HEINEAGE

Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s

Internationale Tagung 
Goethe-Museum Düsseldorf 
07.12.2006 - 08.12.2006

 

Am 7. und 8. Dezember 2006 fand als weitere gemeinsame Veranstaltung eine internationale Tagung zum Thema „Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s“ in den Räumen des Goethe-Museums Düsseldorf statt. In vier verschiedenen Sektionen dienten die folgenden Vorträge als Diskussionsgrundlage:

Soziologische und psychologische Aspekte des Altern

Der Vortrag von David Blane (London) und Gopalakrishnan Netuveli (London) mit dem Titel "The Meaning of Quality of Life in Early Old Age" verdeutliche die eigenständige Bedeutung des "dritten Lebensalters", das sich durch mehr persönliche Freiheit, aber auch durch einen Mangel an verbindlichen gesellschaftlichen Aufgaben kennzeichnen lässt. Er zeigte, wie diese besondere Situation anhand eines sozialwissenschaftlichen Messverfahrens erfasst werden kann und wie die Ausprägung der Lebensqualität Älterer in Abhängigkeit vom sozialen Status und von sozialen Beziehungen variiert.

Johannes Siegrist und Morten Wahrendorf (beide Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Soziologie der Medizin) untersuchten in ihrem Beitrag "Social Productivity in Early Old Age" den Zusammenhang zwischen sozialer Identität in Form der Teilhabe an gesellschaftlichen Aktivitäten im höheren Lebensalter und dem Wohlbefinden anhand der oben bereits beschriebenen Studie zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Dabei wurde deutlich, dass nicht nur die Tatsache, sozial produktiv zu sein, das Wohlbefinden steigert, sondern auch die Qualität des Austauschs. Wenn "Geben" und "Nehmen" im gesellschaftlichen Engagement ausgeglichen sind, stellt sich die günstigste Wirkung ein. Die beiden sozialwissenschaftlichen Beiträge machten deutlich, dass Älterwerden in modernen Gesellschaften erhebliche Potentiale persönlichen und gesellschaftlichen Nutzens in sich birgt. Diese sichtbar zu machen ist eine wissenschaftliche sowie gesellschaftspolitische Aufgabe.

Repräsentationen des Alters

Peter Rusterholz (Bern) untersuchte in seinem Beitrag mit dem Titel "Liebe, Tod und Lebensalter. Wandlungen der Bilder und Texte von Jugend und Alter im Kontext der Wandlungen von Lebensformen und Schreibarten vom 17. zum 18. Jahrhundert" die unterschiedlichen Begriffe, mit denen der Lebenslauf von Alten und Jungen im Hinblick auf Liebe und Tod thematisiert wird. Lebenslaufkonzepte ordnen Jugend und Alter je verschiedene Bezüge zu Liebe und Tod zu. Während die konventionell normierten Diskurse der Populärkultur durch weitgehend konstant bleibende Repräsentationsformen geprägt sind, zeigen exemplarische literarische Texte der Frühen Neuzeit Wandlungen der Bilder der Liebe, des Todes und des Alters im Kontext des Wechsels von einer moraltheologisch begründeten zu einer naturrechtlich bestimmten Anthropologie an.

Anouk Janssen (Amsterdam) widmete ihre Untersuchungen ("The Good, the Bad and the Elderly. The Representations of Old Age in Netherlandish Prints from the 16th and 17th Century") der Frage, ob es stereotype Darstellungen von „guten“ und „bösen“ Alten gibt. Sie kam zu dem Ergebnis, dass kontextgebunden verschiedene Formen existieren, die auch unterschiedliche Facetten der Charaktere beleuchten: Negativ und positiv dargestellte alte Menschen können sowohl zur Kennzeichnung verschiedener Lebensstadien aufeinanderfolgen als auch zur Hervorhebung der jeweils anderen Charaktereigenschaft kontrastierend nebeneinander oder als das jeweilige Exemplumeinander gegenübergestellt werden.

Hiltrud Westermann-Angerhausen (Köln) ging in ihrem Vortrag mit dem Titel "Alt und hässlich oder schön und heilig? Fragen zum 'gefühlten' Alter von Heiligen" der Frage nach, welche Werte mit der Darstellung von jungen oder alten Heiligen verbunden sind. Dazu untersuchte sie, in welcher Zeit Heilige als alt dargestellt werden und ob dies mit den Schriftquellen korreliert, und wann ihnen entgegen aller theologischen Aussagen in bildlichen Darstellungen eine zeitlose Schönheit zugesprochen wurde.

Stefanie Knöll (Düsseldorf) untersuchte in ihrem Beitrag ("Vor einer alten Frau hat sogar der Teufel Angst! – Zum Motiv der zänkischen Alten in der Kunst") den Typus der "hässlichen Alten" in Form einer "zänkischen Alten", der eine Variation von Alter darstellt, für deren Entstehung es bislang in der Forschung keinen Erklärungsansatz gab. Durch den Vergleich dieses Motivs mit der zeitgenössischen Literatur konnte sie erstmals eine Interpretation vorlegen, die die Beziehung zwischen dem Prototyp einer alten zänkischen Frau und einem Satyr als diejenige zwischen einer alten Frau und einem Teufel erhellt und das Motiv damit in einen völlig anderen Kontext stellt.

Jean-Claude Schmitt (Paris) analysierte unter dem Titel "Die Lebensrhythmen in den bildlichen Darstellungen spätmittelalterlicher Autobiografien" die Beziehung zwischen dem Alter als einer angenommenen Gegebenheit und dem Altern als einer dynamischen Realität. Nach einem weitgespannten Überblick mit Beispielen aus der mittelalterlichen Geschichte und Philosophie exemplifiziert er den Prozess des Alterns anhand der Darstellungen des Geburtstages in historischer Überlieferung sowie ausführlich am Beispiel des Trachtenbuches von Matthäus Schwarz aus dem 16. Jahrhundert, einer der frühesten Manifestationen des Bewusstseins vom Ablauf der eigenen Lebenszeit.

Diskursgeschichte des Alters

Gerd Göckenjan (Kassel) stellte in seinem Vortrag über "Alter als Rollenzuschreibung – vom Greis zum Rentner" mit einem kurzen Überblick über die zentralen Diskursstrategien der Altersthematisierung den Altersdiskurs als Ordnungsdiskurs vor. Von diesem unterscheidet sich die Altersthematisierung seit der Großen Rentenreform von 1957 fundamental, da diese traditionellen Muster obsolet wurden. Alter wurde von diesem Zeitpunkt an nicht nur zu einer neuen Lebensphase; vielmehr war das Altersbild des Rentners gleichzeitig auch durch die "Rolle der Rollenlosigkeit" gekennzeichnet. Diese Leerstelle wird nun im Altersdiskurs zu füllen versucht. Damit hat sich dieser nach der Einschätzung von Gerd Göckenjan in der Gegenwart vom Ordnungs- zum Klienteldiskurs gewandelt.

Giovanna Pinna (Campobasso) versuchte in ihrem Vortrag über "Die Metaphorik des Alters in den philosophischen und literarischen Naturauffassungen um 1800" zu zeigen, dass der Wandel der Wahrnehmung und der Repräsentation des Alters in der deutschen Philosophie und Literatur um 1800 nicht nur mit den Veränderungen der Gesellschaft, der Enttraditionalisierung und der funktionalen Differenzierung zu tun hat, sondern auch mit einem ideologischen Wandel des Naturbegriffs in der romantischen Philosophie. Mit dem Wechsel von einer mechanistischen zu einer organisch-vitalistischen Naturauffassung bei Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling geht eine Veränderung in der Konzeption des Alters einher – sowohl was die literarische Metaphorik des Alters angeht als auch die wissenschaftlichen Diskurse. Medizin, Biologie und Psychologie anstellt der „Physik“ werden die Leitwissenschaften, die sich mit dem Alter beschäftigen. In diesem Zusammenhang wird die Idee des Alters fundamental verändert.

Hans-Georg Pott (Düsseldorf) untersuchte "Alter" als kulturelle Konstruktion, also als Gegenstand von unterschiedlichen "Medien" und "Diskursen" ("Alter als kulturelle Konstruktion. Diskursanalytische Beobachtungen"). Er beobachtet die Wissensformen der Konstruktion von Alterskulturen. Dazu wurden der dritte und der fünfte Altenbericht der Bundesregierung, die Gerontologie, ein Altersbrief Petrarcas, Simone de Beauvoirs Altersbuch und eine gegenwärtige "Philosophie des Alters" analysiert und kommentiert.

Der Beitrag von Monika Gomille (Düsseldorf) über "Das Gedächtnis alter Frauen – kulturvergleichend" zeigte Alter als vieldeutige, mit unterschiedlichen Semantiken auffüllbare Kategorie. Anhand afrokaribischer und -amerikanischer Literatur illustrierte ihr Vortrag die Bedeutung von Bildern weiblichen Alters als transkulturelle, Gedächtnis verkörpernde Fiktionen. Erzählte Erinnerungen sind in diesem Zusammenhang für die kulturelle Konstruktion von Diasporagemeinden zentral.

Miriam Seidler (Düsseldorf) verglich in ihrem Vortrag mit dem Titel "'Erst wenn die Eltern tot sind, beginnen die Kinder zu sterben.' Auseinandersetzung mit dem Altern der Eltern in der Gegenwartsliteratur" Narrationstechniken in Printmedien und Literatur am Beispiel der Darstellung pflegebedürftiger alter Menschen. Sie zeigte, dass beide Medien zwar mit ähnlichen ästhetischen Mitteln arbeiten, dass die Alterskonstruktionen der Literatur aber dennoch wesentlich realistischer und differenzierter sind, da die Literatur dieLebensphase Alter in der Regel nicht losgelöst von den vorhergehenden Erfahrungen und Beziehungen betrachtet.

Alter in der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte

Pat Thane (London) untersuchte in ihrem Beitrag "The Long History of Old Age in England" die historische Dimension des Umgangs mit alten Menschen und den sich ständig wandelnden Bildern des Alters in Nordeuropa mit einem speziellen Fokus auf Großbritannien. Den Bilderbegriff fasste sie dabei weit, indem sie die Bilder des alten Menschen in seiner alltäglichen Umgebung sowohl auf der Basis von Textdokumenten als auch von Bilddarstellungen analysierte.

Simone Moses (Stuttgart) stellte in ihrem Vortrag "Alt und krank. Ältere Patienten in der Medizinischen Klinik der Universität Tübingen zur Zeit der Entstehung der Geriatrie 1880 bis 1914" den "alten Menschen" um 1900 im Krankenhaus vor. Auf der Basis von Patientenakten der Medizinischen Klinik in Tübingen zeichnete sie ein Bild vom Gesundheitszustand der älteren Patienten, von der gesellschaftlichen Stellung kranker Menschen im Alter und der medizinischen Behandlung und psychologischen Betreuung der älteren Patienten in Tübingen.

Heiner Fangerau und Jörg Vögele (beide Düsseldorf) untersuchten in ihrem Beitrag ("Alternde Zellen und demografischer Wandel") die Verbindung zwischen biologischen und gesellschaftswissenschaftlichen Alterstheorien, wie sie sich umdie Jahrhundertwende vom19. zum 20. Jahrhundert darstellten. Dabei beschrieben sie sowohl die derzeit gängigen Alterstheorien als auch das bevölkerungswissenschaftliche Konzept des demografischen Wandels im Hinblick auf ihre Wirkung bis in die heutige Zeit.

Die Untersuchung von Anja Schonlau (Düsseldorf) mit dem Titel "Werk und Stil des alten Künstlers. Altersbegrifflichkeit um 1900" setzte sich mit der akademischen Etablierung der Altersterminologie in den Geisteswissenschaften um 1900 auseinander. Dieser Prozess ist im Kontext einer inhaltlichen Aufwertung von Spätwerken zu sehen, die mit einer Idealisierung letzter Potenzen des alten Künstlers (Tizian) einhergeht. Er ist begrifflich eng mit der Reaktion der frühen Germanistik auf Goethes Spätwerk verknüpft und wird nach 1900 von der Kunstwissenschaft fortgeführt.

Thomas Küpper (Frankfurt) führte den Zuhörern in seinem Beitrag "Das Alter macht Epoche. Literarische Semantik um 1800" vor Augen, welche Schwierigkeiten sich ergeben können, wenn wissenschaftliche Ansätze literarische Strömungen anhand von Alterskategorien wie "Jugend", "Reife", "Generation" usw. beschreiben: Mit solchen Formeln übernimmt die Wissenschaft geradezu Versatzstücke, die etwa der Literatur um 1800 ihrerseits zur Selbstdarstellung dienten. Wenn literarische Bewegungen sich ausdrücklich als Jugend- oder Altersbewegungen ausgeben und die Forschung sie mit den gleichen Etiketten versieht, dann fehlt es dieser an Distanz zu ihrem Objekt. Um die literarische Alterssemantik nicht zu kopieren, sondern zu analysieren, ist nach ihrer Funktion für das Literatursystem zu fragen.Als theoretische Grundlage seiner Analyse zieht Küpper Luhmanns Theorie sozialer Systeme und ihrer Evolution heran. Seine Beispiele sind Gottscheds "Critische Dichtkunst", der "Sturm und Drang", Goethes Gestalt des erwachsenen und reifen Dichters und Immermanns Epigonenroman.

 

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Publikation:
Heiner Fangerau, Monika Gomille, Henriette Herwig, Christoph auf der Horst, Andrea von Hülsen-Esch, Hans-Georg Pott, Johannes Siegrist u. Jörg Vögele (Hg.): Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s, Berlin 2007