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Land und Leute in Südamerika: Stromleben I

Leichterleine los! Achtung!

Das schwere Tau klatscht aufs Wasser; der Leichter legt los. Lichter schwanken und werfen zitternde gelbe Funkenstraßen auf die dunkle Flut. Die Fallreep geht hoch. Schon erscheint ein schmaler Wasserstreif zwischen dem steilen, hohen Bug des Überseeers und dem behäbig breiten Deck des Arbeitsfahrzeugs. Die Maschinen arbeiten; der Dampfer wendet und kommt in Fahrt. Die Lichter von Montevideo werden kleiner – fallen zurück – verschwinden.

Aber es geht nicht wieder in die Unendlichkeit des Atlantik hinaus, der das Fahrzeug so lange geschaukelt hat. Der Dampfer nimmt den Kurs auf den La Plata.

An Bord steht alles im Zeichen des Aufbruchs, des Packens, des Auseinandergehens; da ist ja schon der Rio! Reisebekanntschaften flauen ab – Aequatorlieben beginnen zu verblassen. In der ersten Klasse stehen die großen Kabinen-, Hut-, Schrank- und Gott weiß was für Koffer in allen Stadien der Entwicklung bis auf die Gänge: maulaufsperrend, halbgefüllt, reisefertig, von trinkgeldhoffnungsvollen Stewards und Stewardessen geschickt umkreist ...

„Kaptän, wann kommen wir nach Buenos Aires?“ „Dann schlafen Sie, Gnädigste. – Diese Nacht.“ „Was? Diese Nacht? Dann muß man ja morgen schrecklich früh aufstehen?“ „Nehmen Sie sich nur Zeit! So schnell kommen Sie gar nicht von Bord.“

Und der ‚Kaptän’ entschwindet in die oberen Regionen. Die kleine Frau sieht ihm ärgerlich nach; was hat er denn? Unterwegs hat sie doch immer so nett mit ihm geflirtet? – Ja, kleine Gnädige; das ist nicht mehr die „große Landstraße“ draußen auf See, wo die Kapitäne es gut haben. Hier ist schon der Strom.

Sie sieht sich nach dem Doktor um, der sonst immer da war. Der Mensch packt! Alles packt! Und schließlich geht sie selber auch „packen“, sehr zum Kummer ihrer Zofe, die allein in der Hälfte der Zeit fertig sein würde. Was soll man machen? Man ist ja schon im Rio ...

Bis herunter ins Zwischendeck zieht sich die große Kramerei: die Zeit der träumerischen Seeruhe – oder auch Langeweile – ist vorbei. Alles schüttelt, klopft, faltet und rollt seine Sachen, stopft sie in Säcke, Kisten und Taschen. Frauen bemühen sich um ihre armen Habseligkeiten, müde Kinder maulen dazwischen, Männer debattieren, tauschen Absichten, Pläne und Vermutungen aus; morgen wird man ja schon in Buenos Aires sein ... Und einige schlafen auf ihren fertigen Packen in all’ der Unruhe den Schlaf der Gerechten.

Eine Frau steht an der Reeling des Ladedecks und späht auf das dunkle Wasser unterm sternklaren Himmel. Sie sagt nichts und fragt nichts, längst eingeschüchtert durch all’ das lärmende Wesen um sie herum und all’ die fremden Sprachen. Sie starrt nur angestrengt auf die Horizontlinie, da wo Luft und Wasser sich berühren, gerade wie sie es all’ diese Wochen getan haben, gerade wie auf der See, auf diesem großen, wilden Meer, vor dem sie das Grauen nie ganz los geworden ist. Und es bleibt immer das Gleiche ... Nichts schiebt sich dazwischen, nicht das leiseste dunklere Streifchen, das ein Ufer sein könnte...

Sie beugt sich vor. Der Nachtwind weht ihr die hellen Stirnhärchen ins Gesicht. Aber nein. Nur Wasser, das den Himmel, nur Himmel, der das Wasser berührt. Ein Matrose kommt vorbei. Es ist ein Holländer, der deutsch kann, ein nordisches Deutsch, das ihr fremd klingt. Aber er ist immer freundlich zu ihr gewesen. Und er war schon oft hier. Nun sagt er im Vorübergehen: „Noch nich slafen?“ Da nimmt sie sich ein Herz und fragt: „Kommt nun wohl bald der Fluß?“ „Der Fluß? O, der Rio! Auf den Rio sünd wi schon lange auf –„ Und er geht ruhig und sachlich weiter, nicht wie einer, der schwindelt oder ein Späßchen macht.

Die Frau sieht ihm einen Augenblick nach. Die Deutschen sagten das ja auch, daß man schon auf dem Strome sei. Aber die waren selber noch nie hier gewesen. Sie hatte es ihnen so wenig geglaubt, als sie geglaubt hätte, was ihr Sohn geschrieben hatte, als er das Reisegeld schickte: daß es da in dem Lande Güter gäbe – er hatte geschrieben Estancia –, die mehr als zehntausend Stück Vieh hätten. Man denke: einen Stall für zehntausend Kühe –!

Und während sie wieder in diese dunkle Endlosigkeit von Luft und Wasser starrt, füllen sich plötzlich ihre Augen mit Thränen. Sie sieht plötzlich ein liebes und trauliches Bild: ein Fluß, wie sie ihn kennt, ein Fluß, der sein silbernes Band durch heitre Täler schlingt, eingehegt von sanftgeschwungenen Hügellinien; Dörfer, hingeschmiegt zwischen grüne Wälder, Obstgärten und hügelansteigende Felder. Steile, graue Giebeldächer, die sich an Berghänge lehnen, grünumkränzte Ruinen, die nachdenklich auf die flinken Wasserwellen niederschauen und die Wälder am jenseitigen Ufer grüßen.

O, Neckar! Liebes Neckartal, weit drüben in Deutschland! Das Bugwasser rauscht gleichmäßig. Die Nacht ist lau und mondhell. Ein andrer großer Passagierdampfer kommt ihnen entgegen, mit hellerleuchteten Fenstern an allen Decks. Aber man sieht kein Land. Nirgendwo. Was für ein Land! Lieber Gott! Sind denn die Ströme hier wie anderswo die Meere?

Der Nachtwind singt langsam das Schiff in Schlaf. Auch die Frau mit dem Heimweh nach dem Silberband des Neckar. Sie schläft ein mit der Erwartung: morgen, wenn es hell ist, wird die Sache schon anders aussehen. Ufer müssen die Ströme hier schließlich doch auch haben...

Und am andern Tage, endlich, sieht sie denn ein Ufer. Aber es ist nur eins. Das andere verbirgt sich nach wie vor hartnäckig hinter dieser unendlichen Linie von Luft und Wasser...

Leuchtende, lachende Sonne auf endlosen, leise ziehenden rotgelben Stromflächen. Darauf, in allen Farben leuchtend, bunte Fahrzeuge aller Arten und aller Größen: Dampfer, Segler, Schlepper, Motorboote – vom kleinsten Flußfahrzeug bis zum imposanten Überseer, unter den Flaggen aller Länder der Welt, eine wimmelnde Welt selber, so weit man sieht. Dicht daran anschließend die fast noch wimmelndere Welt der Kais, mit ihren Kranen, Lagerhäusern, Schuppen, Hallen. Eisenbahnzüge fauchen mit grellem Pfeifen durchs Getümmel, Lastfuhrwerke mit mächtigen Gäulen, deren blankes Fell mit ihrem blanken Messinggeschirr um die Wette in der Sonne blitzt, schaffen sich Bahn. Zollhallen, Zöllner, Arbeiter, Gepäckträger, Publikum, Riesenstapel von Gepäck, Wagen, Automobile, – dahinter die endlosen Silhouetten der riesigen quirlenden Stadt, die ihr Gesicht aufmerksam dem lebenspendenden Strome zukehrt. Und über allem dieser undefinierbare Hauch des Binnenhafens, so ausdrucksvoll verschieden vom charakteristischen Salzduft der See: der Geruch von warmem, träg fließendem Süßwasser, untermischt mit dem Geruch von Teer, Kohlenrauch, Benzin und Pferden...

Die Frau aus dem Neckartal, betäubt von dem Lärm dieser ungeheuren Unrast, von der Intensität dieses gewaltigen Lebens, blickt verwirrt noch einmal zurück auf die unabsehbare Fläche dieses ungeheuren Stroms. Ganz, ganz hinten am Horizont – sind das nicht doch Türme –?! Aber die Türme haben Rauchfahnen. Es sind noch immer Schiffe. Und nun fängt sie an zu glauben, daß ihr Sohn vielleicht doch nicht geflunkert hat. Daß in einem Lande, wo es solche Ströme giebt, die Leute vielleicht auch zehntausend Kühe auf einmal haben können...

(In: Sonntags-Zeitung. Illustriertes Argentinisches Unterhaltungsblatt. XI. Jg., Heft 1/2, November 1920)

Land und Leute in Südamerika: Stromleben II

Unglaublich seicht läuft der riesige Strom auf seine roten Toska-Ufer, da, wo zwischen dem rastlosen Lärm des Hafenlebens und dem fröhlichen Wassersport des Deltas die lange Zeile der grünen Gärten und hellen Landhäuser sich hinzieht. Vielleicht guckt man eines Abends andächtig auf diese mächtige rotgelbe Fläche, und ganz weit draussen regt sich etwas. Was mag es sein, so weit im Strom. – Aber es ist nur ein ganz kleiner Junge, der badet, und dem selbst da draussen das Wasser kaum die Schultern netzt...

Zuweilen freilich gebärdet der Strom sich auch als Ungeheuer und rollt Wellen, so lang und schaumgekrönt wie die See weit auf die zernagten grünen Ufer und man könnte Angst bekommen vor dem Zorn des Riesen, vor der ungeheuren wuchtigen Masse, die sich so rasend schnell heran wälzt. Aber – vielleicht schon am nächsten Tag – lacht er über sich selber und zieht grinsend die Lippen zurück, so dass man die nackte, braunrote Toska weit hinaus bloss liegen sieht, nur durchrieselt von dünnen Wasserinseln, und Autos oder Wagen von sonntäglichem Ausflüglern fahren zum Spass einmal da, wo sonst der flinke Fisch schwimmt.

Dass bei solchen Umständen die Stromfischerei hier, an diesem Ufer, kaum noch eine Verwandte der gefahrvollen, mühseligen und schweren Seefischerei ist, leuchtet ein. Diese Stromfischer gleichen wenig den wetterzerrissenen, rauen Wasserwölfen der Atlantikküste, und von ihren Fahrzeugen wird schwerlich gemeldet, dass sie nicht heimgekehrt seien...

Denn diese Fahrzeuge haben vier Beine, Kopf und Schwanz sind viel zu vernünftig, lebensgefährlich weit in das Element ohne Balken hinein zu gehen. Zwischen Olivos und San Isidro gibt es besonders flache Stellen, wo man diese vierbeinigen Boote an der Arbeit sehen kann, wenn der Strom normal, d. h. weder allzu hoch noch allzu niedrig steht.

An solchen Tagen rückt früh die Kolonne an. Sie bringt, über Land, die Hauptsache mit: Das richtige Netz und zwei wackere Gäule. Des weiteren kommen eine Anzahl Männer und Buben mit großen Körben, um den Fang zu bergen.

Zwei Reiter besteigen die beiden Gäule und die Tiere platschen friedfertig in die laue rotgelbe Flut hinein-platsch-platsch-gradeaus in die flimmernde leuchtende Sonnenglut. Hinter sich ziehen sie das schwere Netz. Es dauert lange, bis das Wasser dem Schimmel und dem Braunen auch nur bis an die Weichen geht und die großen Tiere erscheinen nur noch wie kleine Flecke, wenn sie es endlich bis zum Sattel und zum Halse haben. Dann sieht man die friedfertigen Reiter plötzlich wie die feindlichen Brüder von sich weichen, in entgegen gesetzter Richtung, so weit das zwischen ihnen sich ausspannende Netz es erlaubt. Dann kommt eine neue Wendung. Es geht wieder zurück, auf eine besonders flache Stelle am Ufer zu, wo ein paar hängende Weiden Schatten spenden.

Hier im Weidenschatten, auf dem grünen Rasen liegen hübsch im Trocknen die Fischer und warten der Dinge, die da kommen sollen, d. h. der Fische, die der liebe Gott (denken die Fischer) oder der Teufel (denken die Fische) just in das Bereich des Netzes schickte, das da gemächlich heranrückt. – Der Braune und der Schimmel beeilen sich nicht. Erstens liegt es nicht in ihrer Natur. Zweitens geht es sich mühsam im Wasser. Drittens ist das Netz schwer. Viertens ist es überhaupt ein Unfug sich so abzuhetzen. Die Sonne funkelt auf dem Wasser und dem feuchten Uferrasen. Die Frische des Morgens ist köstlich. Die wartenden Männer und Buben haben alle Zeit, sich zu rekeln, zu necken, auf dem Rasen zu rollen.

Drüben auf der anderen Seite eines kleinen Wassergrabens, hat sich ein Häuflein Wäscherinnen angesiedelt. Eben breiten sie die gesäuberten Linnen auf dem Rasen aus, da kommt eine Rinderfamilie daher getrottet: Vater Stier, ein paar behäbige Kuhmamas und ein paar Jungtiere. Familie Rind findet das Gras just an diesem Fleck besonders wohlschmeckend und beginnt zu raufen. Aber die Wäscherinnen wollen sie da nicht haben und vertreiben sie mit unfreundlicher Hast. Vater Stier geht, gefolgt von den Seinen, beleidigt auf die Fischer-Seite und will sich eben mit seiner Familie zwischen den Körben ansiedeln, als auch hier die Gastlichkeit in schnöder Weise verletzt wird.

Gottergeben und phlegmatisch dreht das Rindvieh ein zweites Mal um und begibt sich wieder auf die Wäscherinnenseite. Aber nun wird es, in der Mitte, von beiden Parteien angeschrieen und bleibt verdutzt stehen: kann man denn selbst bei so nachgiebiger Gemütsart nicht einmal in Ruhe frühstücken –?

Aber ehe sich die Meinungsverschiedenheiten der Wäscherinnen und der Fischer geklärt hat, springen die Männer plötzlich auf. Platsch-platsch – die Pferde kommen! Man greift zu den Körben, rennt ins Wasser. Noch sieht man zwischen den Reitern nichts als eine leicht markierte geschwungene Linie im Wasser. Aber die Fischer greifen nach dieser Linie: es ist der Netzrand, den sie nun mit den Händen hoch reißen und heranschleppen.

Nun wird das Wasser an dieser Stelle lebendig. Es wird stürmisch. Immer enger zieht sich das Netz auf dem flachen Ufer zusammen. Hier schnellt ein Kopf, ein Schwanz; der Fleck wird silbrig – quecksilbern: schnöd dem heimischen Element entzogen, plätschert, schlägt, schnellt und zappelt das – aber vergebens! – Selbst die, die sich mit einer besonderen Kraftentfaltung über den Netzrand weg ins Wasser zurück schnellen, geraten nur den Buben in die Finger, die sie packen und schleunigst wieder auf den Haufen zuckender, sterbender Genossen werfen... Es ist ein regelrechter Massenmord, der aber wie alle Ungerechtigkeiten dieser Welt, die einem selber nützlich sind, unschuldvollst übersehen zu werden pflegt...

Dann wird sortiert. Die Körbe füllen sich. (Das Rindvieh, allerseits so schlecht behandelt, hat sich derweil eine Uferstelle ohne Wäscherinnen und ohne Fischer gesucht.) Einer der Fischer hat statt des Korbs eine kleine Karre. Er füllt sie säuberlich mit den silberglitzernden kleinen Leichen und während er sein Kärrchen vergnügt davonzieht, lacht er zu den noch immer erbosten Weiber herüber und parodiert den Ausrufer:

Pescador!! – Pe-.-e-.-escado-.-o-.-r!) Pejerey! Dorado! Pescado rico – para los pobres – para los ricos – para los argentinos – para los italianos – para – para las lavanderas!

Pescado-.-or!!!

(In: Sonntags-Zeitung. Illustriertes Argentinisches Unterhaltungsblatt. Heft 3/4, Dezember 1920)

Land und Leute in Südamerika: Die Fälle des Iguazú

Auf der argentinischen Seite des Yguazú steht ein Blockhaus, in dem man die trotz des heißen Klimas recht kalten Nächte zubringen kann. Wir kamen bei sinkender Sonne und – weiß der liebe Gott! – wohl gerüttelt und geschüttelt dort an. Aber wie angeleimt blieben wir auf dem Maultierkarren sitzen, der uns von Porto Aguirre durch die Pikade hergerumpelt hatte: unter dem Glanz des leuchtenden Abendhimmels, überspannt von einem strahlenden Regenbogen und flankiert von zwei hohen schlanken Palmen, Wächtern vor der tiefen Einsamkeit des Urwalds, blitzten in schimmerndem Weiss die riesigen Kaskaden der Fälle auf – gleich zu unsern Füssen beginnend die lang ausgezogenen Bogenreihen der argentinischen Seite, in der Ferne, im Hintergrunde, der ungeheure Fall an der Brasilseite, überdampft von einer Wolke von Wasserstaub!

Es gibt zwar schon eine Reihe Photos und Karten, aber – meines Wissens – noch keine wirklich genaue Vermessung des Iguazú und die Angaben über Höhen und Entfernungen widersprechen einander zuweilen. Ich will mich für die meinigen gewiss nicht auf den Zentimeter verbürgen: ich gebe die Lesart wieder, die mir, nach dem eigenen Augenschein, nach dem Maßstab, den man an Bäumen und an zu Fuß zurückgelegten Strecken haben kann, die richtigste scheint. Man denke sich ein schief ausgezogenes Hufeisen von 4 bis 4 ½ km Ausdehnung. Oberhalb dieses Hufeisens sich aufstauend, stürzen die Wasser des Iguazú auf diese ganze gewaltige Länge hin in einen Kessel hinab, sich wieder sammelnd im engen, steilen, vielfach gewundenen Flussbett. Felsvorsprünge, Inseln und Inselbrocken teilen den ungeheuren Wassersturz in eine ganze Anzahl einzelner mächtiger Strähnen, gestreckter Fallreihen, stürzender Kaskaden, von denen der Teufelsfall auf der brasilianischen Seite) der Innenbiegung des Flusses) die gewaltigste ist. In einer bogenförmigen Kaskade schießt ein großer Teil des Flusses hier etwa 60 Meter tief in den Talkessel herunter. (Um einen bekannten Maßstab zu geben: der Niagara hat rund 1 ½ km. Fallreihe und stürzt 48,8 Meter herab).

Von der Blockhütte aus führt ein schmaler Pfad in den Kessel hinab und – über eine primitive kleine Holzbrücke – auf eine größere Insel im Talkessel selbst, von der man eine ganze Reihe der schönsten Ausblicke auf die verschiedenen Fälle und Fallreihen hat. Am Abend stand der helle Vollmond am Himmel. Der Nebel, der sich gewöhnlich über den Fällen sammelt, war noch nicht erschienen. Und obwohl unser Führer etwas von animales murmelte, war die leuchtende Versuchung doch zu groß: wir kletterten beim weißen Licht des Mondes den kleinen Steig hinunter. Man könnte keinen Schritt seitwärts tun, so dicht schließt sich das tausendfältige Unterholz des Urwalds neben einem zusammen. Aber von oben tropfte, floss, rieselte silbern das Mondlicht in all das hängende Rankwerk hinein, tausend feine Konturen zeichnend und sie wieder verwischend, zugleich flimmernd und mild, zugleich klar und geheimnisvoll. Man denke sich die allerphantastischste Dekoration zum schimmerndsten Märchen aus Tausend und einer Nacht. Und mitten darin eine wilde, tief eingerissene Schlucht, eine senkrecht abfallende Felsenwand, an deren oberstem Rande ein paar Palmen sich scharf und dunkel gegen den sternfunkelnden Himmel abheben. Und von oben stürzen, in silbernen Staub gehüllt, grellweiß beleuchtet, zwei gewaltige Wassersträhnen senkrecht in die Tiefe herab, schießen die Wassermassen über Felsen und Gesteinsbrocken unter der gebrechlichen Holzbrücke her, auf der man steht.

Dann geht es aus diesem ersten Wasserstaub flimmernden Zauberkreise weiter in das Gehege von grünsilbernem, blausamtenem Gerank und Geäst hinein – bei Tage schon bezaubernd, in der feenhaften Beleuchtung dieser hellen Nacht ein vollkommenes Märchen. Wir trotten schweigend, einer hinter dem andern, durch den engen Pfad, nur zuweilen mit einem tiefen Atemzug stehen bleibend, überwältigt vom Glanz dieser überschwänglichen Natur. Und plötzlich stockt der Zug, drängt sich eng zusammen, atemlos: ein Windbruch im dichten Baumwerk lässt überraschend einen Durchblick frei, einen Durchblick auf die erste gewaltige Fallreihe, der man unmittelbar gegenüber steht. Wie in einem Traum, vollkommen unwirklich, leuchtet die stürzende Flut auf, in breiten Strähnen und Kaskaden, über Felsen stürzend, aus dem Dunkel des nächtlichen Waldes hervorbrechend, niederbrausend in die Tiefe und in einer Wolke von Gischt und Wasserstaub zurück brandend. Man steht zitternd, atemlos, das Herz schlägt einem bis zum Halse herauf. Und rings um einen singt die silberne Stille des funkelnden Wunders: des Urwalds im Mondschein. Und das Kreuz des Südens steht gerade über dem schimmernden Weiß der riesigen Kaskade.

Von da ab wird der Weg schwieriger und ungeeigneter für nächtliche Ausflüge: man braucht das sichere Licht des Tages, um an der Flanke der Felswand entlang an eine der verhältnismäßig kleineren Strähnen heran zu klettern. Es geht über schlüpfrige Kletterpfade, wasserüberspülte Gesteinsbrocken, manchmal auf allen Vieren klimmend, bis auf einen schmalen Vorsprung, hart an der Seite des niederschießenden Stroms. Und, von schimmernder Gischt übersprüht, von fortwährend auftauchend und wieder verschwindenden Regenbogen umgaukelt, sieht man entzückt zum ersten Mal aus nächster Nähe, wie der überreiche Pflanzenwuchs bis unter die niederschießenden, schäumenden Wassermassen selbst vordringt, grüne Teppiche hinter der funkelnden, leuchtenden Flut ausbreitend, grüne Fahnen und triumphierende kleine Wimpel an jedes Felseneckchen heftend, das die Wasser ihr irgend frei lassen.

* *

Der Weg durch den Kessel steht überhaupt im Zeichen des Pflanzwuchses. Man hat von dieser Insel, wie schon gesagt, eine ganze Reihe der herrlichsten Ausblicke auf die Fälle, zuerst auf die langen schimmernden Fallreihen auf der argentinischen Seite und schließlich den ersten Blick aus verhältnismäßiger Nähe auf den ungeheuren brasilianischen Fall und das tief eingerissene Flussbett. Aber obwohl man bei jedem neuen Durchblick von neuem aufjubeln möchte, kommt man in Verlegenheit, was man zuerst bewundern soll: das großartige Schauspiel der Fälle oder den überquellenden Reichtum der Natur, die sie umgibt. Dieser riesige Kessel, von einer fast tropischen Sonne geheizt, wirkt wie ein ungeheures Treibhaus, in dem noch das winzigste Stückchen Baumrinde eine Welt an Mannigfaltigkeit bietet. Da sind Flechten und Moose, von den winzigsten bis zu den größten Formen; da sind Farne, vom zierlichen flachen Schirmchen des Adiantum hispitulum mit dem feinen schwarzlackierten Stielchen bis zum prächtigen, palmenähnlichen Baumfarn; da sind Bambusarten, deren malerisch zierliches Grün an elegante japanische Aquarelle erinnert. Da sind Orchideen und Kletterschmarotzer, von den einfachsten zu den reichsten. Da ist die ganze Pracht des Baumwuchses, die uns schon auf der Herfahrt entzückte; da sind ganze Strecken bedeckt von einer Begonie mit glänzend grünem Laub und zarten, rosaweißen Blüten. Ich könnte mir vorstellen, dass ein zukünftiger Botaniker zu diesem Wege von etlichen Stunden ebenso viele Jahre brauchen würde!

Aber der Höhepunkt, das wildeste und prächtigste kommt zuletzt: der Weg bis hinein in die Fälle selbst, mitten zwischen die schäumenden Kaskaden. Bei hohem Wasserstand ist dieser Weg nicht gangbar, und auch bei mäßigem hört das Spazierengehen hier auf. Denn man muss im Rücken der Fälle durch ein Gewirre von Inseln und Wasserarmen in diese Welt der Felsen und des weißen Gischtes sich hineinpirschen, und zwar in einem Kostüm, das gleicherweise zu Wasser wie zu Lande, zum Klettern wie zum Waten zu gebrauchen ist. Alpagatas sind ebenso nötig wie Kleiderröcke unangebracht. Und wenn Männlein und Weiblein zusammen los ziehen, kann es gern kommen, dass die Tour mit einer schallenden Heiterkeit beginnt – angesichts der betrübend entblätterten Schönheit. – – –

Zunächst geht es in eine blühende, wuchernde Wildnis hinein – bis an äußersten stillen Seitenarm des Iguazú, der die beiden ersten Strähnen auf der argentinischen Seite speist. Hier liegen, im Grün versteckt, Kanus, Einbäume in der ursprünglichsten Form, die sich aber, lang, schmal und kiellos, über Felsbrocken und Gestrüpp schieben lassen. Man kauert sich hinein, so gut oder so schlecht es eben geht, und die braunen Ruderer rudern, stehend, in den zunächst scheinbar fast regungslosen Seitenarm hinein. Etwas malerischeres und zugleich friedenvolleres lässt sich kaum ausdenken, als dies stille schmale Wasser im hellsten Sonnenglanz, das tiefer scheint als es wirklich ist, so tief und klar spiegelt sich der dichte Wald in seiner klaren Flut. Und während das Kanu lautlos hingleitet, umspielen uns dichte Scharen von glänzenden Faltern, zutraulich, weil menschenfremd, auf unsern Armen, Köpfen, Schultern sich niederlassend.

Eine Weile geht es so weiter, durch köstlich verträumte Einsamkeit. Dann öffnet sich plötzlich der schmale Arm; eine breite Wasserfläche blitzt auf, strudelnd stärkeren Strom verratend. Dieses Wasser speist die langen Fallreihen auf der argentinischen Seite, und wenn wir den Einbaum jetzt treiben ließen, sollten wir wohl geschwinder in den Talkessel hinab sausen, als uns irgend lieb sein könnte. Wir durchqueren dies natürliche Staubecken und geraten nun in ein Gewirre von Steinen, Felsblöcken, Inselchen und Inseln, durch die eben nur der schmale runde Einbaum noch durchgleiten kann. Und selbst der fängt sich zuweilen noch an spitzen Steinbrocken oder an knorrigem Gestrüpp. Aber dann kommt der Augenblick, wo auch das Kanu noch zurück gelassen werden muss; und nun beginnt eine Kletterei durch dichtesten Urwald. Über glattes Felsgestein, durch Wasserarme hindurch, an Abgründen vorbei, wie sie prächtiger nicht gedacht werden kann.

Es ist gerade kein Unternehmen für allzu ängstliche Gemüter oder für Leute, die allzu heftig auf eigne Schönheit bedacht sind. Jetzt geht es über eine größere Insel, über einen winzigen Pfad, von unsern braunen Peonen mit der Machete frei gehauen, manchmal ziemlich eben und so dicht von wundervollem Pflanzenwuchs eingeengt, dass man sich nur von Schritt zu Schritt los reißen kann. Jetzt klettert man über winzige eingehauene Treppenstufen oder ein primitives Holzleiterchen senkrecht in die Tiefe; jetzt kommt eine glatte, feuchte und schlüpfrige Felspartie, während derer sich die haftenden Alpagatas äußerst nützlich machen. Und jetzt kommt einfach Wasser. Das erste Mal fragt man noch ein bisschen erstaunt: Aqui? Worauf der Führer gleichmütig bestätigt: Aqui …. und hinein steigt. Das zweite Mal begibt man sich schon mit Vergnügen selber hinein – bei der nieder prallenden Sonne durchaus froh über die willkommene Abkühlung – je nachdem bis an die Knöchel, bis an die Schenkel, oder wenn man nicht Obacht gibt auch bis an den Hals – aber dafür klettert man ja nun auch mitten in die Fälle hinein! Und nach einem Vorgeschmack, nach einem Halt jeweils auf schmalem, engem Vorsprung, einmal mit einem Blick dicht auf die zweite Fallreihe auf argentinischer Seite, das andere Mal mit einem ersten wundervollen Blick aus nächster Nähe in den „Teufelsschlund“, nach diesem aufregenden Auftakt kommt der Höhepunkt – das Finale im Fortissimo –!

* * *

Abwärts geht es, einen Pfad, so schmal wie für eine Ziege und so steil wie für eine Fliege. Dann ein paar Schritte seitwärts, ein Klettern über ein paar große Felsbrocken und ein jähes Stutzen. Schießt da nicht ein ungeheurer Wasserstrahl hart neben uns in den Abgrund?

Weiter! Weiter! – Noch über diesen Felsblock – noch über jenes Steingeröll! Da kommt wieder Wasser, eine Art See ….

See?!! Aber da – dort – da stürzt doch gerade vor uns … im langgestreckten Bogen, das Wasser wieder 20 bis 25 Meter tief hinab.

Der vermeintliche kleine See ist nur ein ausgehöhlter Felsvorsprung, ein Sammelbecken, mitten in einer der großen Fallreihen –eine Stufe inmitten der riesigen Kaskade. Führt der Fluss sehr viel Wasser, so schießt er strudelnd darüber fort. Ist er weniger hoch, so liegen vereinzelte Felsplatten trocken und das Wasser, dahinter aufgestaut, hat stellenweise weniger starken Strom. Und unterstützt von den braunen Burschen, die uns führten und ruderten, geht es nun in diese Becken hinein watend, kletternd, von Felsplatte zu Felsplatte springend, zwischen Löchern und Strudeln durch, atemlos vor Lust und Freude, mitten hinein in dies gewaltige Fest, das die Natur sich selber gibt. – Bis man auf der äußersten vorgeschobenen Platte steht, ein kleinwinziges Menschlein inmitten all der wilden Pracht, und aufatmend um sich schaut.

Wortlos um sich schaut. Das Schauspiel ist überwältigend. Hinter uns stürzt die zweite der beiden großen argentinischen Fallreihen in weitem Bogen senkrecht über die Wand hinunter. Rings um uns sammeln sich ihre Wasser zwischen gewaltigen Felsplatten, flankiert von der überquellenden grünen Pracht der Inseln, durch die wir uns hindurcharbeiteten. Hart zu unsern Füssen schießen die Wasser weiter – senkrecht zur Talsohle hinab, in drei ungeheuren Strähnen weißschäumend niederbrausend. Und rechts, vor uns, entfaltet der größte der Fälle, der auf der brasilianischen Seite, in gewaltiger Kaskade seine volle Schönheit, in der Mitte die größten Wassermassen im strudelnden, schäumenden, in Wolken von Gischt und Wasserstaub gehüllten Teufelsfall sammelnd. Zur Linken öffnet sich der Blick in das tief eingerissene untere Tal des Iguazú. Und die ganze schimmernde, strahlende, glänzende, schäumende Pracht eingehüllt in glitzernde Sonnenglut, überspielt von funkelnden stets neu aufleuchtenden Regenbogen, eingefasst von dieser tollen, wuchernden Vegetation! Von Wäldern, die sich bis hart an die Ufer drängen, auf jedes noch so kleine Inselchen überspringend, von Palmen; die noch am Rande des Absturzes Wurzel fassen, von wehenden Gräsern, die bis unter die stürzenden Wassermassen selber drängen! Von einer grüngoldenen Herrlichkeit, deren lachende verschwenderische Üppigkeit es fertig bringt, einem so gewaltigen, ungeheuren Naturschauspiel alles und jedes etwa einschüchternde oder bedrückende zu nehmen – die es fertig bringt, dass diese wilden Kaskaden trotz ihrer riesigen Größenverhältnisse nie den Grundcharakter des unbedingt anmutigen verlieren!

Auch ihr Menschlein in den kribbelnden Ameisenhaufen, die ihr so stolz Großstädte nennt, mit all eurem vermeintlichen Prunk und Luxus. Was für ein kindlicher, kümmerlicher Kram ist noch euer kostspieligster und glänzendster Luxus gegen solch ein Urwaldwunder! Was für ein wundervolles Gefühl der Befreitheit, diesem Urwaldwunder von überschäumender Kraft und von Reinheit gegenüber zu stehen, Geschöpf unter Geschöpfen, ohne fortwährend über bresthafte Körper und noch so viel bresthaftere Seelen zu stolpern! Was für ein königliches Gefühl der Freiheit, des Nachts in einer Blockhütte im Urwald zu schlafen, eingewiegt vom brausenden Gesang der Wasser, aufgeweckt von der herben Frische der Morgennebel. Welch aufmerksame Andacht, zuzusehen, wie sich aus dem Wasserdampf der Fälle feine, zarte Wölkchen bilden und milchig weiß in den bestirnten Abendhimmel schweben! Welch ein Jubel, morgens früh über die Tau beperlte Wiese zu laufen, und zu warten, bis der dichte weiße Schleier reißt und die große glühende Sonne zum ersten Mal die aufblitzenden Wasser küsst! Welch unendlicher Friede, wenn der Spätnachmittag seine klare Ruhe über Wald und Wasser ausgießt und der Dampf des riesigen brasilianischen Falles, fern am Horizont, wie ein rosiges Wölkchen gegen den sanften Goldglanz des Firmamentes steht!

Redet mir nicht von der Primitivität des Lebens im Blockhaus! Wer hier herauf kommt, ist bei einem so gewaltigen großen Herren zu Gast, dass er sich bescheiden und still nach dessen Art und Stil zu richten hat. Und ein Blockhaus ist für mein Empfinden schon das äußerste, was der Mensch sich hier gestatten darf, ohne aufdringlich und lästig zu werden. Wenn es nach mir ginge, würde weder die geträumte Bahnlinie noch die geträumte Autostrasse jemals die Fälle berühren und ein „komfortables Hotel“ käme in alle Ewigkeit nicht hin!

Aber eines Tages wird das alles doch kommen. Eines Tages wird man da oben in dem ewig gleichen Palast-Grand-Hotel – oder Waldorf Astoria-Hotel im „eveningdress“ zu Abend essen, bedient vom ewig gleichen Kellner. Man wird die Fälle halb gelangweilt durch sein brillantenbesetztes Lorgnon betrachten, ohne sein teures Leben oder sein seidenes Korsett in Gefahr zu bringen. Es wird zum guten Ton gehören, über den Iguazú mitzureden, wie über den Niagara, die Pyramiden oder den Taj Mahal. Und es fragt sich nur noch, bis zu welchem Grade und auf welche Weise die stolzen Fälle unter das Joch der Industrie gespannt werden. – Kurz: der Mensch wird mit tödlicher Gewissheit eines Tages seinen ganzen umständlichen Talmikram hier herauf befördern und der Iguazú wird ein glänzendes Geschäft werden.

Dann werden dieselben Sterne über den selben brausenden Wassern funkeln, dieselben Nebelschwaden über dem morgenkühlen Lande liegen, dieselben Regenbogen den sonnenbestrahlten Wasserstaub durchfunkeln. – Aber der Herr des Hauses wird dann stolz und kalt schweigen. Und nie wieder wird man den erschütternden Ton seiner Stimme hören, der mit so kristallener Reinheit durch das Schweigen unberührter Einsamkeit klang. –

(In: Sonntags-Zeitung. Illustriertes Argentinisches Unterhaltungsblatt. Heft 10/11; 13/14, 15/16 Januar - März 1921)

 

 

 

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