinen Brief. Es machte
sie ganz still und traurig, denn ihr selbst wurde es schwer, ihm
nicht womöglich zweimal in vierundzwanzig Stunden zu schreiben!
Wie konnte er es nur fertig bringen, so lange nicht mit ihr zu plaudern?
Ob Männer anders fühlen und empfinden als Frauen? - Aber
als an den folgenden Tagen wieder Billette und Briefe voller Kosenamen
ankamen, war sie wieder ganz selig: Wie gut er doch war!
Aber dann kam plötzlich eine ganz kurze, konfuse und sichtlich
in fliegender Hast geschriebene Karte, die ihr völlig unverständlich
war: Er sei außer sich, schrieb er, - außer sich und
außer stande, ihr zu schreiben, - außer sich über
die Möglichkeit, daß sie ihn getäuscht haben könnte.
Er reise sofort ab, um sich die letzte Klarheit zu verschaffen.
Danach blieb jegliche weitere Nachricht aus. Giovanna, die nicht
die leiseste Vermutung hatte, wohin er "abgereist" sein
könnte, wartete in immer steigender Unruhe: er mußte
ihr ja doch wenigstens ein Lebenszeichen geben! - Aber es vergingen
drei Tage, vier, - fünf, und es kam keine Nachricht, - sechs,
- sieben: aber weder ein Brief noch eine Karte noch das allerleiseste
Lebenszeichen. Sie ging zur Post, ob dort irgend etwas für
sie läge: nichts!
Sie aß und trank nicht mehr, schlief auch nicht mehr. Ihr
ganzes Wesen war ein qualvolles Warten.
Aber es kam keine Nachricht.
Es ging in die zweite Woche, die Woche verstrich, - keine Nachricht!
Dreimal täglich ging sie zur Post, mit jedem Tage hilfloser
und verlegener. Kein Brief, keine Nachricht!
Sie wußte nicht mehr, was sie tun sollte. Sie schämte
sich in ihrer Pension; sie dachte, jeder müßte ihr dieses
verzweifelte Warten ansehen. Und sie wanderte stundenlang mutterseelenallein
durch die Straßen der fremden Stadt, mit immer dumpferem Hirn,
mit immer schwererem, beklemmterem Herzen.
Und endlich, endlich kam ein Brief.
Sie riß ihn dem Postbeamten förmlich aus der Hand, stürmte
auf ihr Zimmer und schloß sich ein. Ihr Herz klopfte hoch
oben im Halse, als ob sie ersticken sollte; mit zitternden Fingern
riß sie den Umschlag auf.
Er schrieb - o Gott! - das konnte nicht sein, k o n n t e, k o n
n t e nicht sein! Das war ja nicht möglich!
Aber da stand es, klar und deutlich.
Da stand, daß sie ihn auf das schmählichste getäuscht
und belogen habe. Da stand, er habe - leider zu spät! - erfahren,
wer und was sie sei. Er habe erfahren, daß ihr Vater im Kerker
sitze und weshalb. Da stand, daß er die freidenkenden Seinen
leichtlich darüber hätte wegbringen können, daß
sie mit ihm aus dem Kloster entflohen sei, daß nach diesem
aber weder mehr eine Gemeinschaft mit seiner Familie noch auch jemals
mehr etwas Gemeinsames zwischen ihm und ihr sein könne. - Das
alles stand da, - zuweilen etwas verschnörkelt, zuweilen mit
heißen, schmerzlichen Worten des Zornes, der Enttäuschung
oder des Vorwurfes verbrämt, aber nichtsdestoweniger mit brutaler
nackter Deutlichkeit. Und wie um das grausame Schreiben noch grausamer
und kränkender zu machen, war eine Anweisung auf eine bestimmte
Geldsumme beigefügt, "damit sie nicht etwa durch ihn in
Not komme". Jeder Wunsch, von ihr noch etwas zu hören,
jede Aufforderung, ihm ihrerseits eine Aufklärung zu geben,
- ja jede Adressenangabe fehlte vollständig.
Giovanna konnte es nicht fassen. Sie konnte nicht fassen, daß,
- wenn überhaupt von einer Schuld ihrerseits die Rede sein
sollte, - das, was sie selber getan hatte, mit klarem Bewußtsein,
auf eigene Verantwortung, weniger schlimm sein könnte in den
Augen der Welt als etwas, das einem geschehen ist, das einem angetan
ist, für das man doch nicht kann!
Sie hatte ihm gesagt, sie sei Waise. Das war doch wahr! Jener Mann
war doch nur ihr Stiefvater! Hätte sie vielleicht vor ihm,
angesichts ihrer reinen, großen Liebe, diese ganzen alten
Schmutzgeschichten aufwühlen können? Wäre dies einer
anderen möglich gewesen? War dies Verschweigen eine Lüge,
ein Vergehen, das sie auf immer trennte? Sie hätte ihm ja von
all dem Traurigen wohl von selbst einmal erzählt, später,
in irgend einer ruhigen, vertrauten Stunde. Daß sie diese
erste süße Liebeszeit nicht damit hatte verdüstern
mögen: war das ein Verbrechen? Oder war es vielleicht in seinen
Augen so besonders schlimm, daß der Elende, der sie um die
Kindheit gebracht hatte, jene entehrende Strafe erlitt?
Giovanna konnte es nicht fassen, nicht begreifen. Sie konnte nicht
wissen, wie eine solche Geschichte auf einen Mann überhaupt
wirken mußte, - und nun erst auf diesen Mann, der in ihr die
Krone der jungfräulichen Reinheit erbeutet zu haben glaubte.
Sie konnte nicht wissen, daß die bloße Angst vor der
Lächerlichkeit im Gemüt eines Durchschnittsmannes alle
anderen und besseren Gefühle fortschwemmen kann, sie kannte
ja nicht einmal diese drohende Gefahr der Lächerlichkeit, und
sie begriff in ihrem wütenden Schmerz überhaupt nur das
eine: er kommt nicht wieder; er kommt nie wieder. Du hast ihm alles,
alles gegeben, - und er kommt nie wieder.
Tagelang brütete sie vor sich hin, fast stumpfsinnig vor Schmerz
und Jammer. Sie fragte nicht, wer es ihm gesagt hatte, wie man es
ihm gesagt hatte, sie fragte auch schließlich nicht mehr,
warum es schlimmer sei, mißhandelt worden zu sein, als selbst
aus freiem Willen etwas zu tun, was in den Augen anderer Sünde
ist. In der Erkenntnis, daß er sie aufgab, ohne weiteres,
war ihr alles andere gleichgültig. Sie wußte nichts mehr,
dachte nichts mehr, als daß das Leben für sie nun zu
Ende sei, - daß sie sterben müsse.
Sterben! Das war das einzige, was sie vor sich sah. - Sterben, nichts
mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr fühlen, - tot
sein. Nur tot sein.
Aber als sie dann dicht davorstand, vor dem Sterben, packte sie
plötzlich das Grauen.
Tot - ? - Aber, - was war das, der Tod?
Das war nicht mehr der stille Tröster, der den Müden und
Beladenen die Last abnimmt, das war auch nicht mehr der strahlende
Engel, der Seraphina heimgeholt hatte in die ewige Freude der Seligen,
- für sie, die abtrünnige Nonne, das gefallene Mädchen,
für sie war der Tod nur ein neuer Schrecken, ein drohender
Abgrund voll grauenhafter Rätsel und voller Entsetzen.
Wie furchtbar das ist: wenn man nicht mehr leben darf und doch nicht
sterben kann!
Sie konnte es nicht, sie brachte es nicht fertig, sie entsetzte
sich davor, - sie, die doch so jung war und die nach dem Leben eben
noch gedurstet hatte. - Und so taumelte sie haltlos zwischen Leben
und Tod, zwischen dumpfem Jammer und jähem Entsetzen, und sie
war nahe daran, jene unheimliche Grenzlinie, den Wahnsinn, zu erreichen,
als sie statt dessen noch tiefer gerissen wurde, - in die Niedrigkeit.
Sie hatte jene Anweisung, die er ihr geschickt hatte, nicht angerührt.
Aber in der Planlosigkeit ihrer Verzweiflung war sie geblieben,
wo sie einmal war, in einer sehr anständigen und guten, aber
durchaus nicht billigen Pension, und eines Tages machte man ihr
klar, daß sie eine Rechnung zu bezahlen hatte, die ihre eigenen
sehr geringen Barmittel weit überstieg. - Diese nüchterne
Angelegenheit brachte sie so weit zur Besinnung, daß sie sich
wenigstens ihre augenblickliche Lage klarmachte; und die war in
nackten Worten die: sie war gezwungen, entweder ihre Wirtsleute
zu betrügen oder jenes Schandengeld anzugreifen.
Das war eine schlimme Situation. Sie endete damit, daß Giovanna,
von der Not gezwungen, zur Bank ging, um einen Teil ihres Guthabens
zu erheben. Sie wurde blutrot, als man ihr das bare Geld hinzählte,
- ihr war, als ob das eine Brandmarkung sei, die jeder sehen, eine
Schmach, die nie wieder abgewaschen werden, ein endgültiger
Fall, von dem man sich niemals wieder erheben könnte. Dieses
Geld besudelte und beschmutzte alles, ihre Liebe, ihre Hingebung
und auch ihren Jammer. Und in dem brennenden Gefühl ihrer Erniedrigung
fiel ihr plötzlich das Mädchen ein, jenes Mädchen
aus dem Krankenhause. -
Das hatte auch sterben wollen, sterben müssen. Und hatte es
nicht gekonnt. Gerade wie sie selber. Und war in Schande und Schmach
gekommen. Gerade wie sie!
Aber nun war es tot. Nun hatte es alles überstanden. Wie hatte
es gesagt? "Wenn man erst so ganz abgehetzt und fertig ist,
daß man keinen Ausweg mehr sieht, dann kommt es ganz von selbst."
-
Ob es lange dauert, bis man so weit ist?
Pah! - Man sinkt so schnell! - Man sinkt so rasend schnell, - wenn
man nicht mehr in die Höhe kann! -
Sie kehrte noch einmal um und ließ sich die ganze Summe auszahlen,
die ihr zustand. Es wäre wohl genug gewesen, um ihr unter anderen
Umständen jeden Anfang, welcher Art auch immer, leicht zu machen,
aber auf dem Wege von der Bank bis zu ihrer Pension schenkte Giovanna
jedem Bettelkinde, das ihr begegnete, ein Goldstück oder eine
Banknote, und sie behielt diese wahnsinnige Art des Ausgebens bei,
nachdem sie ihre Wirtsleute befriedigt hatte: es sollte fort, dieses
Geld, fort, sobald als möglich. Und dann! -
Dann kam die Schande, die tiefste Schande von allem, die ja wohl
nicht schwer zu erreichen ist für ein Mädchen ohne Geld
und ohne Schutz und ohne Halt, in einer großen fremden Stadt.
-
Ob man es dann kann, das Entsetzliche, wenn man erst so ganz und
gar verloren ist, - so zum äußersten beschmutzt und verkommen?
Ob man es dann kann, wenn alle anderen Auswege versperrt sind?
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Giovanna Testa ist im Hospital gestorben, nachdem sie jahrelang
zu jenen Unglücklichen gehört hat, die des Nachts in den
Straßen sich herumtreiben.
In: Mitmenschen.
Stuttgart und Berlin 1908, S. 53 - 78
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