5. Japanische Synthesen.

Auch nach eigenem Dafürhalten der Japaner nimmt die Philosophie von Nishida Kitaro (1870-1945) nach Umfang und Gehalt eine jedem philosophischen Klassiker anderer Kulturen ver-gleichbare Stellung ein. Nishida hat an der Kioto-Universität studiert, wo auch Busse, später von Koeber, und auch Inoue Tetsujiro wirkten. Er lehrte zunächst seit 1909 am tokioter Peers College deutsche Sprache, seit 1910 an der Universität von Kioto deutsche Philosophie, namentlich über Bolzano, Brentano, Meinong und Husserl. Seine frühen Veröffentlichungen machten ihn schnell bekannt und zogen viele Schüler an. Piovesana (s. o. S. 90) berichtet freilich von seiner vielfachen Klage, daß ihn keiner von seinen Schüler, nicht einmal die besten, eigentlich verstanden hätten (was man freilich auch sonst von berühmten Philosophen vernommen hat).

Sein frühestes System nannte er eine "Lehre von der reinen Erkenntnis" (Junsui keiken), die er in dem Buch Zen no kenkyu (Eine Studie über das Gute) von 1911 ausbreitete. Hier knüpft er an die Mystik von Meister Eckart und die (neuplatonischen) Systeme eines Jakob Boehme und Schelling an und kommt zu einer Identitätssetzung von Bewußtsein und Realität im Erkenntnisakt, der zugleich freier Wille sei (gleichwohl scheint er Schopenhauer damals nicht gekannt zu haben, erst recht nicht Berkeley). Die Ausarbeitung dieser Position bis in die zwanziger Jahre in Auseinandersetzung mit dem marburger (Cohen) und südwestdeutschen Neukantianismus (Rickert), mit Wilhelm Wundts Psychologie, Husserls Phänomenologie und Diltheys lebensphilosophischer Psychologie, aber auch mit Bergson (Begriff der "reinen Dauer") und J. Royce führte ihn zu Fichtes "Tathandlung", in der er nunmehr einen "Aktualitätsbegriff" des freien Willens und das zentrale Moment des "transzendentalen Ego" (senkenteki jiga) bzw. des handelnden Subjekts (koiteki shukan) fixiert. Von dieser Position aus, die ersichtlich eine Artikulation buddhistischer Bewußtseinslehren in westlicher Termino-logie darstellt, entwickelte er Theorien der Moral und Ästhetik (Geijutsu to dotoku / Kunst und Moralität, 1923), in der er die Kunst als Ausdruck des Unendlichen im Endlichen deutete.

Die weitere Ausgestaltung seiner Lehre führt ihn zu einer "Logik der Örter" (Basho no ronrigaku). Basho (wörtlich: Ort, Stelle, aber oft auch mit Raum oder Sphäre übersetzt und dem Sinne nach auch "Welt" einbegreifend) wird unter Bezugnahme auf Aristoteles' Begriff "Hypokeimenon" (Zugrundeliegendes, Substanz) als Individualitätsprinzip der Erschei-nungen im vorstellenden Bewußtsein eingeführt. Dieses wird selbst als der "Ort des reinen Nichts" definiert: "Das Bewußtsein überhaupt als der Standpunkt des Wissens ist der des Nichts, der alles Sein umfaßt und alle Gegenstände in sich hat. Das Bewußtsein ist aber kein wirkliches Bewußtsein, kein handelndes Bewußtsein, sondern nur ein vom Standpunkt des Bewußtseins überhaupt gesehener Erkenntnisgegenstand. Es bleibt noch das gegenständliche Nichts...Das Bewußtsein überhaupt ist der Eingang, um von diesem gegenständlichen Nichts zum wahren Nichts zu gelangen" (vgl. die Abhandlung "Basho", zit. nach L. Brüll in Japan-Handbuch, Sp. 1369-1370). Bewußtsein wird somit der Anknüpfungspunkt für alle urteilsmässigen Prädikationen über erscheinende "Wirklichkeit". Nishida entwirft drei solcher Basho-Welten: 1. Die physische Welt, die als Universum der objektivierenden Urteile (über die im Westen sog. Außenwelt) vorgestellt wird; 2. die Bewußtseinswelt i.e.S. ("Innenwelt"); und 3. die intelligible Welt. Man sieht ohne weiteres, wie in dieser Drei-Weltenlehre der Basho einerseits traditionelle Konzeptionen des abendländischen Neuplatonismus (physische, psychi-sche und geistige Welt bei Plotin, Außen-, Innen- und transzendental-intelligible Welt bei Kant, bis hin zu Poppers späterer Lehre von den "drei Reichen") mit den Jodo-buddhistischen Konzeptionen von den drei "reinen Ländern" der gesetzlich bestimmten Phänomene (hosshodo), der karmavernichtenden "Verdienste" (juyodo), und des nirvanahaften reinen "Nichts" (hengedo) der wahren Buddhaschüler verschmelzen: Die sog. physische Außenwelt (shizenkai) erweist sich als urteilsmässig bestimmte Illusionswelt, die Innenwelt (Ishikikai) als Welt des "relativen Nichts", die intelligible Welt (eichiteki sekai) als die göttliche Sphäre des absoluten Nichts, die nur in mystischer Intuition erahnt wird.

In seiner Spätphilosophie benutzt Nishida diese "nihilistische" Ontologie zu einer imposanten Kritik der "geschichtlichen Welt", indem er alle "geschichtlichen Gestalten" (Rekishiteki shintai , eigentlich: "historische Körper") als widersprüchliche Konstrukte individueller Willensmanifestationen und allgemeiner Urteile deutet, in denen mittels einer "tätigen Schau" (Koiteki Chokkan ) das zeitlich Vergangene (und auch Zukünftige) als Nichtiges mit dem selbst illusionären gegenwärtigen Bewußtsein ("nunc stans") dialektisch vereint wird. (vgl. seine Abhandlung Ronri to seimei /Logik und Leben, 1936, und Ningenteki zonzai / Das menschliche Sein, 1938).

Literatur: Die Titel von Nishidas Hauptwerken zeigen selbst schon die Etappen der Ausarbeitung seiner buddhistisch-neuplatonischen Synthese an und seien hier genannt: Zen no kenkyu (Eine Studie über das Gute, 1911), engl.: A study of Good, übers. v. V. H. Viglielmo, Tokio 1960; Shisaku to taiken (Denken und Erfahrung, 1915); Jikaku ni okeru chokkan to hansei (Intuition und Reflexion im Selbstbewußtsein, 1917); Hataraku mono kara miru mono e (Vom Arbeiten zum Schauen, 1927); Eichiteki sekai (Intelligible Welt, 1928); Ishiki no mondai (Probleme des Selbstbewußtseins); Ippansha no jikakuteki taikei (Das selbstbewußte System des Universalen, 1930); Mu no jikakuteki gentei (Selbstbewußtseinsbestimmtheit des Nichts, 1930); Koi no sekai (Die Welt des Handelns, 1933); Benshohoteki sekai (Die dialektische Welt, 1934); Bashoteki ronri to shukyoteki sekaikan / Örterlogik und religiöse Weltanschauung, 1945; Intelligibility and the philosophy of nothingness. Three philosophical essays, übers. v. R. Schinzinger, Tokio 1958; Last writings: Nothingness and the religious worldview, übers. von D. A. Dilworth, Honolulu 1987. Seine Sämtlichen Werke (Nishida Kitaro Zenshu) in 18 Bänden sind 1947-1953 in Tokio herausgegeben worden. - Über ihn: Kosaka Masaaki, Nishida Kitaro Sensei no shogai to shiso (Leben und Denken des Lehrers Nishida Kitaro), Tokio 1947; Noda Matao, East-West synthesis in Nishida, in: Philosophy East and West, 4, 1955, S. 345-350; D. Dilworth, Nishida Kitaro (1870-1949). The development of his thought, Diss. Columbia University 1970; H. Waldenfels, Absolute Nothingness. Preli-minary considerations on a central notion in the philosophy of Nishida Kitaro and the Kyoto School, 1966; R. J. Wargo, The logic of Basho and the concept of nothingness in the philosophy of Nishida Kitaro, Diss. Univ.of Michigan, 1973.

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