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Benzinersatz-Krebs

In den Hydrieranlagen von Leuna, Oppau, in der Versuchsfabrik Oberhausen-Holten, bei der Ruhrchemie und bei der Brabag werden die Arbeiter von einem schrecklichen Hautkrebs heimgesucht. Sie nennen ihn den »Benzinersatz-Krebs«. Das ist Galgenhumor im ursprünglichsten Sinne des Wortes, denn jene, die das Zerstörungswerk auf ihrer Haut verspüren, kennen ihr Todesurteil.
So beängstigend ist das Auftreten dieses neuartigen Krebses unter den Arbeitern, die künstliches Benzin herstellen, daß sie sogar die Wissenschaft zum Aufmerken zwingt.
Professor Baier, einer der bedeutendsten Krebsforscher unserer Zeit, hatte sich zur besonderen Aufgabe gestellt, die Wirkungen des Kohlenwasserstoffes, dieses Grundelementes des künstlichen Benzins, des Ersatzgummis, der Giftgase, der synthetischen Farben, des künstlichen Heizöls, auf den lebenden Organismus zu studieren. Er erhielt von dem höchsten Herrn des Vierjahresplanes, vom General Göring, die spezielle Erlaubnis, Ratten und Mäuse für Versuchszwecke mit den Kohlenwasserstoffen einzuimpfen. Als man die Arbeiter einstellte, damit sie mit neuen Arten von Kohlenwasserstoffen arbeiteten, brauchten die IG-Farben natürlich keine besondere Erlaubnis einzuholen. Man hielt es auch nicht für notwendig, an ihnen die Wirkungen der neuen Stoffe zu beobachten. Sie wurden erst ärztlich untersucht, als sich das Gift schon tödlich in ihrem Körper eingenistet hatte.
In der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie berichtete Professor Baier über die Ergebnisse dieser ärztlichen Untersuchung und Forschungsarbeiten. 140 Arten von Kohlenwasserstoffen wurden von ihm untersucht. Mit 140 Arten von Kohlenwasserstoffen wurden die Ratten und weißen Mäuse eingeimpft. Dann wartete man auf das Ergebnis. Man brauchte nicht lange zu warten. 25 Kohlenwasserstoffarten brachten sofort, mit nie erfahrener Schnelligkeit, die Gewebe zur Entartung. Das waren die Kohlenwasserstoffe, die den Stolz der Chemie von heute bildeten. Die helfen sollten, Deutschlands Autarkie durchzuführen. Die zu den Grundpfeilern aller deutschen Kriegsvorbereitungen gehörten. Diese Kohlenwasserstoffe waren jene, aus denen man das hochwertigste künstliche Benzin gewann. Alle enthielten, ohne Ausnahme, Benzpyren.
Professor Baier, der große Gelehrte, teilte diese Tatsachen mit, hütete sich aber wohl, aus ihnen irgendwelche praktische Schlüsse zu ziehen. Er sagte nicht: Da sämtliche Versuchstiere, die mit Benzpyren in Berührung kommen, qualvoll zugrunde gehen, dürfen solange keine Arbeiter diesem schädlichen Stoff ausgesetzt werden, bis nicht Maßnahmen gegen ihre unheilvolle Wirkung gefunden wurden. - Das wäre glatter Verrat an den Kriegsvorbereitungsplänen gewesen und an den Lebensinteressen einer der wichtigsten Industrien des gegenwärtigen Deutschland.
Immerhin aber war die Perspektive, die Professor Baier der wissenschaftlichen Welt gab, nicht ohne Trost. Er führte folgendes aus:
Die Röntgenstrahlen, die anfangs bei den Ärzten, die mit ihnen experimentierten, Krebs hervorriefen, erwiesen sich später als wichtigstes Heilmittel gegen den Krebs. Ähnlich würde es vielleicht mit dem Benzpyren ergeben, dessen Wirkungen noch viel unheilvoller sind, als die der Röntgenstrahlen je waren. Aber natürlich erforderten die Versuche sehr viel Zeit und sehr bedeutende Mittel.
Das Geld braucht man für Wichtigeres. Für die Beschleunigung der Aufrüstung, für den Ausbau der Fabriken, die die für jede Kriegführung unbedingt erforderlichen künstlichen Rohstoffe herstellen sollen. Dieser Aufgabe muß alles andere untergeordnet werden. Wäre es nicht auch lächerliche Sentimentalität, das Hauptwerk, dessen höchster Zweck ist, Millionen zu töten, aufzuschieben, um einige Tausend zu retten, die Tausende, die in den Fabriken, die das beste künstliche Benzin herstellen, arbeiten. Von den Millionen Krebskranken, die bis jetzt vergeblich auf Heilung warten, gar nicht zu reden.*

1936

* Der Text wurde dem Band entnommen: Maria Leitner: Elisabeth, ein Hitlermädchen. Erzählende Prosa, Reportagen und Berichte. Berlin und Weimar, Aufbau-Verlag 1985

 

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