Cicero: De officiis
Der Gedankengang
I. Buch
Cicero ist Eklektiker; er wählt aus anerkannten Stoikern, Akademikern und Peripatetikern aus.
Studium fördert durch Wissensvermittlung und durch Vorbilder.
Es gilt zu lernen, was an Wissen vorhanden ist; aber man muß als Philosoph auch zum eigenen Urteil über die Dinge, über die Wirklichkeit kommen.
Philosophie und Rhetorik sind beide wichtig; weisen aber wesentliche Unterschiede auf, obwohl die Vereinigung beider besonders gut wäre (aber Platon ist nicht Demosthenes). Philosophische Rede ist ausgewogen und ausgeglichen, nicht unbedingt lebendig und mitreißend.
In der Philosophie ist die praktische Philosophie der wichtigere Teil: Ethik, pflichtgemäßes Handeln.
Themen der Ethik sind u.a. "das höchste Gut", "Freundschaft", die Kardinaltugenden: Klugheit (hier noch nicht genannt), Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß.
Sittliche Vollkommenheit und Ehrenhaftigkeit sind erreichbar durch Handeln nach der Natur, die an sich gut ist. Ethische Vorschriften müssen mit der Natur vereinbar sein, mit ihr übereinstimmen.
Ethik darf nicht im Allgemeinen bleiben ("das höchste Gut"), sondern muß für das alltägliche Leben praktisch werden.
Cicero unterscheidet eine vollkommene und eine mittlere Pflicht. Das Vollkommene, das Rechte ist das allgemeine "Geziemende". Mittlere Pflicht ist die, für welche eine annehmbare Begründung gegeben werden kann. Cicero vertritt also einen Probabilismus.
Drei Aspekte sind bei einem Beschluß zum Handeln wichtig: a) der Gegenstand, b) der Nutzen, c) die Güterabwägung. Der Gegenstand muß ehrenhaft sein; es muß ein Nutzen als Ergebnis zu erwarten sein; in Zweifelfällen ist abzuwägen, welche Entscheidung ehrenhafter und nützlicher ist.
Die Nutzenerwägung geht aus von den natürlichen Bedürfnissen des Menschen: Erhaltung des Lebens, Schutz der körperlichen Unversehrtheit, Nahrung, Wohnung und Wirkung auf die Nachkommen. Die Nutzenerwägung muß sich auf alle Zeitdimensionen erstrecken, muß also auch die Folgen in der Zukunft mitbedenken. Sinnliche Genüsse und (Geld-)Besitz sollen nicht die "Werte" sein, welche die Güterabwägung bestimmen.
Ethik betrifft den einzelnen –Individualethik- wie sein Leben in der Gemeinschaft –Sozialethik-; sie ist also Mikro- (Individual-), Meso- (Familie und Haus- oder Hofgemeinschaft) und Makro-Ethik (Gesellschafts- und Staatsethik).
Bildung gewinnt man durch Lernen - Erkenntnis, Wissen, Wahrheit - und durch Nachahmung. Beides führt zur Entwicklung der Natur des Menschen.
Leben nach der Natur, das zugleich Leben in der Wahrheit ist, macht glücklich.
Die Charakteristiken eines Lebens nach der Natur - Ordnung, Maß, Harmonie, Schönheit - müssen auch Ziele der Ethik sein.
Ein solches Leben kulminiert im Leben des Philosophen, der die Weisheit liebt und sein Leben nach den Anforderungen der Kardinaltugenden ausrichtet.
Zu den Kardinaltugenden gibt Cicero erste Hinweise:
Klugheit ist die intellektuelle Tugend. Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß sind praktische Tugenden, die unter Anleitung durch die Klugheit das individuelle wie das soziale Leben regeln.
Die eigentlich den Menschen auszeichnende Tugend ist die Klugheit, nach der die Menschen zwar von Natur aus streben, auf die sie jedoch zugleich Zeit und Sorgfalt verwenden müssen.
Die Gerechtigkeit ist die wichtigste soziale Tugend:
Bei ungerechten Handlungen gibt es eine Parallele zur Tugend der Gerechtigkeit, die nicht aus einzelnen Handlungen besteht, sondern in einer Grundhaltung. So sind bei der Ungerechtigkeit einzelne ungerechte Taten, etwa Kurzschlußhandlungen im Affekt, weniger streng zu verurteilen als überlegte, vorsätzlich geplante Ungerechtigkeiten, die eine entsprechende Grundeinstellung voraussetzen.
Die Gerechtigkeit verlangt, daß man sich der Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl immer bewußt ist; man muß durch sein Handeln, seine Berufsarbeit und durch seine (finanziellen) Mittel dazu beitragen.
Diese Grundeinstellung ermöglicht das Urteil über die Gerechtigkeit, die Richtigkeit, die ethische Qualität des Handelns:
Auch wenn die Grundforderung beachtet wird, daß niemand geschädigt wird und daß dem Gemeinwohl gedient wird, können sich durch die Umstände Konfliktfälle ergeben, etwa aus dem Widerstreit dieser Grundforderung mit der Forderung der Verläßlichkeit oder Vertragstreue. Versprechen sind nicht zu halten, wenn sie dem Partner eher schaden als nutzen. Bei mehreren Verpflichtungen kann es eine Rangfolge geben: Das Wichtigere ist dem Unwichtigeren vorzuziehen; es gibt Menschen, denen man mehr verpflichtet ist, als anderen.
Von besonderer Art ist die Gerechtigkeit bei der Vergeltung von erlittenem Unrecht. Hier gilt es, die Tugend des Maßes, die Mäßigung, zu beachten.
Ein besonderes Problem der Gerechtigkeit ist das Kriegsrecht. Für Cicero steht außer Frage, daß es "gerechte" Kriege gibt.
Gerechtigkeit ist auch –aber in besonderer Weise- gegenüber Niedriggestellten zu üben, auch gegenüber Sklaven.
Zur Gerechtigkeit gehören auch Wohltätigkeit und Großzügigkeit, auf die allerdings kein Rechtsanspruch besteht. Es gehört zur "Natur" des Menschen, gut und großzügig sein zu wollen. Aber die "Güte" darf nicht willkürlich sein.
Cicero unterscheidet verschiedene Arten oder Grade der Beziehungen von Menschen oder Gruppen.
Cicero betont - als Politiker - ganz besonders die Verbindungen in der eigenen Vaterstadt. Dabei hebt er die Bedeutung der Tradition hervor: Denkmäler der Vorfahren, Heiligtümer und Grabmäler. Zukunft baut auf Vergangenheit auf!
Als Zwischenstück zwischen Überlegungen zu "Gerechtigkeit" und "Tapferkeit" macht Cicero zwei wichtige Bemerkungen:
Tapferkeit gibt es nicht ohne Gerechtigkeit. Tapferkeit ist kein Bemühen um eigene Vorteile, sondern Einsatz für die Allgemeinheit. Cicero definiert: Tapferkeit ist "die für die Gerechtigkeit kämpfende Tugend". Diese Definition wird negativ und positiv weiter bestimmt.
Negative Bestimmung der Tapferkeit:
Positive Bestimmung der Tapferkeit:
Tapferkeit führt zur idealen Seelenverfassung: zu Ruhe, Heiterkeit und Selbstsicherheit.
Cicero bewertet Taten des Friedens höher als Taten des Krieges. Taten des Krieges können nur mit dem Rückhalt in der Heimat erfolgreich sein. Taten des Friedens sind immer nützlich, Taten des Krieges oft nur kurzfristig.
Krieg muß nach Regeln erfolgen; der notwendigen Kriegserklärung muß ein Ratsbeschluß vorausgehen. Er darf nur mit dem Ziel eines dauerhaften Friedens geführt werden.
Tapferkeit durch körperliche Kraft ist geringer anzusetzen als durch geistig-charakterliche Kraft. Vernunft ist wichtiger als (unüberlegte) Entschlossenheit. Zur Vernunft gehört insbesondere das Bedenken der Zukunft und der Handlungsfolgen. Cicero vertritt also eine Folgenverantwortungsethik.
Unfreiheit, Knechtschaft und unbegründete Mißachtung der Würde, Schande, berechtigen zu Kriegsführung. Freiheit und Achtung sind menschenrechtliche Ansprüche. Es gibt "menschliche" Kriegsführung. Krieg muß mit "Maß" und Ordnung geführt werden. Krieg gilt Schuldigen, insbesondere schuldigen Angreifern. Die betroffene "Menge" muß schonend behandelt werden.
Maßvolle Tapferkeit bedeutet auch, daß man Gefahren möglichst meiden soll. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem Risiko, das jemand für sich selbst eingeht, und dem Risiko, das er anderen zumutet. – Für die Ethik bedeutet das: Probabilismus für mich, Probabiliorismus, wenn es um andere geht. Hier stellt sich das Problem des Vorrangs der schlechten Prognose (vgl. H. Jonas!).
Tapferkeit bedeutet Einstehen für die Wahrheit, auch wenn das ungelegen kommt.
Tapferkeit bedeutet Überparteilichkeit, Sorge für das allgemeine Wohl, Verzicht auf eigenes Fortkommen (Ämter); Tapferkeit bedeutet Kompromißbereitschaft, aber auch Festigkeit im Grundsatz bis hin zur Durchführung von Sanktionen.
Mit solchen Gedanken leitet Cicero über zur Tugend des Maßhaltens: Wahre Tapferkeit meidet die Extreme; sie sucht das mittlere Maß.
Maßhalten führt zu Ausgeglichenheit, die Überheblichkeit meidet, eher bescheiden auftritt (was oft ein Zeichen von Überlegenheit ist), nicht zu selbstbewußt ist, sondern Rat freiwillig aufnimmt.
Maßhalten betrifft auch die materielle Seite. Man soll das Familiengut erhalten und mehren - planmäßig, umsichtig und sparsam -, aber nicht auf Kosten der Allgemeinheit.
Maßhalten soll das ganze Auftreten prägen. Hier verbindet Cicero unter dem Begriff des "Schicklichen" die Ethik mit der Ästhetik: Anmut und Schönheit lassen sich nicht von Gesundheit und Tugend trennen. Zur "Schicklichkeit" gehören vor allem "Ordnung, Beständigkeit und Einhaltung des Maßes in allen Äußerungen und Taten".
Solches Handeln folgt der Führung der Natur, die immer auch die soziale Seite des Menschen bestimmt.
Alles Handeln muß vor der Vernunft bestehen können; man muß immer "einen überzeugenden Grund angeben" können.
Im Zusammenhang mit der Beherrschung der Begierden durch die Vernunft behandelt Cicero das Maß im Scherzen. Scherz ist durchaus erlaubt, soll aber den Ernst des Lebens nicht vergessen lassen. Auch im Scherz ist Maß zu halten; man darf sich nicht wie ein Tier der Lust hingeben. Das gilt auch von körperlichen Vergnügen und von jeder Art von Genuß.
Maßhalten kennzeichnet den Menschen vor dem Tier. Aber Maß und Schicklichkeit kennzeichnen auch unterschiedliche Menschen und Menschengruppen.
Die Natur stattet den Menschen mit zwei Rollen und entsprechenden Aufgaben aus: Wir sind als Menschen alle mit Vernunft ausgestattet, aber jeder hat außerdem seine besondere Lebensaufgabe und –rolle. Das zeigt Cicero an vielen Beispielen, wobei er zu dem Schuß kommt, daß es unzählige Unterschiede der Anlage und des Charakters gibt.
Bei der eigenen Lebensgestaltung ist zu beachten, daß man die guten Eigenschaften, die jeder hat, pflegt und entwickelt, die fehlerhaften dagegen bekämpft. Man darf sich aber bei der eigenen Lebenserhaltung keineswegs gegen die allgemeine Menschennatur richten. Lebensgestaltung kann nur gelingen, wenn sie widerspruchsfrei ist: ohne Widerspruch zur Natur des Menschen allgemein wie zur persönlichen Veranlagung.
Deshalb ist kluge Abwägung nötig, damit man seinen eigenen Platz findet: "Es erkenne also jeder seine eigene Begabung und erweise sich als scharfsinniger Beurteiler seiner guten und schlechten Seiten".
Jeder soll auf seine Weise zum Ganzen beitragen; seine beste Leistung bringt er auf den Gebieten, auf denen seine größte Eignung liegt.
Neben diesen beiden grundlegenden Lebensrollen (Menschsein, persönliche Veranlagung) gibt es noch weitere Rollen, die uns teils durch zufällige Zeitumstände zufallen, die wir uns teils aber auch durch eigenen Entschluß wählen (Philosophie, Rechtsprechung, Politik, u.a.). Hier räumt Cicero ein, daß man bei solchen Entschlüssen auch bisherige "Klassen"-schranken überschreiten kann. Auch wenn die Vorfahren aus niedrigen Ständen kommen, kann man sich "Großes" vornehmen.
Nicht nur Klassenunterschiede, sondern auch Altersunterschiede sind bezüglich der Tugend des Maßes zu beachten.
Die Wahl des Lebensstiles und der Lebensgestaltung erfordert sorgfältiges Abwägen, was allerdings nicht gerade die Stärke der Jugend ist. Daher kann es auch bei solchen Grundentscheidungen zu Irrtümern kommen. Nach gewissenhafter Überlegung soll man dann Änderungen konsequent durchführen.
Maßhalten gilt auch im Verhältnis zwischen Alt und Jung. Hier mahnt Cicero die Jüngeren zu Ehrfurcht und Respekt; die Älteren warnt er vor Unbeherrschtheit und vor Untätigkeit.
Im Anschluß an Überlegungen über Staatsdiener – Beamte - und Privatpersonen bemerkt Cicero, man müsse immer beachten, was für Personen, Umstände und Lebensalter schicklich ist –eines schickt sich nicht für alle!- und das mit Stetigkeit im Handeln durchführen.
Im Zusammenhang mit der Tugend des Maßhaltens werden mehr oder weniger "ehrenhafte" Körperteile unterschieden. Daraus ergeben sich Folgerungen für "ehrenhaftes" Reden und Auftreten; nicht alles kann immer und überall gesagt oder getan werden: Haltung, Bewegung, Mienenspiel und Gesten sind zu beachten. In allem ist eine "Mitte" einzuhalten: nicht weibisch-weiblich, aber auch nicht grob.
Es gibt zwei Arten von Schönheit: die Lieblichkeit der Frau und die Würde des Mannes. Zu beiden gehören Einfachheit, Natürlichkeit und Gepflegtheit, aber zumindest für den Mann auch Abhärtung.
Innere Stetigkeit - eine feste Grundhaltung - muß bei allen Äußerungen als Grundlage erkennbar sein.
Beim Reden ist zwischen öffentlicher Rede und Gespräch im kleineren Kreise zu unterscheiden. Die Rede soll deutlich und angenehm zu hören sein. Das Gespräch soll sich durch Charme auszeichnen, muß daher gelassen, nicht rechthaberisch geführt werden; es darf nicht von Leidenschaften, etwa von Jähzorn, bestimmt sein, darf allerdings durchaus kritisch vorgehen. Das rechte Maß ist zu finden.
Das "Maß" bestimmt auch Bau, Einrichtung und Führung des Hauses. Letztlich ist es der Hausherr, durch den das Haus geehrt wird, nicht das Haus, das seinen Besitzer ehrt.
Zum Abschluß des Abschnittes, der "Schönheit" als Charakteristik des Maßes (Ästhetik als Charakteristik der Ethik!) behandelt, betont Cicero drei Grundsätze, die er ebenso wie die Aufforderung, der Natur zu folgen, immer wieder vorträgt:
Als zweites Charakteristikum des Maßes behandelt Cicero den Sinn für Ordnung.
Zur Ordnung gehört vor allem der richtige Zeitpunkt für eine Handlung. Nicht jede Handlung schickt sich zu jeden Zeitpunkt. Hier verweist Cicero auf die Notwendigkeit, das Mienenspiel zu beherrschen und Gefühlsäußerungen zu kontrollieren.
Der Sinn für Ordnung führt zur Beachtung der Sitten, Gebräuche und Einrichtungen der jeweiligen Gesellschaft, wobei man sich besonders an Vorbildern orientieren sollte.
Die Ausrichtung auf die eigene Bürgerschaft darf nicht den Blick auf "die Verbindung der ganzen Menschheit" beeinträchtigen.
Cicero unterscheidet –wie bei den Körperteilen- unterschiedlich "ehrbare" Teile, Berufe oder Stände in der Gesellschaft.
Die beste Beschäftigung des freien Römers ist die "cultura agri", die Pflege des Ackers oder des Landbesitzes.
Es gibt im verantwortlichen Handeln Zielkonflikte, Entscheidungszwänge zwischen verschiedenen Wert- und Pflichtansprüchen. Cicero macht darauf aufmerksam, löst aber das Problem nicht eigentlich, sondern verweist darauf, daß die früheren stoischen Schulen (so auch Panaitios) das Problem nicht beachtet haben.
Cicero betont wiederholt den Vorrang sozialer Verpflichtungen vor individuellen Interessen. Diesen Vorrang erkennen wir durch die Weisheit (s o j i a ), während uns die Tugend der Klugheit das konkrete Handlungswissen lehrt.
Die Naturordnung zeigt uns, daß die Pflichten der Gerechtigkeit, die dem Nutzen der Menschen dient, höher zu bewerten sind, als das persönliche Erkenntnisstreben. Andererseits fördert die Erkenntnis der Weltordnung die Bereitschaft, sich für die Mitmenschen einzusetzen. – Hier zeigt sich die "utilitaristisch" auf die politische Ethik und das Gesellschaftsrecht ausgerichtete Einstellung des Römers.
Auch die Entscheidung, den Gemeinschaftspflichten den Vorrang einzuräumen, befreit nicht von der Schwierigkeit, Rangordnungen von Pflichten und Werten zu beachten.
Didaktische "Prüfungsfragen":
Vivere secundam naturam.
Vivere secundam rationem.
Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß.
Angst, Habsucht, Ruhmsucht, Machtgier.
Verwandte, Mitbürger, Freunde, Untergebene, Fremde sind unterschiedlich zu beachten.
II. Buch
Die ersten acht Abschnitte des zweiten Buches geben eine Einführung, die vor allem eine Begründung dafür ist, daß der ehemals aktive Politiker philosophische Einsichten weitergibt. So will er weiter auf die Politik einwirken.
Es geht um das Verständnis des Nutzens unserer Handlungen, vor allem für das Gemeinwesen. Es gibt unterschiedliche Arten und Rangordnungen der Nützlichkeit.
Praktische Philosophie richtet sich auf das "gute und glückliche Leben" (S.145). Dazu gehört Charakterfestigkeit und Vollkommenheit.
Richtschnur des sittlichen Handelns ist die Begründbarkeit von Entscheidungen durch Güterabwägung. Wahrscheinlichkeit der Gründe bei vorsichtigem Urteil ist ausreichend; Absolutheitsgründe sind genau so zu meiden wie Unbedachtsamkeit.
Der Gesichtspunkt des "Nützlichen" läßt sich nicht von den Aspekten der "Gerechtigkeit" und "Ehrenhaftigkeit" trennen; alle drei gehören zusammen.
Cicero führt aus, was für Menschen nützlich sein kann:
Materielle Güter und Menschen sind Ursachen nützlicher Technik, die aus materiellen Voraussetzungen sowie aus dem Zusammenwirken der Menschen in körperlicher und geistiger Arbeit entsteht.
Cicero zählt verschiedene Technikbereiche auf und macht deren Nutzen für die Individuen und für das Gemeinwesen deutlich:
Keiner schadet dem Menschen so sehr wie der Mitmensch, vor allem durch Gewaltanwendung, die der Staat deshalb verhindern muß.
Einsicht in den wahren Nutzen ist erforderlich; zur Vollkommenheit solcher Einsicht und solchen Strebens nach Nutzen gehören drei Gesichtspunkte:
Cicero fügt einen Exkurs über das Schicksal an: Was kann uns schaden?
Cicero führt aus, weswegen uns Mitmenschen nutzen:
Ein Problem besonderer Art besteht für Cicero in der Kritik an der in Rom weitverbreiteten Praxis der Bestechung. Daraus wird die ausführlich erörterte Frage, wie Juristen und Politiker sich zu verhalten haben:
In der zweiten Hälfte des - überhaupt recht weitschweifigen - zweiten Buches kommen nur wenige Aspekte zur Sprache, die nicht schon früher angesprochen wurden.
Immer wieder wird betont, daß der Mensch nur als Mitmensch - gestützt auf die Mitmenschen - als Mensch leben kann.
Das Recht muß auf Gleichheit ausgerichtet sein; das bedeutet, daß es vor allem die Schwächeren oder niedriger Gestellten schützen muß. Gesetze müssen für alle in gleicher Weise gelten.
Zu Herrschern sollen nur Menschen gewählt werden, an deren Gerechtigkeitssinn kein Zweifel besteht. Gerechtigkeit fördert zugleich ihr Ansehen. Keiner soll mehr scheinen wollen als er ist oder sein kann.
Jeder soll sich hohe Ziele setzen; einigen wird hoher Stand "geschenkt", andere müssen sich zielstrebig darum bemühen.
Leistungen des Geistes verdienen mehr Anerkennung als körperliche Leistungen; das zeigt sich im öffentlichen Umgang und im Gespräch: Bescheidenheit und Charakterfestigkeit finden Anerkennung. Nachahmungsethik als eine Form der Ethik wird hier angedeutet.
Pflichten der Juristen und Politiker sind Schutz für die Unschuldigen sowie Wohltätigkeit und Freigebigkeit, allerdings wie alles Handeln: mit Maß. Maßhalten gilt insbesondere für das Privatvermögen, das für die Familie mindestens zu erhalten ist.
Weder Verschwendung noch Habsucht halten sich in der rechten maßvollen Ordnung; das gilt auch für Ausgaben für das Gemeinwesen, bei denen vor allem an die Auswirkungen für die Zukunft zu denken ist.
Bei der Auswahl der Empfänger von Wohltaten ist vorsichtiges Urteil - Abwägen - erforderlich.
Was für das Geben gilt, gilt auch für das Eintreiben von berechtigten Forderungen; hier gilt es gerecht zu sein, aber Streitigkeiten zu vermeiden und bei Würdigung des Schuldners eventuell sogar verzichtbereit zu sein und Schuldenerlaß zu gewähren.
Immer wieder - sicher im Blick auf sich selbst - betont Cicero die Beredsamkeit des Juristen und des Politikers, der dabei allerdings weniger den eigenen Ruhm als die Hilfe für andere bedenken soll. Hilfe für sozial Schwache läßt diese dankbar sein und ermöglicht dem Politiker seine Arbeit.
Das Gemeinwesen hat immer Vorrang vor jedem Einzelinteresse; aber das darf nicht zu Gleichmacherei führen; gleichmachende "Steuern" darf es nicht geben; solche Abgaben dürfen nur bei äußerster Notwendigkeit eingeführt werden, wobei jeder Verdacht auf Bereicherung und Habsucht ausgeschlossen sein muß. Soziale Gleichmacherei (kostenfreies Wohnen, Schuldenerlaß, Agrarreform) schädigt den Charakter und unterhöhlt den Staat.
Politiker dürfen sich niemals persönlich auf Kosten des Gemeinwohls bereichern; sie müssen insbesondere rechtmäßig erworbenen Privatbesitz achten und schützen. Niemand darf sich fremden Privatbesitz aneignen, wobei allerdings im öffentlichen Interesse Entscheidungen für Enteignungen im Einzelfall zu rechtfertigen sind.
Das Gemeinwesen und die verantwortlichen Führer sollen keine Schulden machen; wenn sie Schulden machen müssen, dann müssen diese zurückgezahlt werden. Sonst schwinden Verläßlichkeit und Vertrauen als Grundlage des Staates.
Abschließend und zurückkehrend zum Thema "Nutzen" erwähnt Cicero einige Gesichtspunkte, die Panaitios nach seiner Meinung ungenügend oder gar nicht behandelt hat: die Sorge für Gesundheit und Vermögen, Selbstbeherrschung in Lebensweise und Körperpflege, Erhaltung des Besitzes durch Umsicht und Sparsamkeit.
Panaitios hat vor allem den Gesichtspunkt übergangen, daß zur Beurteilung des Nutzens "der Vergleich von Fällen der Nützlichkeit" (221) gehört, der zu den ethischen Pflichten gehört. Auch das ist ein Hinweis auf die Notwendigkeit der Abwägung in ethischen Fragen.
Didaktische "Prüfungsfragen":
(Entschädigung oder Rückgabe? Vgl. ehemalige DDR!)
10. Was fordert Cicero mehr als Panaitios?
III. Buch
Das dritte Buch wiederholt vieles, was in den beiden ersten Büchern bereits besprochen ist. Wichtig sind vor allem Überlegungen zu Konflikten zwischen Ehrenhaftigkeit und Nutzen, über Maßstäbe sittlicher Entscheidung in Konfliktfällen und über die Kardinaltugenden.
Cicero schildert seine persönliche Lage und seine Absicht, weiter politisch zu wirken – jetzt durch schriftstellerische Tätigkeit.
Philosophie ist nützlich für das individuelle und soziale Handeln; das wichtigste in der Philosophie ist die Ethik.
Ethik hat es mit Sachverhalten zu tun, über deren Nutzen oder Schaden zu urteilen und im Konfliktfall zu entscheiden ist. Für Cicero gibt es keinen Zweifel, daß es solche ethischen Konfliktfälle gibt.
Ehrenhaftigkeit muß immer den Vorrang vor dem bloßen Nutzen haben. Allerdings muß man beachten, was jeweils dem Einzelnen - als das "Mittlere" - in seiner Situation zumutbar ist. Cicero geht es um Ethik für alle, nicht nur für die "Weisen".
Man braucht ein Verfahren, um Werte miteinander vergleichen zu können. Das entfaltet Cicero ausführlich: Man darf nicht das Eigeninteresse über das Gemeinwohl stellen, das Vorrang hat. Hierbei betont Cicero immer wieder, daß dies "der Natur" entspricht und der "alle umfassenden Gemeinschaft der Menschheit".
Der Natur entspricht die wirkliche Nützlichkeit, allerdings nicht immer die des einzelnen, wohl aber die der Gesellschaft; es kommt auf die rechte Wertung an. Ob wirklicher Nutzen vorliegt, muß genau geprüft werden, wenn andere und die Gemeinschaft nicht darunter leiden.
Konflikte zwischen Pflichten gibt es oft bei Freundschaften. Wahrheit und Recht haben auch hier Vorrang.
Rücksichtslosigkeit ist immer zu verurteilen, selbst Rücksichtslosigkeit gegen Fremde. Hier bietet Cicero so etwas wie eine antike Fassung des Asylrechts.
Was schändlich - unehrenhaft - ist, ist niemals wahrhaft nützlich. Immer ist zu bedenken und abzuwägen. Der gute Zweck heiligt kein schlechtes Mittel. Das wird demonstriert am Beispiel von Unaufrichtigkeit und am Verschweigen von Nachteilen.
"Der einzelnen Leistungsfähigkeit und Wohlstand sind der Reichtum der Bürgerschaft". – Hier wird das Immobilienrecht Roms ausführlich dargelegt. Vor allem die Philosophie fordert Klarheit und Ehrlichkeit; philosophische Ethik fordert mehr als das Recht fordern kann!
Das Naturrecht kann etwas verbieten, was das positive Recht nicht mit Strafe sanktioniert. Völkerrecht steht über dem Bürgerrecht. Die Quelle des Rechts ist die Natur. "Naturrecht" muß Zeitumstände berücksichtigen.
Abschließend kehrt Cicero zu Überlegungen zu den Kardinaltugenden zurück. Die stoische Haltung wird nochmals deutlich: Die materiellen Dinge sind nicht das Entscheidende; es gilt, geistig-seelische Unabhängigkeit zu erhalten und den wahren Nutzen zu erstreben, der immer mit der Ehrenhaftigkeit zusammenfällt. Dabei grenzt er sich gegen die Epikureer ab; gegen deren Vergnügungsstreben geht es den Stoikern um "Ausgeglichenheit", Maß (temperantia). Cicero hofft, daß sein Sohn die Ermahnungen des Vaters dankbar aufnimmt.
Didaktische "Prüfungsfragen"
Zusammenfassung und Auswertung
bemüht sich aber auch, Platon und Aristoteles zu berücksichtigen. Er ist Eklektiker.
a) das höchste Gut
b) das Handeln in Entsprechung zum höchsten Gut
c) die Kardinaltugenden
d) der - individuelle und gesellschaftliche - Nutzen
e) die Begründung der - mittleren, für alle möglichen - Pflicht durch das Maß des Nutzens, die Güterabwägung
f) die menschlichen Bedürfnisse, denen Rechte und Pflichten entsprechen.
a) dem anderen nicht zu schaden
b) mit Güte und Freigiebigkeit verbunden zu werden
c) Privatbesitz zu achten, aber die Sozialpflichtigkeit zu beachten: Gemeinnutz geht vor Eigennutz.
d) Angst und Habsucht, Streben nach Macht zu beherrschen.
e) Daraus ergeben sich konkrete Forderungen, etwa im Kriegsrecht und in der Behandlung von Ausländern oder Niedriggestellten (Sklaven) oder in der Frage von Lohnzahlungen.
f) Die Erörterungen zu "Tapferkeit" und "Maß" geben Cicero Gelegenheit, viele konkrete Forderungen der Ethik oder des praktischen Verhaltens anzusprechen.
a) Fähigkeit, über die sittliche Qualität einer Handlung zu urteilen
b) Fähigkeit, die allgemeinen Grundsätze einzusehen
c) Fähigkeit, die konkrete Situation zu beurteilen
d) Fähigkeit, die Hierarchie von Werten und Forderungen zu erkennen
e) Fähigkeit, das Gewicht der jeweiligen "Sache" zu erkennen
f) Fähigkeit, unterschiedliche Nützlichkeiten abwägen zu können (Probabilismus - Probabiliorismus).
a) Die umfassendste Gemeinschaft ist die ganze Menschheit.
b) Konkret ist das eigene Volk zu bevorzugen.
c) Besonders wichtig ist die - weit gefaßte - Familie.
d) Die Freundschaft ist eine besondere Verpflichtung.
e) Die Tradition ist wichtig: Zukunft baut auf Vergangenheit auf.
f) Die Rangordnung der Realität ist zu beachten: Materielle Güter - Vernunftlose Lebewesen - Menschen - Götter.
g) Formal gilt die "Goldene Regel".
h) Naturrecht steht über jedem positiven Recht - aber auch Naturrecht ist dem historischen Wandel unterworfen.
a) die Abwägung betrifft Handlungsalternativen
b) die Abwägung betrifft betroffene Personenkreise
c) Güter sind nach Sachen, Personen, Zeiten und Situationen - im historischen Wandel - unterschiedlich zu bewerten.
Literatur
Textgrundlage:
Marcus Tullius Cicero, De officiis – Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch und deutsch. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Heinz Gunermann. Stuttgart: Reclam Nr. 1889: 1984 (mit Auswahl-Bibliographie).
Sekundärliteratur:
Verschiedene Philosophiegeschichten, besonders:
Malte Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3: Stoa, Epikureismus und Skepsis (= Band III der von Wolfgang Röd herausgegebenen "Geschichte der Philosophie"). München: C.H. Beck 1985.
Marcia L. Colish, The Stoic Tradition. From Antiquity to the Early Middle Ages. I. Stoicism in Classical Latin Literature. Leiden: Brill 1985.