Edith Stein und Hedwig Conrad-Martius
Die Philosophinnen lernten sich 1920 kennen. Seither verband beide Frauen eine intensive Freundschaft, die bis zum gewaltsamen Tod der einen anhielt und durch ein herzliches Verhältnis genauso wie durch einen fruchtbaren wissenschaftlichen Austausch gekennzeichnet war. Edith Stein verbrachte insgesamt mehrere Monate auf der Obstplantage in Bergzabern. Hier soll ihr durch Zufall das Buch der Heiligen Teresa von Ávila in die Hände gefallen sein, das einen tiefen Eindruck bei ihr hinterließ. Tatsächlich prägte es nachhaltig ihren religiösen Weg, auf dem Hedwig Conrad-Martius sie begleitete, als sie im Januar 1922 - trotz protestantischer Zugehörigkeit - die Taufpatenschaft für ihre Kollegin übernahm. Zeugen dieser freundschaftlichen Verbindung sind zahlreiche Briefe aus den Jahren 1932-39, die Conrad-Martius 1960 veröffentlichte.
Schon früh grenzte
sich Conrad-Martius von der - ihrem Verständnis nach - idealistischen
bzw. transzendentalen Richtung Edmund Husserls ab. Sie betrachtete diese
nämlich lediglich als einen Teilaspekt der Phänomenologie, welche
einer Ergänzung durch realistische bzw. ontologische Forschung bedürfe.
Nach Conrad-Martius soll das wirkliche Sein nicht solipsistisch, d.h.
ausschließlich vom Bewußtsein des Subjekts her bestimmt, sondern
in seiner hypothetischen Existenz als real angenommen werden. Das Bewußtsein,
das man in der Moderne als oberste Autorität anerkennt, wird so in
seinem Machtanspruch relativiert. Auch Edith Stein fühlte sich eher
der realistischen Seitenlinie verpflichtet, auch wenn sie die idealistische
Tendenz ihres Lehrers differenzierter als die Kollegin betrachtete. Für
sie blieb der Faktor des Subjektivismus zudem von tragender Bedeutung.
Laut Hans Rainer Sepp liegt das Verdienst Edith Steins gerade in der -
von Conrad-Martius geforderten - Synthese von transzendentaler und ontologischer
Phänomenologie.
Zentral für die Wissenschaftlerinnen war die Frage nach dem menschlichen
Sein, das Conrad-Martius jedoch in den Kontext der Natur einbezog, während
die Gefährtin bereits in ihrer Dissertation über die "Einfühlung"
den zwischenmenschlichen Aspekt verfolgte. Eine weitere Analogie findet
sich in der Affinität zum Spirituellen und in der Analyse transzendentaler
Phänomene. Beide Frauen charakterisiert dabei eine Einbindung von
antik-mittelalterlichem Denken, um einer 'Diktatur des Logos' im 20. Jahrhundert
entgegenzuwirken. So versuchte Edith Stein, eine Versöhnung von Glaube
und Vernunft einzuleiten, während Conrad-Martius sich hingegen, laut
Angela Ales Bello, bemühte, ein "organische[s] Verständnis
der Natur" neu zu etablieren. Diese scheinbar von der Moderne abgewandten,
metaphysischen Positionen blieben nicht unumstritten und fanden - etwa
in Martin Heidegger - einen vehementen Kritiker.
Edith Steins Briefe dokumentieren den regen Dialog zwischen den kongenialen Denkerinnen, der das jeweilige eigene Schaffen bereicherte. So beeinflußte beispielsweise Conrad-Martius' "Realontologie" nicht unwesentlich die Überarbeitung der Seinsstufen in Edith Steins "Endliches und ewiges Sein". Beide ehrten - neben der menschlichen Wertschätzung - die geistigen Leistungen der Freundin und Kollegin. Dennoch zeichnet sich sowohl Hedwig Conrad-Martius' wie auch Edith Steins Werk durch einen eigenständigen thematischen Weg wie auch durch intellektuelle Originalität aus.
Hedwig Conrad-Martius Vortrag über Edith Stein
(vor der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit)
Es ist keine leichte Aufgabe, über Edith Stein zu sprechen. Zunächst weil es im letzten Grunde überhaupt unmöglich ist, über einen so gut wie ausschließlich religiös bestimmten Menschen zulängliche Aussagen zu machen. Das innere Leben eines solchen Menschen liegt im Geheimnis Gottes. Sodann war Edith Stein, die spätere Sr. Theresia Benedicta a cruce, eine außergewöhnlich verschlossene, in sich versiegelte Natur. Secretum meum mihi, mein ist das Geheimnis, dieses Wort, das sie einst zu mir sprach, steht mit Recht in allen ihren Biographien.
In einem speziellen Sinne aber ist es für mich schwer, öffentlich über sie zu sprechen, weil ich ihr nahestand, weil sie meine Freundin war. Gerade diese Bemerkung könnte allerdings mißverstanden werden. Selbstverständlich ist es nicht leicht, über einen geliebten Menschen zu reden, der nach Jahren tiefsten Leides eines so entsetzlichen gewaltsamen Todes gestorben ist! Eines Todes, der nahezu ein ganzes Volk mit verbrecherischer Geste einfach dem Nichts überantwortete. Auf diejenigen, die Edith von früher her kannten, wirkte die Photographie, die unmittelbar vor ihrer Flucht aus dem Kölner Karmel in den Holländer Karmel Echt aufgenommen wurde, so fremd, daß wir das Bild fast nicht ansehen konnten. Ihr einfaches, unschuldiges, fast immer fröhliches und liebliches Wesen war durch Leiden ganz entstellt.
Die Art und Weise, in der wir zueinander standen, war etwas ganz anderes als eine gewöhnliche Freundschaft. Da war zunächst die Gemeinsamkeit der philosophischen Atmosphäre, aus der wir mit vielen anderen herausgeboren waren. Wir, die wir persönlichste Schüler unseres hochverehrten Lehrers und Meisters Edmund Husserl gewesen sind. "Geistig herausgeboren"! Hiermit möchte ich ausdrücken, daß es nicht bloß um eine gemeinsame Art methodischen Denkens und Forschens ging, erst recht nicht um eine gemeinsame Weltanschauung oder dergleichen. Die allerdings tief gemeinsame Art des Denkens und Forschens stellte - und stellt - einen Bezug zwischen den Husserlschülern her, den ich nicht anders bezeichnen kann denn als eine [natürliche] Geburt aus einem gemeinsamen Geist, der doch gerade keine inhaltlich gemeinsame Weltanschauung ist. Nicht besser als mit einigen Worten von Peter Wust könnte das Wesen der Gemeinsamkeit aller wahren Phänomenologen beschrieben werden. "Von Anfang an muß wohl", sagte er, "in der Intention jener neuen philosophischen Richtung etwas ganz Geheimnisvolles verborgen gewesen sein, eine Sehnsucht zurück zum Objektiven, zur Heiligkeit des Seins, der Reinheit und Keuschheit der Dinge, der 'Sachen selbst'. (...)"
(...)
Das war die Grundlage von unser aller Verbindung, die durch mehrere Göttinger
Generationen ging. Wir besaßen keine Fachsprache, kein gemeinsames
System, das am allerwenigsten. Es war nur der geöffnete Blick für
die geistige Erreichbarkeit des Seins in allen seinen nur denkbar möglichen
Gestaltungen [sofern ihr bloßes Wesen in Betracht kommt], was uns
einte. Und die ungeheuren Perspektiven, die sich hieraus für die
Grundlagenforschung [die Grundlagenforschung der Grundlagenforschungen!]
aller nur denkbaren Wissenschaften ergaben. Es war das Ethos der sachlichen
Reinheit und Reinlichkeit [Wust sagte "Keuschheit"]. Das mußte
natürlich auf Gesinnung, Charakter und Lebensweise abfärben.
So war es völlig selbstverständlich, daß wir untereinander
befreundet waren, welcher Herkunft, Rasse, Konfession wir auch immer angehören
mochten. Edith Stein war geborene Phänomenologin. Ihr nüchterner,
klarer, objektiver Geist, ihr unverstellter Blick, ihre absolute Sachlichkeit
prädestinierte sie dazu.
Sie kam nach Göttingen, als ich - promoviert und verheiratet - Göttingen
gerade verlassen hatte. Wir haben uns in Göttingen gar nicht kennengelernt.
Aber es war wiederum selbstverständlich, daß sie uns, wie viele
andere Phänomenologen, oft wochenlang dort besuchte, wo wir ansässig
geworden waren. Ihre Freunde waren unsere Freunde. Unsere Freunde waren
ihre Freunde. Wir hatten, wie gesagt, keine Fachsprache, aber wir sprachen
die gleiche geistige Sprache.
(...)
In der Klausur des Kölner Karmel schrieb Edith Stein ihr Werk "Vom endlichen und ewigen Sein". Die Klarheit, die Blickschärfe, die Sachlichkeit und vorurteilslose Kühnheit ihrer Ausführungen sind höchst eindrucksvoll. Ja, auch die vorurteilslose Kühnheit. Sie kritisierte den heiligen Thomas, wenn es ihr nötig erschien. Es ist selbstverständlich, daß ihr als Karmelitin das Material zum größten Teil aus dem speziell katholischen Offenbarungs- und Glaubensgut zugeflossen ist. Aber ich glaube, es ist nicht richtig, zu sagen, daß das Ganze eine Synthese zwischen Thomas und Husserl sei. Wenigstens nicht in dem Sinne, als ob die einzelnen Ausführungen mit der Absicht auf eine solche Synthese hin geschrieben seien. Überall steht die Sache selbst, um die es ihr thematisch gerade geht, im Vordergrunde. Immer ist es, wie Wust so schön sagt, ein Maßnehmen an den maßgebenden Dingen. Und unter diesem Maßnehmen an den Dingen wächst ihr die Möglichkeit zu, nicht nur Thomas, sondern viele antike und mittelalterliche Philosophen mit neuesten philosophischen Konzeptionen, besonders denen Husserls und seiner Schüler, zu einem meisterlichen Maßwerk zu vereinigen.
In: Edith Stein: Briefe an Hedwig Conrad-Martius. Mit einem Essay über Edith Stein, hrsg. von Hedwig Conrad-Martius, München: Kösel, 1960
Sekundärliteratur zu Hedwig Conrad-Martius
Avé-Lallemant, Eberhard: Hedwig Conrad-Martius (1888-1966) - Bibliographie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 31:2, 1977, S. 301
Falk, Georg: Hedwig Conrad-Martius. In: Zeitschrift des Vereins Historisches Museum der Pfalz (Historischer Verein der Pfalz), des Pfälzischen Vereins für Naturkunde Pollichia [u.a.]. - Kaiserslautern, J. 37, 1986, S. 87-89
Festschrift für Hedwig Conrad-Martius. Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft. Hrsg. von A. Wenzel [u.a.], Freiburg-München: Karl Alber, 1958
Gottschalk, Rudolph: Hedwig Conrad-Martius: Abstammungslehre (Book Review). In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3:3, 1954, S. 732
Hader, Alois: Hedwig Conrad-Martius: Schriften zur Philosophie Bd. I u. II (Book Review). In: Philosophisches Jahrbuch 73:2, 1966, S. 403
Hering, Jean: Das Problem des Seins bei Hedwig Conrad-Martius. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 13, 1959, S. 463
Prufer, Thomas: Hedwig Conrad-Martius, Die Geistseele des Menschen. In: Philosophische Rundschau 11, 1963, S. 149