Gerda Kaltwasser: Die Friedrichstraße


Kopfsteinpflaster, in der Mitte zwei Stränge Straßenbahnschienen, in jedem Haus im Parterre ein kleiner Laden - Metzgerei, Bäckerei, Obst und Gemüse, aber auch Bücher und sogar Schmuck - in den Obergeschossen Wohnungen ohne Bad, die Klos im Treppenhaus; auch mal ein Photoatelier, eine Uhrmacherwerkstatt, ein Herrenschneider, eine Näherin, die auf Wunsch zum Nähen und Flicken in die Wohnung kommt. In den Treppenhäusern riecht es nach Kohl, Pellkartoffeln, auch mal nach Reibekuchen, selten nach Braten oder Rouladen. Das ist meine Friedrichstraße in Düsseldorf zwischen 1930 und 1945, südlich vom Graf-Adolf-Platz, der damals Adolf-Hitler-Platz hieß, Bindeglied zwischen dem alten Bilk und dem jungen Stadtzentrum mit der Königsallee. Kleine Leute wohnten hier bis zum Pfingstangriff im Juni 1943, auch arme Leute. Zum Beispiel in dem großen Haus mit der Nummer 23, das einen Innenhof hatte, der von drei Seiten mit Hinterhäusern umgeben war, mit grüngestrichenen hölzernen Falltüren im Hof, unter denen ausgetretene Steinstufen in Waschküchen und Abstellräume führten. Im Vorderhaus waren zwei Geschäfte, eines für Miederwaren, das andere für "Feinkost", darüber die etwas teureren Wohnungen. Hinten wohnten die armen Schlucker, die kinderreichen Arbeiter, bei denen manchmal nachts Möbel und Porzellan aus dem Fenster flogen, wenn der Vater den Wochenlohn versoffen hatte. Kommunisten sollten da auch wohnen. Das war in dieser Straße schlimmer als fliegende Untertassen.Die flogen auch bei uns hin und wieder aus dem Fenster im Hinterhaus von Nummer 43, wo mein Vater, der Metzgermeister Michael Kaltwasser, seit 1927 eine völlig heruntergewirtschaftete Metzgerei wieder zu Ansehen und Kundschaft bringen wollte. Sein Meister hatte ihm ein Darlehn gegeben. Irgendwann 1946 habe ich ihm die letzte Rate gebracht. Dort im Haus Nummer 43 ließ ein Barmusiker nach besonders großzügigen Gästen - Motto: "Geh'm se dem Mann am Klavier mal ein Bier" - das Porzellan sausen. 
Ein Barpianist in dieser Gegend? Nicht nur einer. Klamotten-Schauspieler wie Hilde und Fritz Servos wurden als Freunde begrüßt, Operettenstars wie Trude Adam oder Rudolf Rudolphi, die im Kleinen Haus, dem städtischen Operettentheater gegenüber dem Apollo, auftraten, wurden angehimmelt, Artisten, Conferenciers, Humoristen wie Karl Napp, die im Apollo oder auf Adlers Bunter Bühne auftraten, gehörten zur besser zahlenden Steak- und Schinken-Kundschaft.
Gegenüber an der Friedrichstraße war der Kristallpalast. Besuch des Kinderkarnevals vom fünften Lebensjahr an war Ehrensache; erst recht, als Besitzer Ederer Prinz Karneval geworden war. Zwischen Friedrichstraße und Hauptbahnhof war bis zum Kriegsende und noch etwas länger und trotz sich wie Meereswogen auftürmender Trümmerberge das Düsseldorfer Vergnügungsviertel, ein Paradies mit legendären Nachtlokalen wie dem Rauchfang im Apollo, dem Café Korso und der Grotte, mit Kinos wie Residenz und Asta Nielsen, mit Schwof und Rumtata im Oberbayern und dem sanften Übergang zum Rotlichtviertel an der Bandelstraße, das wir Nachtjackenviertel nannten.Das war östlich von der Friedrichstraße. Westlich war auch ein Paradies: das Ständehaus mit dem Vater-Rhein-Brunnen, mit Park, Kaiserteich und Schwanenspiegel, der Schwanenmarkt und der Spee'sche Graben oder, an der Bilker Allee, unter Aufsicht der Großeltern erreichbar, der Floragarten. Und überall Spielplätze mit Schaukeln, Sandkästen und Rutschen. Aber das war nur für die Kleinen. Wir Größeren spielten in den Büschen, fochten blutige Bandenkriege mit den Jungens von der Villa Jück aus, eine alte Zigarrenkiste von Vati war mit Pflaster und Flickenresten gefüllt, Ersatz für Mullbinden, denn Rot-Kreuz-Einsatz war immer nötig.
Auch an jenem 10. November 1938, als die achtzigjährige Frau Cohn vom Haushaltswarengeschäft gegenüber aus einem Scherbenhaufen in unsere Metzgerei gewankt kam, Mutter ihr einen Stuhl und Wasser brachte, der Blockwart die Ladentür aufriß und brüllte: "Das werden Sie noch zu spüren kriegen!" Meine Mutter bekam es Jahre später zu spüren, als ihr, der schon schwer Behinderten, der Blockwart den Zutritt zum öffentlichen Luftschutzkeller in der Klebekiste, dem alten Bau der Landesversicherungsanstalt, verweigerte. "Korinthenkacker", sagte ich, versuchte, den Mann beiseite zu drücken. Wäre das Kriegsende nicht schon so nah gewesen, wir hätten das alle zu spüren bekommen. So aber verkrochen wir uns in der Waschküche unter unserem Trümmerhaufen - mein Vater hatte am Tag, bevor deutsche Soldaten die Oberkasseler Brücke sprengten, noch von seinem linksrheinischen Einsatz als Volkssturmsoldat desertieren können - und warteten darauf, daß die Amis endlich kämen. Während sechs Wochen Artillerie - und Tieffliegerbeschuß lernten wir alle, mit dem Sterben und dem Tod umzugehen. Als die Amis schließlich auf ihren Panzern durch die Friedrichstraße rollten, war das eine Befreiung, aber ohne politisches Pathos. Der Kampf ums Überleben ging weiter, nun ohne Artilleriefeuer, ohne Tieffliegerangriffe und Bombergedröhn. In der warmen Maisonne trockneten die im Waschkeller angeschimmelten Matratzen. Der Gelenkrheumatismus kam später. 
Auch der Hunger. Aber da brachte uns die Tochter eines jüdischen Nachbarn, einzige KZ-Überlebende unserer ganzen jüdischen Nachbarschaft von vor 1938, Matzenbrot. Fritz und Hilde Servos hatten sich aus Berlin durchgeschlagen und standen in den Trümmern unserer Metzgerei. Von den Klos im Treppenhaus war nur das im Parterre übriggeblieben. Ein löchriger Teppich ersetzte die Tür. Es war das einzige funktionierende Klo für drei Trümmerhäuser. Durch die Schlagersängerin Evelyn Künnecke erhielt es seinen Charme, durch den Komponisten Michael Jary, der dort Amizigaretten rauchte, seinen exklusiven Duft. Jary und die Künnecke gastierten im behelfsmäßig bespielbar gemachten Apollo und wohnten in den Trümmern neben uns bei Freunden. Meine Friedrichstraße hatte überlebt. Ihr Sterben kam viel, viel später.

(In: Straßenbilder. Düsseldorfer Schriftsteller über ihr Quartier, hrsg. von Alla Pfeffer. Düsseldorf 1998, S. 58ff.) 



Ein Düsseldorfer Portrait: Interview mit Gerade Kaltwasser


Frau Kaltwasser, Sie arbeiten seit 40 Jahren in Düsseldorf als Journalistin, mögen Sie diese Stadt überhaupt noch?

Eigentlich mag ich die Stadt erst seit 20 Jahren wirklich. Die 50er Jahre waren mir doch zu provinziell. Erst in den 60er Jahren, als mit aufregenden Aktivitäten an der Akademie, mit Kneipen als begehbaren Kunstwerken, mit der wachsenden Zahl von Studenten Leben in die Stadt kam, fing ich an, sie zu mögen.

Was fasziniert Sie an Düsseldorf?

Es ist diese bemerkenswerte Mischung aus Betulichkeit, Weltoffenheit und Arroganz, die man anderswo nicht oft antrifft. Da kann man sich aber auch oft ärgern, wenn die Betulichkeit Übergewicht bekommt. Die Weltoffenheit ist ganz zufriedenstellend. Es herrscht ein Klima der Bereitschaft, den Anderen anzuerkennen.

Was waren die interessantesten Themen, an denen Sie gearbeitet haben?

Das ist nach Jahrzehnten schwer zu sagen. Aber es waren in erster Linie die Probleme in der Logistik der Stadtbauer. 1962, als in nur einer Nacht der komplette Jan-Wellem-Platz umgebaut wurde, da war ich die ganze Nacht dabei, das hat mich schon sehr fasziniert. Auch der Brückenbau war immer wieder eine faszinierende Sache. Besonders natürlich der Verschub der Oberkasseler Brücke.

Was ärgerte Sie am meisten in Düsseldorf?

Von langer Zeit die Heimatvereine, aber das ist inzwischen vorbei. Heute ärgere ich mich häufig über die Stadtverwaltung.

Ist Düsseldorf Ihrer Meinung nach auf einem angemessenen kulturellen Stand?

Es ist auf jeden Fall besser als dargestellt. Doch es sollte einfach mehr für die Stärkung privater Initiativen getan werden.

(In: Düsseldorfer. 64 Portraits. Von Rüdiger Nehmzow und Christoph Elbern Verlag der Mayerschen Buchhandlung: Düsseldorf, 1991, S. 80)



Gerda Kaltwasser: Fast eine Bilkerin

"Du bist nicht aus Bilk, du bist aus der Friedrichstadt", sagte freundlich rügend der ältere Kollege, natürlich altverwurzelter Bilker, in den fünfziger Jahren zu mir. Er war so eine Art wandelndes Kataster der Stadt, nicht nur, was die Grenzziehung im ehemals zufriedenen Süden Düsseldorfs, also in und um Bilk, anging. Ich konnte damit nichts anfangen, für mich war die Friedrichstadt ein Stadtteil von Bilk, so wie Pempelfort ein Stadtteil von Derendorf war; pardon, denn Vater und Mutter waren Zugereiste, kurz vor und nach dem ersten Weltkrieg, typische Düsseldorfer eben.
Später lernte ich dann, dass Bilk ganz alt war, während die Friedrichstadt der Esel im Galopp verloren hatte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen den Bahnhöfen der Bergisch-Märkischen und der Köln-Mindener Eisenbahn. Die Friedrichstadt war das Bindeglied zwischen dem soliden alten Bilk und dem jungen, ein bisschen angeberischen Stadtzentrum, zwischen der legendären Villa Billico, über die der Gründer der Bilker Heimatfreunde, Hermann Smeets, ein Buch geschrieben hat, und der Königsallee, die gerade Namenstag feiert, weil sie seit 150 Jahren so heißt, wie sie heißt.
Kindheitserinnerungen an den alten Floragarten, in dem ich in meiner Fantasie Ritterspiele spielte, und an die Ständehausanlagen, wo wir mit der Bande "Villa Jück" ganz reale Kämpfe ausfochten, werden geschwärzt von den Rauchschwaden über den Trümmern nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkrieges. Sie werden überlagert von der Erinnerung an Straßenzüge, deren Fixpunkte Blindgänger waren, einer zum Beispiel hinter unserem Haus, ein anderer vor dem Dominikanerkloster an der Herzogstraße. Dann der Einzug amerikanischer Panzer von Bilk her. Dass nicht geschossen wurde, war Hermann Smeets mit zu verdanken, aber das wussten wir damals nicht. Wir schwenkten aus öden Fensterhöhlen ein etwas angeschimmeltes Bettuch als Friedenszeichen. Sechs Wochen hatten wir unter den Trümmern im feuchten Waschkeller gelebt, sechs Wochen Artilleriebeschuss und Tieffliegerangriffe. Vom Hauptbahnhof bis zur Lausward schien es nur Trümmerhalden zu geben.
Das Entdecken verschonter Häuser blieb lange ein tägliches Wunder. In den fünfziger Jahren gab es schon wieder Originale in Bilk zu bestaunen, die anderes taten als am Wirtschaftswunder zu basteln. Ein langer, dünner Herr mit flatterndem Regenmantel strebte allmorgendlich von seiner Wohnung, ich glaube an der Konkordiastraße, am Ständehaus vorbei in Richtung Kunstakademie, auch zum Opernhaus und zum neuen Schumann-Saal am Ehrenhof, um dort an seinen Fresken zu arbeiten. Es war der Maler Robert Pudlich. Ebenfalls vormittags, wenn die Ständehausanlagen menschenleer waren - die älteren Kinder saßen brav in der Schule, die Mütter mussten kochen, ehe sie mit den Kleinen und mit Strickzeug zum Spielplatz gingen - vormittags also lief ein jüngerer Mann, wild um sich blickend, eine Partitur in der Hand, durch die Anlagen und schmetterte "Nie sollst du mich befragen...!" Der spätere Wagnersänger Imdahl lernte seine Rolle im "Lohengrin".
Wer damals glaubte, aus den Trümmern würde eine heile Bilker Welt wieder erstehen, täuschte sich. Auch diese Welt änderte sich tiefgreifender als durch die Kriegsverwüstungen. Man denke nur den "Bilker Stadtteil" Friedrichstadt. Und die Veränderungen gehen weiter, im traditionellen Bilk und an seinen ebenso traditionsreichen Rändern. Dazu gehört Stoffeln. Zeitgleich mit Bilk wurde der Flecken mit dem Namen "auff den Stoffen" (auf den Stümpfen eines Sumpfwaldes) 1384 nach Düsseldorf eingemeindet. Drei Kilometer lang ist der 1573 entstandene Stoffeler Damm, der Stoffeler Friedhof einer der bekanntesten in Düsseldorf. Aber in amtlichen Schriftstücken taucht Stoffeln nicht mehr auf, sang- und klanglos scheint Stoffeln zwischen Bilk, Flehe und Wersten zu verschwinden. Aber da ist ja noch das den 14 Nothelfern gewidmete Stoffeler Kapellchen, das 1734 unter Kurfürst Karl Philipp geweiht wurde. Dahin pilgern auch die Bilker gern.

(In: Jubiläumsbuch zum 50jährigen Bestehen des Heimatvereins Bilker Heimatfreunde e.V., 2001, S. 99.)

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