Allgemeine Hermeneutik

 

 

L. Geldsetzer

 

 

Die Hermeneutik ist eine methodologische Disziplin, die vorzugsweise in den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften angewendet wird. Nach einem berühmten Wort W. Diltheys ist sie auf das "Verstehen" von in Kulturdokumenten und Lebensäußerungen manifestiertem Sinn ausgerichtet, und dies im Gegensatz zur Methodologie der Naturwissenschaften, die auf die "Erklärung" sinnfreier Naturphänomene abziele. Die Bezeichnung verweist auf den griechischen Götterboten Hermes, der den Menschen die göttlichen Botschaften und den Göttern des Olymps Nachrichten von den Menschen überbringen sollte, und der sich somit als "Makler" und Vermittler zwischen Irdischem und Überirdischem betätigte. "Hermeneutikon" nannte man im griechischen Geschäftsleben allgemein die Maklergebühr. In der Disziplin geht es um den Kommerz zwischen Geist und Materie, Idee und Sache oder Bedeutung und Zeichen. Und wer sich darin betätigt, hat noch immer sein Hermeneutikon in Gestalt von Aufwand und Mühe im Verstehensgeschäft zu entrichten.

Da seit Platons enzyklopädischem Kurrikulum der freien Künste die Mathematik im sog. Quadrivium zur Hauptmethodologie der Naturwissenschaften geworden ist, blieb für die Hermeneutik vorwiegend der Anwendungsbereich der Geisteswissenschaften im sog. Trivium übrig. Bei den Disziplinen des Triviums handelt es sich um Grammatik, Rhetorik und Logik, die den Umgang mit geschriebener und gesprochener Sprache sowie die denkende Erfassung ihrer Sinngehalte stilisierten. Aus ihnen ist das hervorgewachsen, was wir heute die Geisteswissenschaften nennen.

Aristoteles, der die Logik als "Organon" bzw. Instrument aller Wissenschaften behandelte, hat mit einer zum Korpus der logischen Schriften gehörigen Schrift "Über die Interpretation" (Peri hermeneias / De interpretatione) die Hermeneutik als Teildisziplin der Logik begründet. Da er keine besondere Sprachphilosophie und Grammatik, wohl aber eine Rhetorik entwickelt hat, muß man seine Hermeneutik als eine Disziplin nehmen, die alles dies mit der Logik verknüpft. Er sagt in dieser Schrift in diesem Sinne: "Die Sprache ist Zeichen und Gleichnis für die seelischen Vorgänge, die Schrift wieder für die Sprache. Und wie nicht alle dieselben Schriftzeichen haben, bringen sie auch nicht dieselben Laute hervor. Die seelischen Vorgänge jedoch, die sie eigentlich bedeuten sollen, sind bei allen die gleichen, und auch die Dinge, die sie nachbilden, sind die gleichen" (Über die Hermeneutik 16 a). Damit formuliert er im Rahmen seiner realistischen Erkennntnistheorie eine Bedeutungstheorie, nach welcher Bedeutungen (Sinngebilde) mentale Abbilder der sinnlich wahrgenommenen materiellen Wirklichkeit sind, die durch Laut- und/oder Schriftzeichen der je verschiedenen Sprachen evoziert werden können. Diese aristotelische Bedeutungsdefinition ist bis heute für die meisten hermeneutischen Theorien verbindlich geblieben.

Sie ist freilich in der Konkurrenz mit und als Kritik an der platonischen Ideenlehre entwickelt worden. Nach der Ideenlehre sind die - mit einem "geistigen Auge" zu schauenden - Ideen selbst Sinngebilde bzw. Bedeutungen, und diese sind eigentliches Sein. Sie bilden nicht Dinge ab, sondern verleihen den sonst flüchtigen und vielfältigen Erscheinungen der Erfahrungswirklichkeit erst Realität, Einheitlichkeit und Stabilität; kurz, sie verleihen Lautungen und Schriftzeichen der Sprache und den sinnlichen Phänomenen insgesamt erst wirklichen Sinn und Bedeutung durch Teilhabe (Methexis, participatio) an ihnen selbst. Diese Teilhabe zeigt sich bei Platon auch in logischer Gestalt als "Implikation" generischer Merkmale und "Intensionen" bzw. der Bedeutungen der Allgemeinbegriffe in den "sinnvollen" Namen und Kennzeichnungen der Einzelerscheinungen. Daher muß man nach Platons Auffassung auch die - ja als eingeboren bezeichneten - Ideen bzw. Begriffe stets schon mitbringen und über sie verfügen, wenn man gesprochene Sprache oder Texte und erst recht die sog. Naturphänomene (aber auch die Kulturphänomene) verstehen will. Auch die platonische Bedeutungslehre ist in mehr oder weniger deutlicher Gestalt bis heute aktuell geblieben und gibt den Hintergrund für eine Reihe moderner "idealistischer" Hermeneutiktheorien ab.

Der Gegensatz der aristotelisch-realistischen und der platonisch-idealistischen Auffassung vom Verhältnis der Sinngebilde zur sog. Wirklichkeit wurde im mittelalterlich-scholastischen Universalienstreit weiter herausgeklärt. Dieser war eine ebensowohl logisch-erkenntnistheoretische wie auch ontologische Auseinandersetzung, die wesentliche Folgen für alle späteren Ausarbeitungen der Hermeneutik hatte. Hier vertraten die radikalen Aristoteliker bzw. Nominalisten die Position, daß die Zeichen (Laut- und Schriftzeichen der Sprache, aber auch logische Formalzeichen) als Teile der materiellen Wirklichkeit alleine "real" seien, Sinn und Bedeutung (die Universalien) aber "post rem" als Denkbilder erst von den Zeichen im Bewußtsein evoziert würden. Umgekehrt vertraten die (von den Aristotelikern sogenannten) "Ideenrealisten" bzw. Platoniker die Position, daß Sinn und Bedeutung unabhängig und selbständig vor den Zeichen - "ante rem" - bestünden und erst im Nachhinein gewisse materielle Dinge durch In-Beziehung-Setzung auf solchen Sinn zu Zeichen würden. Vermittelnd traten die sog. gemäßigten Aristoteliker auf, die Sinn und Bedeutung in die Zeichen selbst setzten. Auf diesem Hintergrund ist Verstehen von Texten für die Aristoteliker wesentlich ein "Ausschöpfen" von Sinn und Bedeutung aus den Textzeichen und somit ein Lernprozeß des Lesers hinsichtlich der Bildung seines subjektiven Wissens aus verstandenem Textsinn. Für die Platoniker aber bleiben die Textzeichen nur ein zufälliger Anlaß, immer schon vorgegebenes und an den Text herangebrachtes Wissen ("Vorurteile") im Bewußtsein zu aktualisieren: Der Text wird zur materiellen Evokationsmaschine von Ideen im Bewußtsein des Lesers, die als "Sinndeutung" und "Interpretation" theoretische Gestalt annehmen und auf die Textzeichen bezogen werden. Die Texte und Dokumente haben so im Bereich des Verstehens eine analoge Funktion wie die Spiegel im optischen Bereich: Sie erzeugen die Illusion, daß in ihnen zu sehen bzw. zu verstehen sei, was man doch hinzubringen und vor sie hinstellen muß. Diese gegensätzlichen Einstellungen regieren dann auch das Verhältnis von Leser und Buch und allgemeiner des Intellektuellen zur Buch- und Schriftkultur im Abendland. Für den (aristotelisch) realistischen Interpreten wird jeder Text und jedes beliebige Buch zum Forschungsgegenstand, aus dem nach bestimmten hermeneutischen Regeln immer neuer und anderer Sinn und Bedeutung erschlossen und gelernt werden kann und soll. Für den (platonisch) idealistischen Interpreten sind Texte und Literaturen nur eine spezielle Sorte von Kulturartefakten, - gewissermaßen Gedächtnisstützen - anhand derer ein je gegenwärtiges Wissen in Interpretationstheorien exemplifiziert und aktualisiert wird.

Die beiden hermeneutischen Grundeinstellungen, die wie gezeigt auf Platon und Aristoteles zurückgehen und durch die Ausbildung idealistischer und realistischer Denksysteme durch die ganze abendländische Geistesgeschichte transportiert wurden, haben in zwei wesentlich verschiedenen Typen hermeneutischer Methodologie bzw. von "Hermeneutiken" ihren Niederschlag gefunden. Wir haben sie an anderen Stellen als zetetische (forschende) und dogmatische Hermeneutiken näher beschrieben.

 

I. Die dogmatische Hermeneutik ist die Methodologie des interpretierenden Umganges mit institutionell ausgezeichneten "autoritativen" Texten und Dokumenten. Zu diesen gehören in erster Linie sog. heilige Schriften und in Geltung stehende Gesetzestexte, die ihrerseits die Grundlage für die Ausbildung sog. dogmatischer Disziplinen wie Theologie und Jurisprudenz darstellen. Der Typus der dogmatischen Hermeneutik wurde seinerseits jeweils im Rahmen dieser Disziplinen als methodologische Teildisziplin entwickelt. Nach ihrem Beispiel sind (spätestens seit der Renaissance) auch die sog. Klassiker der Profanliteratur in der Philologie dogmatischen Interpretations-verfahren beim Übersetzen unterworfen worden. Hierbei sind im Laufe der Zeit die autoritativen Wörterbucher und Grammatiken zu hermeneutischen Regelkanons dafür geworden, wie ein und derselbe Sinn in zwei oder mehreren Sprachen durch Wörter und Wendungen ausgedrückt werden kann und soll. Dies gilt aber auch für die interpretierende "Aufführung" in den darstellenden Künsten und in der Musik, wo der Sinn der Rollen und musikalischen Notationen nicht in theoretischer Artikulation, sondern im lebendigen (Schau- und Musik-)"Spiel" vorgeführt wird, die man daher ebenfalls "Interpretationen "nennt. Was dabei in der sog klassischen Philologie und darüber hinaus in jedem Fache als "klassisch" gilt, verdankt diese Auszeichnung einer institutionellen Funktion als "bedeutsam, wichtig und maßgeblich" für die ganze Kultur oder Teilbereiche derselben. In der Moderne sind dann auch die literarischen Arbeits- und Lehrtexte aller Disziplinen, wie Lexika und Enzyklopädien, Lehr- und Handbücher, als "dogmatische" Texte behandelt worden, so daß der Umgang mit ihnen ebenfalls durch die dogmatische Hermeneutik gesteuert wird. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß auch im Zusammenhang der naturwissenschaftlichen und der formalen (logischen und mathematischen) Methodologie vielfach von "Interpretation" die Rede ist: Interpretation bzw. Deutung von Fakten und Phänomenen (statistische Erhebungen, Versuchsprotokolle u.ä.) - die oft auch "Bewertung" genannt wird - einerseits, und von formalen Kalkülen andererseits. Ersichtlich geht es auch hierbei um Übersetzung bzw. Übertragung des strukturellen Sinnes von Formalismen (Kalkülen, Strukturkernen von Theorien) auf Phänomene und ihre Zusammenhänge, und umgekehrt von Eigenschaften und Zügen phänomenal-anschaulicher Gegebenheiten (Modelle) auf formale Strukturen. Auch diese stehen unter Regeln einer dogmatischen Hermeneutik (z. B. Theorien sind zu exhaurieren und nicht ohne Not aufzugeben; Phänomene sind zu "retten" und dürfen nicht ohne Not als artifizielle Produkte von Versuchsanordnungen oder gar Meßfehlern gedeutet werden; formale Kalküle müssen durch mindestens ein Modell deutbar sein u.ä.). Freilich sind diese hermeneutischen Einschüsse in der Methodologie der Naturwissenschaften, die auf die neuplatonische Tradition einer "interpretatio naturae" zurückgehen, noch keineswegs in einem angemessenen Klärungszustand. Gleichwohl wird man auch sie als Ausprägungen dogmatischer hermeneutischer Verfahren charakterisieren.

Die Einstellung des "Dogmatikers", sei er Theologie, Jurist oder Lehrer eines bestimmten Faches, ist - noch immer gut platonisch - die, daß er sein (wie immer und woher auch erworbenes) Fachwissen schon mitbringt und am jeweiligen Institutionentext (der Bibel, dem Gesetzbuch, dem Lehr- und Wörterbuch, dem "Klassiker") belegt und verdeutlicht, mithin sein "Vorwissen" anhand der Texte konkretisiert und dokumentiert. Und er tut es in der Regel nur ad hoc, aus gegebenem Anlaß zur Beantwortung einer bestimmten Glaubens- oder Gewissensfrage, zur Entscheidung eines Rechtsfalles, zur Aufführung eines bestimmten Schauspiels oder Musikwerkes oder zur Vergewisserung über einen bestimmten Lehrgegenstand. Die dogmatische Hermeneutik ist daher auch ihrer Natur nach 1. streng und strikt fachgebunden (disziplinär), d. h. sie hat immer von den dogmatisierten Vorurteilen und Vorverständnissen des jeweiligen Faches auszugehen, die im Fache als sog. letzter Stand des Wissens gelten. Man verwechsle diesen Wissensstand nicht mit einer herrschenden Meinung im Fache oder einer bevorzugten Theorie einer Schule. Meinungsvielfalt und Theorienpluralismus in einer Disziplin, die der Fachmann überschauen und beherrschen muß, liefern vielmehr normalerweise gerade die maßgeblichen und zugelassenen Hauptgesichtspunkte (Topoi) für die jeweilige Einzelinterpretation der dogmatischen Texte, und sie erschließen damit sog. kanonische Spielräume für diese Interpretationen. Der Fachmann muß sie kennen und unterscheidet sie in der Regel sehr genau von allem "Allotria" dilettantischer, unfachlicher oder fachfremder Gesichtspunkte. 2. Vor allem macht die dogmatische Hermeneutik keine Wahrheitsansprüche und kennt auch keine Wahrheitskritien. Wenn gleichwohl in jeder Dogmatik mehr oder weniger emphatisch die "Wahrheit", z.B. der hl. Schrift, des Gesetzes, eines Kunstwerkes oder eines Lehrgehaltes, beschworen wird, so ist damit die jeweilige Kulturbedeutung des Artefakts, nicht aber das Erkenntnisverfahren gemeint Die dogmatische Hermeneutik richtet sich daher 3. ausschließlich nach Kriterien der Qualität und Effizienz. Eine dogmatische Interpretation kann daher gut oder schlecht, fachgerecht oder dilettantisch, elegant oder überzwerch, scharfsinnig oder dumm, im Grenzfall noch zulässig oder abwegig genannt werden, nicht aber wahr oder falsch. Das Effizienzerfordernis besagt, daß eine dogmatische Interpretation 4. immer gelingen muß (Non-liquet-Verbot) und somit ein Ergebnis zu zeitigen hat, das den Bezugstext als "sinnvoll und einschlägig" für die gewünschten Antworten erscheinen läßt. Dabei spricht man 5. gewöhnlich von einer "überschießenden Sinnfülle" des dogmatischen Bezugstextes, die grundsätzlich nicht auszuschöpfen ist: Die heilige Schrift ist "höher als alle Vernunft", das Gesetz ist "klüger als der Gesetzgeber", der Klassiker "hat uns immer noch etwas zu sagen", und auch das gute Lehrbuch "bietet mehr, als man ad hoc gerade verwenden kann".

Für die Durchführung von Einzelinterpretationen haben die älteren dogmatischen Disziplinen spezifische fachliche Regeln - sog. hermeneutische Kanons - entwickelt. Sie sind sämtlich darauf ausgerichtet, die jeweiligen dogmatischen Texte als Bezugstexte auszuzeichnen und von anderen Textsorten abzugrenzen und zugleich die Fachgebundenheit und Effizienz der Auslegungen zu gewährleisten. Für den ganzen Bereich der Lehre, soweit sie als dogmatische Interpretation kanonischer Lehrbücher betrieben wird, sind sie indessen noch keineswegs in übersichtlichem Zustand konsolidiert worden. Sie werden hier im besten Falle eher "kunstmäßig" und "taktvoll" und vielleicht auch mit "divinatorischem Gespür" praktisch beherrscht und befolgt. Da sie fachspezifisch sind, läßt sich nur am Beispiel zeigen, worauf es dabei ankommt. So hat die abendländische Theologie schon früh Lehren vom zwei- oder mehrfachen Schriftsinn ausgebildet. Der sog. buchstäbliche (Literal-)Sinn oder vordergründige Sinn wird vom eigentlichen (kerygmatischen) Sinn oder Hinter-Sinn (sensus mysticus) unterschieden, und letzterer kann seinerseits wieder in mehrere Sinnrichtungen verfolgt werden nach der bekannten Regel: Littera gesta docet, quid credas allegoria; moralis quid agas, quo tendas anagogia (Der buchstäbliche Sinn lehrt die Fakten, die Allegorie den Glaubensinhalt, der moralische Sinn das, was zu tun ist, der "erbauliche", wonach zu streben ist). Der Jurist seinerseits kann sich dogmatisch interpretierend nur auf die geltenden Gesetze beziehen (was nach nicht unumstrittener Lehre auch gelegentlich heißt, daß er "überpositives" - ungeschriebes - Recht in die positiven Gesetzestexte hineindeuten muß). Er interpretiert das Gesetz nur aus "gegebenem Anlaß" eines vorliegenden Falles, für dessen Beurteilung er sich auf eine oder mehrere gesetzliche Maximen berufen muß. Für die Konstruktion des inhaltlichen Sinnes der Maximen hat er die oben genannten kanonischen Spielräume zur Verfügung, die durch (meist alternative) Standardargumente eröffnet werden: Die Maxime ist entweder eindeutig gemäß "planem" Wortverständnis oder sie läßt mehrere Deutungen zu. Ist sie mehrdeutig, so wird sie nach vorgängigem Beispiel höherer Instanzen (Präjudiz) interpretiert (das ist am sichersten). Diese Präjudizien sind selbst Interpetationen, die aus dem Kontext der behandelten Materie ("ratio legis") oder auch gemäß der historischen Intention des Gesetzgebers ("Wille des Gesetzgebers") gewonnen wurden. Verschränkt damit kann ein einzelner Gesetzesterminus gegebenenfalls im üblichen Wortsinn oder restriktiv (eingeschränkter Begriffsumfang) oder erweitert (ausgeweiteter Anwendungsbereich des Begriffs, im Strafrecht unzulässig!) interpretiert werden. Vielerlei Denkfiguren für die Verknüpfung von Rechtsbegriffen zu Auslegungstopiken lassen sich aus der Analogie zu Denkfiguren in jeweils anderen Rechtsbereichen gewinnen. Hierin bewährt sich am meisten juristischer Takt und Gespür für das, was unter besonderen Umständen als Argumentation für eine Interpretation überzeugen kann. Daß diese Spielräume nicht zu willkürlichen Gesetzesauslegungen (wohl aber zu effektiven Interpretationen) führen, liegt heute eher am Gewicht der Präjudizien der höheren Instanzen auch im kontinentaleuropäischen Recht, während die Präjudizien im angelsächsischen Recht schon immer diese vereinheitlichende Funktion hatten. Gleichwohl dürfte die zunehmende Unberechenbarkeit richterlicher Auslegungen und Entscheidungen in schwierigeren Fällen zeigen, daß die dogmatische Hermeneutik der Jursiprudenz an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gelangt ist.

Als wesentlich wird bei der dogmatischen Hermeneutik gewöhnlich der "applikative Aspekt" - die Anwendungsbezogenheit - herausgestellt, der sich daraus ergibt, daß sie nur ad hoc, d.h. zur Beantwortung bestimmter Fragen und zur Lösung von bestimmten Problemen (Rechtsfälle) eingesetzt wird. Durch die dogmatische Interpretation wird ein (institutionell gestützter) Textsinn so aufbereitet, daß er für die Anwendung auf praktische Fragen nutzbar wird. Gleichwohl sollte man auch hier genau zwischen der eigentlichen Interpretation und der Anwendung des dadurch gewonnenen Textsinnes auf die Probleme unterscheiden. Die Anwendung auf den Fall unterliegt ihrerseits nicht hermeneutischen, sondern logischen Regeln der Subsumption des Einzelnen und Besonderen (des Falles bzw. des Problems) unter das Allgemeine (des hermeneutisch festgestellten Textsinnes): Der festgestellte Textsinn liefert die logischen Prämissen für die schlußmäßige Deduktion einer Antwort auf die gestellten Fragen bzw. eines Urteils über den anstehenden Fall.

 

II. Die zetetische Hermeneutik ist aus der dogmatischen entstanden. Sie verdankt sich geradezu der Kritik an der Verengung des Blickwinkels der dogmatischen Ausleger heiliger Schriften, der Gesetze und klassischer Autoritäten, wie sie schon die antiken Skeptiker, insbesondere Sextus Empiricus mit seiner Schrift "Adversus dogmaticos", vorführten. Von Sextus Empiricus stammt auch die hier zugrundegelegte Unterscheidung von zetetischer (forschender) und dogmatischer (autoritätsgebundener, schulmäßig oder fachlich eingeschränkter) Einstellung. Da aber die kritische und forschende Einstellung im modernen Wissenschaftssystem weithin als einzig angemessene gilt, bestehen erhebliche Widerstände gegen die Verwendung auch nur des Terminus "dogmatisch" im Zusammenhang wissenschaftstheoretischer Erörterungen, und so wird gerne jede Art von Auslegung für eine "forschende" gehalten. Gleichwohl dürfte die Abgrenzung der dogmatischen Hermeneutik von der zetetischen unverzichtbar sein, wenn man eine große hermeneutische Tradition und tatsächlich geübte methodische Verfahren adäquat beschreiben will.

Die zetetische Hermeneutik beruht auf Prinzipien, die sich - aus der Kritik an der dogmatischen Hermeneutik entwickelt - als deren genaue Alternativen darstellen. Sie setzt voraus, daß grundsätzlich alles Textmaterial, darin eingeschlossen auch die dogmatischen Texte, und darüber hinaus auch alle Arten von Kulturdokumenten, in ihren Gegenstandsbereich fallen. Ebenso setzt sie voraus (und darin weitgehend durch die realistische Einstellung bestimmt), daß alle Dokumentarten in ihrem Zeichenvorrat schon bestimmten Sinn und Bedeutung enthalten, den es in der jeweiligen Interpretation "auszuschöpfen" und mittels der "Interpretation" wiederzugeben, zu "rekonstruieren" oder auch "abzubilden" gelte. Kritisch-zetetische Einstellung wird dabei wesentlich in vorurteilsloser Offenheit und Unvoreingenommenheit gegenüber dem, was sich als Sinn der Texte zeigen soll, gesehen. Ihr Ziel ist daher auch die Erstellung von Interpretationstheorien, die diesen Sinn eindeutig, vollständig und adäquat darstellen. "Hermeneutische Wahrheit" wird dabei gemäß der realistischen Korrespondenztheorie der Wahrheit aufgefaßt. In idealistischer Einstellung handelt es sich jedoch um Bildung und "kohärente" sowie "komprehensive" Konstruktion des Sinnes nach Maßgabe der Kohärenztheorie der Wahrheit.

Als Prinzipien der zetetischen Hermeneutik lassen sich herausstellen: 1. Sie ist als Methodendisziplin grundsätzlich interdisziplinär - im Gegensatz zur Fachgebundenheit der dogmatischen Hermeneutik. Das schließt nicht aus, daß spezielle Text- und Dokumentarten zum Gegenstandsbereich jeweils spezifischer Disziplinen gehörten. Interdisziplinarität meint einerseits die "Universalität" und ubiquitäre Anwendbarkeit der Methodologie in grundsätzlich allen Disziplinen. Andererseits bedeutet sie auch, daß das zum zetetischen Verstehen notwendige Wissen grundsätzlich aus allen jeweils einschlägigen Disziplinen gleichsam zusammengeholt werden muß. Der wirkliche "Gelehrte" muß in der Lage sein, auch über seine Fachgrenzen hinaus "Vorwissen" aufzunehmen und sich für seine Verstehensbemühung zunutze zu machen. 2. ist sie strikten Wahrheitskriterien unterworfen. Das heißt, daß nur die Resultate zetetischer Interpretationen als wahr, falsch oder ggf. auch als wahrscheinlich gekennzeichnet werden können. Hier ist vor allem von der verbreiteten falschen Einschätzung zu warnen, zetetische Interpretationen seien schon deshalb wahr (oder sogar grundsätzlich wahr), weil und insofern sie einen "sinnvollen Wahrheitsgehalt" aus einem Text entnähmen (oder in ihn hineinlegen). Derartige Qualifizierungen gehören vielmehr zum rhetorischen Repertoire der dogmatischen Hermeneutik. In der zetetischen Hermeneutik kommt es, wie viele ihrer Klassiker schon frühzeitig bemerkt haben, haufig darauf an, bei überhaupt wahrheitsrelevanten Texten (meist wissenschaftlichen Dokumenten) neben der evt. Wahrheit auch evtl. Falschheit zu beurteilen, so daß eine sog. wahre Interpretation durchaus gerade auch die Falschheit eines sinnvollen Gedankens verständlich macht. Als eigentliche Wahrheitskriterien kommen nur die Kriterien der logischen Kohärenz und der Umfassendheit (Komprehensibilität) der jeweiligen Interpretationstheorie in Frage, wenn man davon ausgeht, daß die Interpretation nicht einen von ihr unabhängigen (und von ihr unterscheidbaren) Textsinn "korrespondierend" abbildet, sondern daß die Interpretation selber dieser Sinn ist. 3. Spricht man überhaupt von der Qualität einer zetetischen Interpretation, so kann es sich nicht um gut oder schlecht, zulässig oder unzulässig u.ä. handeln wie bei der dogmatischen, sondern ausschließlich um die Wissenschaftlichkeit der Methodenverwendung und der Einbettung der vorgeschlagenen Interpretation in den Kontext des einschlägigen interdisziplinären Wissens. Von einer zetetischen Interpretation wird man daher mit Recht verlangen können, daß sie sich "auf dem letzten Stand der Wissenschaft" befindet und das Fachwissen dabei vermehrt und vertieft. 4. ist bei zetetischen Interpretationen gegebenfalls auch mit einem Non liquet ("nicht klar"), also negativen Ergebnissen zu rechnen wie auch sonst in jedem Forschungsunternehmen. Dies ist ein heikler Punkt, den bekanntlich kein Forscher gerne eingesteht, weil er allzu leicht individueller Inkompetenz angelastet wird. Ein vager "Sinnlosigkeitsverdacht", wie er haufig polemisch geäußert wird ("das verstehe ich nicht" oder "Nonsens") genügt in keinem Falle, und selbst wenn er substanziiert und bewiesen würde, so würde er den Interpretationsgegenstand nur aus der Klasse der Artefakte ausschließen und in die der "sinnfreien" Gegenstände befördern. Gleichwohl kommt es nicht allzu selten vor, daß trotz bestehendem "Sinnhaftigkeitsverdacht" von Texten und Artefakten der genuine Sinn mangels einschlägigem Wissen nicht festgestellt werden kann. Die Sinnvermutung kann dann allenfalls zu hypothetischer Wahrscheinlichkeit der zetetischen Interpretation führen. 5. setzt man beim zetetisch zu interpretierenden Dokument historisch und systematisch beschränkten Sinngehalt voraus, so daß - wie Kant schon bemerkte - in der Regel "der Autor besser verstanden werden kann, als er sich selbst verstanden hat".

Die Kanons bzw. Regeln der zetetischen Hermeneutik sind heute nichts weniger als unumstritten, und die Verabsolutierung des einen oder anderen Kanons unter Vernachlässigung anderer bestimmt nachhaltig die Kontroversen über das, was eigentlich Hermeneutik sei. Manche Autoren - wie etwa H-G. Gadamer - gehen sogar davon aus, daß es hierbei überhaupt keine Regeln geben könne, da das forschende Interpretieren eine Sache des Taktes, der kühnen Hypothesen, der Divination oder gar der "künstlerischen" Intuitionen sei. Um sich jedoch über die faktischen Regeln zu vergewissern, tut man auch heute noch gut daran, sich an dem von Aristoteles für alle Forschung aufgestellten Schema der sog. Vier Ursachen zu orientieren, welches "Erklärungsgründe", d.h. auch Interpretationsargumente, in vier verschiedenen Dimensionen aufzusuchen empfiehlt. Es gilt demnach a. die "materiale" Textbasis eines zu interpetierenden Dokumentes bibliographisch und kontextuell zu sichern, b. die "formalen" Bedingungen der Textgestalt (Disposition, Gattungszugehörigkeit) und die die Ausdrucksformen prägenden Ideen in ihrer grammatischen und logischen Form zu eruieren, c. den "Ursprung und die Herkunft" des Textes (ggf. von einem Autor, aus einer Schule, aus einer Epoche) nach Anlaß und Umständen seiner Entstehung und den Wirkfaktoren bzw. Traditionen, die hierauf "Einfluß" ausübten, festzustellen, und d. den Zweck bzw. die Intention eines Textes (man sagt allerdings meist: des Autors) zu klären, wozu man sich bei älteren Texten der Einbeziehung der sog. Wirkungsgeschichte bis auf das eigene gegenwärtige Interesse des Auslegers an seinem Text versichern muß. Man kann sie gewiß noch weiter differenzieren, gerät damit aber nur in Details, auf die man wegen ihrer Trivialität gewöhnlich nicht achtet, und die doch nach festen Regeln der wissenschaftlichen Fairness und des geisteswissenschaftlichen "know how" getätigt werden. Zum ersteren gehört etwa die Regel der "hermeneutischen Billigkeit" (charity principle), nach der man einem Autor bis zum Beweis des Gegenteils selber Redlichkeit darin unterstellt, daß er auch gemeint habe, was er sage, und umgekehrt, daß man also nicht mit "malitiösen" Unterstellungen auslege. Zum allgemeinen know how dürfte das Prozedere nach dem "hermeneutischen Zirkel" gehören, der in der hermeneutischen Literatur vielfach verhandelt wird. Er besagt, daß man sich beim Interpretieren vom Einzelnen und Besonderen zum Allgemeinen und Ganzen erheben und von da wieder zum Einzelnen hinabsteigen müsse. Er beschreibt damit sehr zutreffend logische Induktion und Deduktion als Verfahren, die wie in jeder Theoriebildung so auch in der geisteswissenschaftlichen Interpretationsgewinnung anzuwenden sind. Das Einzelne und Besondere sind hier die Elementarbedeutungen der Wörter eines Textes, von denen man zum Satz- und Argumentsinn bis zu zum Sinn des ganzen Textes - und gegebenfalls darüber hinaus bis zum Gesamtsinn eines umfassenden Kontextes - fortschreitet (Induktion), während man umgekehrt wieder vom Gesamtsinn als Resultat der Induktion oder auch als hypothetisch-antizipierende Sinnvermutung zur Bedeutungsfestlegung der Einzelheiten herabsteigen kann (Deduktion). In der Praxis handelt es sich freilich kaum jemals um einen einzigen induktiv-deduktiven Kreislauf, sondern um viele in Antizipationen und Bestätigungen sich gegenseitig kontrollierende Schritte, so daß eher von "hermeneutischen Kreiseln" zu reden wäre. Damit wird jedenfalls gesichert, daß die zetetische Interpretation eines Dokumentes sich als widerspruchslose und kohärente Theorie aufbauen läßt, was seinerseits eine notwendige Bedingung ihrer Wahrheitsfähigkeit darstellt.

Die gegenwärtige Lage der Disziplin Hermeneutik ist durch außerordentlich lebhafte und kontroverse Diskussionen und damit ineins durch eine kaum mehr übersichtliche thematische Literatur und Nomenklatur gekennzeichnet. Man tut daher gut daran darauf zu achten, wovon jeweils die Rede ist. Zu unterscheiden ist auf jeden Fall zwischen 1. Interpretation im Sinne der Sinndeutung, Auslegung (Exegese) bzw. Verstehensexplikation einzelner Textstellen oder Texte und Kontexte nach den genannten kanonischen (dogmatischen oder zetetischen) Regeln.. 2. Die Theorie dieser Regeln bzw. Kanons selber, die zur hermeneutischen Methodologie gehören. 3. Hermeneutik im Sinne der methodologischen Disziplin. Der Schwerpunkt der Debatten dürfte beim letzteren Punkt liegen. Es geht um die Einschätzung des Status und der wissenschaftlichen Dignität der Hermeneutik überhaupt. Auf der einen Seite wird vom analytisch-positivistischen Lager aus die Hermeneutik - vor allem wegen ihrer dogmatischen Verfahren - als un- oder vorwissenschaftliche Pseudomethodologie verworfen (H. Albert) oder allenfalls als heuristische Vorstufe für die "logische Rekonstruktion" von Theoriesinn anerkannt (W. Stegmüller). Auf der anderen Seite stehen hermeneutizistische Ansätze, die die "Universalität der Hermeneutik" in allen Erkenntnisfragen behaupten (F. Nietzsche: Alles ist Interpetation; M. Heidegger: Verstehen als existentialer Weltentwurf; Lenk: Philosophie als Interpretations-konstruktionismus, H.-G. Gadamer: Unhintergehbarkeit des sprachlichen Verstehens). Insgesamt dürften von der gegenwärtigen Hermeneutikdiskussion im Spannungsfeld solcher Extreme wesentliche Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften und darüber hinaus der allgemeinen Wissenschaftstheorie zu erwarten sein.

(Lexikonbeitrag von 1996, im Druck)

 

Weitere Veröffentlichungen vom Verf. zum Thema:

 

Matthias Flacius Illyricus und die wissenschaftstheoretische Begründung der protestantischen Theologie. In: Matthias Flacius Illyricus, Leben und Werk, hsgg. von J. Matesic (Osteuropa-Studie 53), München 1993, S. 199-223.

Art. "Hermeneutik". In: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, hgg.v H. Seiffert und G. Radnitzky, München 1989, S. 127-139.

Hermeneutische Systematik. Zirkel und Dialektik. Chines. Übersetzung von Wang Tong in: Zhe Xue Yi Cong 6, Beijing 1988, S. 59-65.

Che cos' è l'ermeneutica? (italien. Übersetzung von Bruno Bianco) in: Rivista di Filosofia neo-scolastica 1983, S. 594-622.

Fragen der Hermeneutik der Philosophiegeschichtsschreibuzng. In: La Storiografia Filosofica e la Sua Storia, hgg. von G. Santinello, Padova 1982, S. 67-102.

Die dogmatische Hermeneutik der Jurisprudenz bei Thibaut und ihre geschichtlichen Voraussetzungen, Düsseldorf 1966 (= zugleich Einleitung zum Nachdruck von A. F. J. Thibauts Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts, 2. Aufl. Altona 1806, s.u.)

Vorwörter und Einleitungen zu den Nachdrucken hermeneutischer Klassikerwerke in der Nachdruckreihe Instrumenta Philosophica, Series Hermeneutica, (Sternverlag), Düsseldorf 1965 ff.:

Georg Friedrich Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, Halle 1757, (Series Hermeneutica I), Düsseldorf 1965.

Anton Friedrich Justus Thibaut, Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts, 2. Aufl. Altona 1806, (Series Hermeneutica II), Düsseldorf 1966.

Matthias Flacius Illyricus, De Ratione cognoscendi Sacras Literas / Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift, lat.-deutsche Parallelausgabe aus der Clavis Scripturae Sacrae des Flacius in der Ausgabe von Joh. Musaeus Frankfurt und Leipzig 1719, übers. v. L. Geldsetzer, (Series Hermeneutica III) Düsseldorf 1968.

Jacobus Acontius, De Methodo, hoc est de recta investigandarum tradendarumque artium ac scientiarum ratione / Über die Methode, d.h. über die rechte Forschung und Lehre in den Künsten und Wissenschaften, lat.-deutsche Parallelausgabe nach der 2. Ausgabe Genf 1582, übers. von A. von der Stein (Series Hermeneutica IV), Düsseldorf 1971.

Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742 (Series Hermeneutica V), Düsseldorf 1969.