Ulrich von Alemann
Hagen, Dezember 1993
Schattenpolitik
Streifzüge in die Grauzonen der Politik
Denn die einen sind im Dunkeln
Und die anderen sind im Licht
Und man siehet die im Lichte.
Die im Dunkeln sieht man nicht.
Bertolt Brecht
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I.
Was ist Politik? "Alle Politik ist Kunst. Sie bewegt sich in der
Welt der historischen Thaten, verwandelt sich und treibt neue Bildungen
hervor, während wir reden. Daher muß jede Theorie mangelhaft
bleiben." So begann Heinrich von Treitschkes Vorlesung "Politik"
von 1897. Politik als Kunst, Staatskunst, Machtkunstlehre, diese Auffassung
von Politik hat eine lange Tradition, aber erscheint uns heute doch längst
überwunden.
Politik ist die "authoritative allocation of values" deklarierte
der Amerikaner David Easton. Politik sei also gesellschaftliches Handeln,
welches darauf gerichtet ist, gesellschaftliche Konflikte über Werte
verbindlich zu regeln, so übersetzte Gerhard Lehmbruch dieses Konzept
ins Deutsche. Verbindlichkeit, Rechtsstaat, Regelmäßigkeit,
Öffentlichkeit: das scheinen seit der Aufklärung die Schlagworte
der Politik zu sein. Die Aufklärung wollte aufklären und öffnen.
Heraus aus den arcana imperii, weg mit den Geheimräten, der verschwiegenen
Diplomatie und der verschlossenen Kabinettspolitik der Monarchien. Die
Republik wird zur Demokratie, wo die res publica, die öffentliche
Sache, im Parlament öffentlich besprochen wird.
Die "Öffentlichkeit" ist zur doppelten Inkarnation des
demokratischen Staates erwachsen: Einmal ist die Öffentlichkeit das
Publikum, geradezu synonym für das Volk, von dem alle Staatsgewalt
ausgehen soll; zum anderen ist "öffentlich" fast synonym
mit staatlich, im Gegensatz zu privat, wenn man an öffentliches Recht,
an die öffentliche Hand, das öffentliche Interesse denkt, das
der Staat wohlverstanden zu vertreten und zu wahren hat.
In diesem Sinne ist das Öffentliche auch das gesetzlich Geregelte,
Verläßliche, Regelmäßige, Formale. Das ist nicht
willkürlich, privaten Interessen verhaftet, informell und vertraulich,
sondern prüfbar anhand objektiver Kriterien, justitiabel, rechtlich
sanktioniert und kodifiziert.
Schon im klassischen Griechenland, das uns die Begriffe Politik und
Demokratie bescherte, war der Gegensatz zur Sphäre des privaten Haushalts,
des oikos, das politikon, das die Gemeinde, die Stadt, die Öffentlichkeit
Betreffende, wie die res publica der Römer, wenn auch dort weniger
demokratisch gemeint.
Die Tradition des römischen Rechts hat unseren Rechtsstaat stark
geprägt, mehr noch unsere Bürokratie als unsere Demokratie; die
obrigkeitsstaatliche Verwaltung ist in Deutschland älter als die demokratische
Regierung. Beides begegnet uns in der bundesdeutschen Wirklichkeit in einer
eigenartigen Mischung, die Amerikaner oder Engländer manchmal Schwierigkeiten
haben zu begreifen.
Die Kategorie des Öffentlichen erscheint mir für die Konzeption
von Politik so wichtig, daß ich ihr eine herausragende Stellung in
einem jüngeren Versuch einer Politikdefinition eingeräumt habe:
"Politik ist öffentlicher Konflikt von Interessen unter den Bedingungen
von öffentlichem Machtgebrauch und Konsensbedarf" (von Alemann
1994: 135). Öffentlich tritt so gleichberechtigt neben die Schlüsselbegriffe
Konflikt, Konsens, Macht und Interessen und prägt auch die drei Dimensionen,
in denen Politikwissenschaftler Politik betrachten, nämlich unter
der Perspektive der politischen Form (polity), der politischen Inhalte
(policy) und der politischen Prozesse (politics).
So wichtig die Kategorie des Öffentlichen im weitesten Sinne, also
auch des Allgemeinen, Verallgemeinerbaren und öffentlich-rechtlich
Verbindlichen ist, so ist sie doch nicht alles - eine notwendige, aber
keine hinreichende Bedingung des Politischen. Ich will deshalb in diesem
Essay einen Blick auf das Nichtöffentliche, das Informelle, Unregelmäßige,
Personale, ja, auch das Illegitime und Illegale in der Politik werfen.
Es ist eine Expedition in die Grauzonen der Politik, in einen Bereich,
den ich Schattenpolitik nennen möchte.
II.
Die Grauzonen der Schattenpolitik, die sich jenseits von Verfassung
und Institutionen, parlamentarischer Debatte und diplomatischem Vertrag
auftun, sind keineswegs eine terra incognita, von der ich behaupten wollte,
sie gerade neu entdeckt zu haben. Keineswegs. Ich möchte nicht mehr
und nicht weniger als mit diesem neuen Begriff der Schattenpolitik etwas
mehr Licht in diesen Bereich werfen und die Aufmerksamkeit darauf lenken,
um ihn einerseits nicht zu vergessen und um ihn andererseits auch nicht
zu verteufeln. Denn Schattenpolitik soll nicht dunkle Machenschaften, schwarze
Mächte und finstere Verschwörung bedeuten. Solche dunklen Machenschaften
gibt es zweifellos auch in der Politik, es gibt politische Korruption,
Verschwörung, Staatsstreiche und organisiertes politisches Verbrechen
in aller Welt und zu allen Epochen. Aber sie sind sicher nicht typisch
für die Politik in Mitteleuropa oder gar in Deutschland, auch wenn
dies neuerdings einige behaupten, die Bücher unter Titeln wie "Die
Mafia im Staat", "Die Mafia in der Politik" oder "Der
Staat als Beute" publizieren.
Daß Politik mehr ist als Recht und Ordnung, wie heute noch das
Credo standfester Konservativer lautet, das wußte schon ein Niccolò
Machiavelli, der Begründer jeder modernen Reflexion von Politik (vgl.
dazu Münkler 1991: 63 f.). Gute Gesetze entstünden nicht durch
Harmonie und Ordnung im Innern, vielmehr durch Parteienkämpfe und
inneren Streit. Deshalb warnte Machiavelli die Politiker davor, den Zustand
größtmöglicher Ordnung, also äußerster Formalisierung
politischer Einflüsse, anzustreben, sondern vielmehr alles daran zu
setzen, daß der von ihnen gelenkte Staat in einem sub-optimalen Zustand
verbleibe, d.h. eine erkennbare Größe informellen Einflusses
auf die Politik verfügbar sei. Sie könne als Moment der Unruhe
regenerative Kräfte freisetzen, die den Staat vor Verkrustung und
Immobilismus bewahre. Denn daraus entstehe Umsturzgefahr. Münkler
resümiert Machiavellis Lob des Unberechenbaren und Informellen in
der Politik: "Soviel Formalisierung wie nötig, soviel Informalität
wie möglich" (Münkler 1991: 64). Machiavellis Machtlehre
wird noch heute von Fußballtrainern, Tenniscracks und Schachgenies
beherzigt: Wer berechenbar ist, hat schon verloren! Der Bundeskanzler Helmut
Schmidt, dem die Berechenbarkeit deutscher Politik über alles ging,
hätte seinen Sturz durch Studium von Machiavelli oder Beckenbauer
vielleicht abwenden können.
Aber auch einer der ersten empirischen politischen Soziologen und Politikwissenschaftler
(den Begriff gab es 1911 allerdings noch nicht), Robert Michels, zielte
mit seiner Untersuchung der internen demokratischen Entscheidungsstruktur
in Parteien auf reale, informelle Machtstrukturen jenseits von Satzung
und Parteitagsprotokoll. Allerdings ist sein "ehernes Gesetz der Oligarchie",
nach dem jede Organisation naturgesetzlich zu undemokratischen Strukturen
tendiere, eine methodische Übersimplifizierung: Aus seiner Fallstudie
der damaligen SPD läßt sich schlechterdings kein generelles
"Gesetz" ableiten, schon gar kein "ehernes", und seine
krude Mischung aus Massenpsychologie und Führerkult dürfte heute
in keiner sozialwissenschaftlichen Examensarbeit durchgehen. Dennoch war
der Ansatz, reale Organisationssoziologie zu betreiben und sich auf die
informalen Strukturen einzulassen, innovativ. Deshalb wurde er mit Recht
ein Klassiker der politischen Organisationsforschung, obwohl er so vielfältig
irrte.
Ein jüngerer Klassiker der jungen deutschen Politikwissenschaft
der Nachkriegszeit wurde das Werk des deutsch-amerikanischen Politologen
C.J. Friedrich, "Der Verfassungsstaat der Neuzeit". Aber auch
dieser Protagonist einer traditionellen, verfassungsrechtlich geprägten
Institutionenkunde hat ein in Deutschland weniger bekanntes Buch publiziert
"Die Pathologie der Politik" mit dem Untertitel: "Die Funktion
der Mißstände: Gewalt, Verrat, Korruption, Geheimhaltung, Propaganda".
Auch dem Verfassungstheoretiker Friedrich waren die Seilschaften und personalen
Netzwerke nicht fremd. Auch er erkannte, daß Verfassungstheorie nicht
ohne Beobachtung der informalen Politik leben kann. Gerade heute sollte
man sein Buch wieder nachlesen (Friedrich 1973).
In der jungen Politologie der 50er und 60er Jahre wurde recht häufig
mit den Gegensätzen "Recht und Politik" oder dem Spannungsfeld
von "Verfassung und Verfassungswirklichkeit" gearbeitet. Die
Wirklichkeit, die "lebende Verfassung" wurde geradezu als Sensation
entdeckt hinter den Artikeln und Paragraphen der Verfassungsjuristen. Dieses
"Spannungsfeld" - eine beliebte, aber fragwürdige Metapher
aus dem Experimentierkasten des kleinen Elektrikers, der zwischen Plus-
und Minuspol Funken schlagen kann - sollte die neue Wissenschaft von der
Politik rechtfertigen, die sich mühselig zwischen Verfassungsrecht,
Zeitgeschichte, Staatswissenschaft, wie die Volkswirtschaftslehre noch
an manchen Universitäten hieß, behaupten mußte. Da flogen
manche Funken in den Fakultäten.
Auch die Entdeckung der "politischen Kultur" in den 60er Jahren
bedeutete eine Expedition in ein Neuland, denn über ältere Studien
zum "Nationalcharakter" hinaus hatte man systematisch und empirisch
vergleichend die Einstellungen der Bevölkerung zu Politik und Partizipation,
Staat und Demokratie noch nie zuvor so intensiv analysiert. Auch politische
Kultur, ähnlich wie politischer Stil, stellt ab auf schwer faßbare,
aber nichtsdestoweniger wissenschaftlich analysierbare informale Beziehungen
der Werthaltungen und Einstellungen, die größtenteils über
gemeinsame Sozialisation vermittelt werden.
Der non-decision-Ansatz in kommunalen Politikanalysen ist einem verwandten
Teilphänomen unserer Schattenpolitik auf der Spur. Die "two faces
of power" von Bachrach/Baratz (1977) meinen die Licht- und die Schattenseiten
der Politik. Neben den manifesten Entscheidungsprozessen und Machtbeziehungen
gelte es, auch die verborgenen und latenten Machtstrukturen und Politikmechanismen
aufzudecken. Das klingt plausibel. Nicht befriedigend gelöst ist allerdings
das methodische Problem, wie man Nicht-Entscheidungen untersucht. Wo nichts
ist, da sieht man auch nichts. Oder doch?
Der politische Philosoph Kurt Röttgers hat kürzlich (1990)
ein kluges und materialreiches Werk mit dem Titel "Spuren der Macht"
veröffentlicht. Sein Thema, das er von der Antike über das Mittelalter
bis zu Hegel und weiter in die moderne politische Philosophie und Theorie
verfolgt, ist nicht die manifeste Macht, sondern es sind ihre flüchtigen
Fußspuren. "Macht ist eine Erscheinungsform von Möglichkeit"
(1990: 50). Der Wissenschaftler darf deshalb nicht nur das Abbild der Macht
abfotografieren - das ist platter Positivismus, das kann die Tagesschau
noch besser -, sondern der Wissenschaftler muß Spuren lesen. Da kann
die gegenwärtige Macht sogar stören, denn "Spuren, in denen
einer gerade noch steht, kann man nicht lesen" (1990: 31). Über
Spuren, über Indikatoren Rückschlüsse zu ziehen, das ist
freilich kein ungewöhnliches wissenschaftliches Vorgehen. Die empirische
Umfrageforschung nützt die meisten Antworten als Indikatoren in Form
einer Meinung für tieferliegende Werte, z.B. für Postmaterialismus,
oder als item für ein skalentheoretisch konstruiertes Konzept, z.B.
Partizipation oder political action. Auch hier ist man auf der Spurensuche,
liest Fährten, rekonstruiert Indizien und hat keineswegs harte Fakten
mit Händen zu greifen, was manche Sozialwissenschaftler vergessen.
Die Spuren der informellen Politik, das ist auch ein Bereich, den neuerdings
die Verwaltungswissenschaft, insbesondere die politikwissenschaftliche
Verwaltungslehre entdeckt hat. Thomas Ellwein spricht in einem Beitrag
für ein Symposion der Sektion "Staatslehre und Politische Verwaltung"
der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft im Dezember
1989 in Bad Herrenalb sogar von einem Paradigmenwechsel in der Verwaltungswissenschaft,
der sich auf die Normierung des Vollzugs, ihre Voraussetzungen und ihre
Folgen bezieht. "Das Normale ist nicht identisch mit dem Normierten"
in der deutschen Verwaltung. Die Eindeutigkeit des Verhältnisses von
Norm und Vollzug sei beeinträchtigt durch Normenflut, Vollzugsdefizite
und Regelungsdichte. Überregelung führe gerade nicht zur völligen
Verrechtlichung, sondern zur Entrechtlichung und zu größerer
Dispositionsfreiheit des tatsächlichen Verwaltungshandelns, da alle
Normen, z.B. im Bereich des Baurechts, sowieso nicht berücksichtigt
werden könnten, da sonst Unbeweglichkeit entstünde.
Auf demselben Symposion weist der renommierte Verwaltungsrechtlicher
Helmuth Schulze-Fielitz darauf hin, daß informelles Verwaltungshandeln
nicht mehr oder weniger häufig illegal sei als formales Verwaltungshandeln.
Nur die gerichtliche Kontrolle informalen Verwaltungshandelns sei wegen
unangemessener Maßstäbe schwieriger. Informelle Politik, das
sei hier festgehalten, ist also generell durchaus nicht illegale oder illegitime
Politik. Die Grauzone der Schattenpolitik reicht nur an ihren Rändern
in den schwarzen Bereich der Kriminalität. Das verbindet die Schattenpolitik
mit der Schattenwirtschaft.
Arthur Benz und Wolfgang Seibel schließlich gaben auf dem erwähnten
Symposion zum "Abweichenden Verhalten in der Verwaltung" ihrem
Beitrag den provozierenden Titel "Verwaltungshandeln zwischen Kooperation
und Korruption". Die Beiträge sind 1992 als Buch publiziert worden
(Benz/Seibel 1992). Ihre Hauptthese ist die folgende: Die Logik des Tausches
bestimme das Verwaltungshandeln stärker als die formale Normerfüllung.
Auf-grund individuellen Eigennutzes werden den Klienten Lösungen angeboten,
die nur zustande kommen, wenn angebotene Leistungen und erwartete Gegenleistungen
übereinstimmen. Damit sind wir von der Schattenpolitik über das
informelle Verwaltungshandeln bei der Korruption angelangt, allerdings
bei einem sehr unbefriedigenden Korruptionsbegriff. Er scheint hier mit
informellem Verwaltungshandeln fast gleichgesetzt zu werden, jedenfalls
tendenziell. Gerade dieses möchte ich vermeiden (vgl. dazu v. Alemann/Kleinfeld
1992).
Schattenpolitik und informelles Verwaltungshandeln sind eine große
Grauzone, die keineswegs illegalisiert werden sollte. Dies haben besonders
eindrucksvoll die Autoren des Bandes "Regieren in der Bundesrepublik
II", hrsg. von Hartwich und Wewer (1991), demonstriert. In diesem
Buch mit dem Untertitel "Formale und informale Komponenten des Regierens
in den Bereichen Führung, Entscheidung, Personal und Organisation"
sind nicht nur systematische und historische, fallbezogene und empirische
Analysen von Politikwissenschaftlern nachzuvollziehen, sondern auch einige
Erfahrungsberichte von Politikern durchaus mit Spannung nachzulesen.
Schattenpolitik, so kann man als Zwischenbilanz zum Forschungsstand
festhalten, ist also nichts Unerhörtes oder Unerforschtes. Sie ist
der Politikwissenschaft in unterschiedlichen Analyseperspektiven vertraut.
Sie muß nicht den "muck-rackers", den Skandaljournalisten,
den Untersuchungsausschüssen oder den Strafjuristen überlassen
werden.
III.
Was ist nun Schattenpolitik? Den Begriff habe ich adaptiert aus der
"Schattenwirtschaft", auch Untergrundwirtschaft, verborgene Ökonomie,
irreguläre, parallele oder Sekundärökonomie oder auch informeller
Sektor bzw. Selbstversorgungswirtschaft genannt. Diese Begriffe passen
alle überraschend gut auf die entsprechende Politik: Untergrundpolitik,
verborgene Politik, irreguläre, parallele oder Sekundärpolitik,
informeller Sektor der Politik oder auch Selbstversorgungspolitik - besonders
treffend ist dieser letzte Begriff für die Nutzenmaximierung bei politischer
Korruption.
Als Schattenwirtschaft definiert Manfred G. Schmidt (1983: 391): "diejenigen
privatwirtschaftlichen Aktivitäten..., die, im Unterschied zur offiziellen
(öffentlichen und privaten) Wirtschaft nicht oder nur teilweise in
die Sozialproduktrechnung eingehen, obwohl sie Teil der gesamtwirtschaftlichen
Wertschöpfung sind. Dazu gehören (1) der hauswirtschaftliche
Produktionsbereich (Eigenfertigung, Selbstversorgung, Hausarbeit), (2)
der auf Nachbarschaftshilfe und kleineren Selbsthilfenetzen basierende
gemeinschaftliche Produktionssektor und (3) der vor der amtlichen Registratur
verheimlichte Teil der privaten Erwerbswirtschaft (z.B. Schwarzarbeit,
Steuerhinterziehung und Kriminalität). Bei den ersten beiden Typen
handelt es sich um eine - im Regelfall legale - bedarfsorientierte Selbstversorgungswirtschaft,
im dritten Fall um die irreguläre 'Untergrundwirtschaft'. Alle drei
Bereiche zusammen ergeben die 'Schattenwirtschaft' im weiteren Sinne".
Das läßt sich vortrefflich übertragen: Schattenpolitik
wären demnach diejenigen politischen Aktivitäten, die im Unterschied
zur offiziellen (öffentlichen und privaten) Politik nicht oder nur
teilweise in die formale Politikformulierung eingehen, obwohl sie Teil
der gesamtgesellschaftlichen Politikproduktion sind. Dazu gehören
(1) der individuelle Bereich (Eigennutz, Selbstversorgung), (2) der auf
kleinen Selbsthilfenetzen basierende gemeinschaftliche Politiksektor (Mesobereich)
und (3) der vor den staatlichen/politischen Normen verheimlichte Teil der
kollektiven Politikproduktion (z.B. Ämterpatronage, Nepotismus, Korruption,
Simonie, organisierte politische Kriminalität). Im ersten Fall handelt
es sich um bedarfsorientierte Selbstorganisation von Information und Interaktion
in Organisationen, also um Mikropolitik; im zweiten Fall um intermediäre
Interessenpolitik (z.B. networks und Seilschaften); nur im dritten Fall
handelt es sich um die irreguläre, illegitime und illegale Untergrundpolitik
(also z.B. internationale Drogenkartelle oder Kartelle im Rüstungsgeschäft,
aber auch die langfristigen illegalen Systeme der Parteienfinanzierung,
die sozialistische Nomenklatura, die korrupten Atommüllentsorgungskartelle
usw.). Der klassische Typus ist hier die organisierte politische Kriminalität.
Alle drei Bereiche zusammen ergeben die "Schattenpolitik" im
weiteren Sinne.
Diese Begriffsbestimmung von Schattenpolitik, parallel zur Schattenwirtschaft,
kann aber nur ein erster Behelf sein, um die Nischen informeller Politik
zu erkunden. Denn es wäre falsch, die beispielhaft genannten drei
Bereiche zu festen Sektoren zu materialisieren, in denen die Schattenpolitik
stattfindet. Es ist gerade ihr Kennzeichen, daß sie sich dem Scheinwerfer
klarer Kategorien oder sauberer Vierfeldertafeln entzieht. Wo Licht drauf
scheint, verschwindet bekanntlich der Schatten - und entsteht an anderer
Stelle neu.
Werner Jann (1986) hat die amerikanischen Versuche, politischen Stil
und Verwaltungskultur allzu griffig zu typologisieren, sehr überzeugend
kritisiert. Das ist kein Grund zur analytischen Kapitulation. Eine Dichotomie
von formal versus informal ist genauso unfurchtbar wie das "Spannungsfeld"
Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Denn natürlich interessiert
uns Politologen in erster Linie die Wirklichkeit, aber die Verfassung ist
doch auch wirklich und real existent. Vielversprechender als solche Dichotomien
erscheint es mir deshalb von einem Kontinuum an Verhaltens- und Handlungsformen
auszugehen, in dem neben den formalen (Verfassungs-)Regeln und schriftlich
fixierten Abläufen auch Konventionen, Spielregeln, Rollen, Muster,
informale Organisationsstrukturen, Organisationskulturen sowie politische
Netzwerke ihren Platz haben. Kastning (1991: 71) schlägt folgendes
Kontinuum für Varianten politischen Handelns und Verhaltens vor:
Abb. 1: Varianten politischen Handelns und Verhaltens
KONTINUUM
formal informell regelmäßig regelmäßig situative
festgelegt festgelegt erwartet beobachtet Abweichung
Auch dieses Kontinuum ist mir noch zu eindimensional, um die Grauzonen
der Schattenpolitik wirklich zu erfassen. Ich bin so verwegen, nicht zwei
oder drei, sondern ganze fünf Dimensionen vorzuschlagen, die man berücksichtigen
sollte, wenn man die Grauzonen der Schattenpolitik betritt. Damit will
ich bewußt vorschnellen Modellbildungen das Handwerk legen, die man
bis zu drei Dimensionen noch bildlich darstellen (etwa im Sinne des Rubic
cube), und sich bis zu vier vielleicht noch mit Mühe vorstellen könnte.
Methodisch handelt es sich also eher um ein Polaritätenprofil, auf
dem man, wenn man will, einzelne Verhaltensweisen einer bestimmte Kurve
zuordnen könnte. Das Gegenstück zur Schattenpolitik, die auf
der rechten Seite lokalisiert ist, könnte man vielleicht Verfassungspolitik
nennen. Meine fünf Dimensionen sind aber keine abschließende
und erschöpfende Liste, sondern nur ein plausibel erscheinender Diskussionsvorschlag.
Abb. 2: Polaritätenprofil zwischen Verfassungspolitik und Schattenpolitik
1. formal informal
2. offen vertraulich
3. legitim illegitim
4. legal illegal
5. regelmäßig akzidentiell
Bemerkenswert ist nun, daß gerade die politisch interessanten
Aktionsformen ein sehr gezacktes Profil zwischen beiden Polen aufweisen.
Formal kann auch vertraulich sein, nicht nur bei Geheimdiensten, sondern
auch bei Personalakten. Legitim kann auch illegal sein, wie manche spontanen
Demonstrationsformen reklamieren, wenn Bauern oder LKW-Fahrer die Grenzen
blockieren oder Friedensfreunde die Straße eines Raketendepots besetzen.
Legal kann auch illegitim sein, wenn sich Politiker von betuchten Freunden
zu Traumreisen einladen lassen, ohne daß ihnen damit formal Bestechlichkeit
nachgewiesen werden kann. Legal ist schließlich zunächst auch
jeder Rechtsakt, obwohl er von Verwaltungs- oder Verfassungsgerichten nachträglich
als gesetzes- oder verfassungswidrig einkassiert werden könnte.
Man könnte zu den einzelnen Dimensionen noch viel sagen. Dies wird
zum großen Teil in den beiden schon erwähnten Bänden von
Benz/Seibel 1992 und Hartwich/Wewer 1991 ausgiebig getan. Analytisch gäbe
es manches zu verfeinern und besonders lohnte es sich, anekdotisch vieles
zu illustrieren. Ich will mir das hier versagen, weil der gegebene Raum
dazu nicht ausreicht.
Beispiele aus der Politik, die strikt auf der linken Seite, der Verfassungspolitik,
angesiedelt sind, also wo Politik gleichzeitig formal, offen, legitim,
legal und regelmäßig erscheint, finden sich in traditionellen
Staatsbürgerkunde-Büchern, aber auch in Hochglanzschriften aus
Parlament, Regierung und Parteien. Beispiele dagegen, die ausschließlich
auf der rechten Seite des Spektrums punkten, kann man in der reichlichen
politischen Skandalliteratur nachlesen - wobei manche Fälle leider
nicht nur akzidentiell, sondern strukturell und damit regelmäßig
zu sein scheinen. Der große graue Bereich in der Mitte zwischen den
beiden Extremen bleibt das spannendste Forschungsfeld der Politologen,
da wo Licht und Schatten sich treffen.
IV.
Was tun? Was lernen wir daraus? Die Politikwissenschaft hat viel zu
tun, Schattenpolitik aufzuarbeiten und aufzuklären. Die Frage nach
dem Wozu dieser Zunft im Buchtitel erscheint mir deshalb müßig.
Die Politikwissenschaft sollte sich verstärkt kreativ und phantasievoll
um Recherchiermethoden in diesem Feld kümmern, wie es z.B. die moderne
Organisationsforschung längst tut, wenn sie der "Mikropolitik"
in Betrieben, Unternehmen und sonstigen Organisationen nachgeht. Da helfen
Umfrageforschung und Aggregatdatenanalyse oder ein paar Experteninterviews
- dies sind wohl die beliebtesten Methoden der Politikwissenschaft - nur
sehr bedingt weiter. Vertiefte Fallstudien, teilnehmende Beobachtung, narrative
Interviews, intensives Aktenstudium können hier oft mehr hergeben.
Auch ihren methodischen Instrumentenkasten muß die Politikwissenschaft
überprüfen.
Die vermehrte Analyse von Schattenpolitik ist auch gerade im Bereich
von Interessenvermittlung und Willensbildung notwendig, um einen Beitrag
zur Aufarbeitung von Politikverdrossenheit und Demokratiemüdigkeit
zu leisten. Nicht jede vertrauliche Aktivität ist illegitim, nicht
jede informelle Handlung illegal, nicht jeder politische Skandal und personelle
Bereicherung ist ein Anzeichen einer "verlotterten Republik",
wie uns manche Kritiker der Parteien und der Politiker in Wissenschaft
und Medien einreden wollen. Gerade Parteien und Interessenorganisationen
sind die Klammern im politischen Geschäft zwischen formalen politischen
Rechtsakten und gesellschaftlichen Interessen. Ihr Handeln wird derzeit
besonders kritisch unter die Lupe genommen, die ganze "politische
Klasse" beargwöhnt. Kritik und Argwohn gehen in Ordnung, aber
Tendenzen zur pauschalen Abqualifizierung - von notwendig auch informaler
Politik in unserer Gesellschaft - sind gefährlich. Wenn einem heute
in Diskussionsveranstaltungen entgegenschallt, Politiker seien ja doch
alle Verbrecher, stimmt etwas nicht. Politikwissenschaft sollte deshalb
stärker mithelfen, die Grauzonen der Schattenpolitik aufzuhellen,
schwarze Schafe klar zu markieren, aber verhindern, daß jede Informalität
als Illegalität denunziert wird.
Literaturhinweise
Ulrich VON ALEMANN, Grundlagen der Politikwissenschaft. Ein Wegweiser,
Opladen 1994
Ulrich VON ALEMANN/Ralf KLEINFELD, Begriff und Bedeutung der politischen
Korruption aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: BENZ/SEIBEL, 1992,
S. 259 - 282
Peter BACHRACH/Morton BARATZ, Macht und Armut. Eine theoretisch-empirische
Untersuchung, Frankfurt a. M. 1977
Arthur BENZ/Wolfgang SEIBEL (Hrsg.), Zwischen Kooperation und Korruption.
Abweichendes Verhalten in der Verwaltung, Baden-Baden 1992
Carl J. FRIEDRICH, Pathologie der Politik. Die Funktion der Mißstände:
Gewalt, Verrat, Korruption, Geheimhaltung, Frankfurt a. M./New York 1973
Hans-Hermann HARTWICH/Göttrik WEWER (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik
II, Formale und informale Komponenten des Regierens in den Bereichen Führung,
Entscheidung, Personal und Organisation, Opladen 1991
Werner JANN, Vier Kulturtypen, die alles erklären? Kulturelle und
institutionelle Ansätze der neueren amerikanischen Politikwissenschaft,
in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 27 (1986), S. 361 - 377
Lars KASTNING, Informelles Regieren - Annäherung an Begrifflichkeit
und Bedeutungsgehalt, in: HARTWICH/WEWER 1991, S. 69 - 78
Herfried MÜNKLER, Staat und Regieren - formales Regierungssystem
und informelles Regieren in Ideengeschichte und Staatstheorie, in: HARTWICH/WEWER
1991, S. 51 - 67
Kurt RÖTTGERS, Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Deutungssystematik,
Freiburg/München 1990
Manfred G. SCHMIDT, Schattenwirtschaft, in: ders. (Hrsg.), Pipers Wörterbuch
zur Politik, Bd. 2, Westliche Industriegesellschaften, München/Zürich
1983, S. 391 - 394