Genderforschungs-Transferstelle
der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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Funny Fanny

Das war im Varieté. –
Das Publikum heulte, wieherte. Vor mir saß ein dicker Mann, der so schrecklich lachen mußte, daß er ganz blau war; ich dachte, er müßte gleich einen Schlag kriegen oder ersticken. Dieser dicke Mann konnte vor lauter Lachen kaum noch klatschen; aber die übrigen applaudierten dafür um so lebhafter, so daß es momentlang einen ohrenbetäubenden Lärm gab.
Oben auf der Bühne stand Funny Fanny, die drollige Fanny (im Privatleben Frau Klara Lobschütz und weiland Ehegespons meines liebenswürdigen Vetters Egon Lobschütz), und machte ein Gesicht, als wollte sie gleich sagen: Ihr seid doch nun eigentlich eine dämliche Bande! – Statt dessen bemerkte sie, als der Lärm etwas nachließ: „Kapellmeister! Geben wir ihnen noch die Salome zu! Sie ist zwar so abgedroschen, daß sie nur noch auf Minderbegabte wirkt – aber machen wir sie ihnen!“
Fünf Minuten darauf ging das Geklatsche von neuem los. – Dabei hätte man wirklich kaum sagen können, was denn eigentlich so hinreißend drollig an ihr war: sie parodierte ein paar Tänze und Tänzerinnen, karikierte nur ganz leicht, beinahe nachlässig, und eher ironisch als grotesk – aber jede Miene, jede Geste wirkte so unwiderstehlich, als ob sie die Lachmuskeln ihres Publikums an einem einzigen Fädchen hätte und nur zu zupfen brauchte, um sie in Bewegung zu setzen.
Diesmal kam sie zum Schluß an die Rampe und bedankte sich mit einem richtigen Varietéknicks, was mich, ich weiß nicht warum, ärgerte: es paßte nicht zu ihr. Vielleicht dadurch veranlaßt, schoß mir der nörglige Gedanke durch den Kopf: Da: Warum steht sie nun da und macht Faxen und gibt für dieses Volk hier den Clown ab? Also im letzten Grunde ist es doch wieder das alte Lied von allen Bühnen- und Varietéleuten: wenn man ihn einmal gekostet hat, dann kommt man nicht wieder davon los – vom Applaus des süßen Pöbels!
Ich war nämlich auf Grund unserer freilich etwas fragwürdigen Verwandtschaft vor ihrer Nummer in ihrer Garderobe gewesen, und da hatte sie mir inbrünstig versichert: der ganze Kram hinge ihr lang zum Halse heraus! Und außerdem hatte sie mir erzählt, daß sie seit zehn Jahren gescharrt und gespart hätte, um sich eine Einrichtung zu kaufen, ihre Tochter zu sich holen und irgendwo ganz still und friedlich leben zu können. Da sie mir besagte Einrichtung liebevoll und im Detail beschrieben hatte, mußte ich doch annehmen, daß das erwünschte Ziel auch erreicht wäre. – Freilich hatte uns just an dieser Stelle unserer Unterhaltung die Klingel des Inspizienten gestört, aber man wird in diesem Zusammenhang begreifen, daß mir ihre Handlungsweise einigermaßen unlogisch vorkam. Und man wird ferner verstehen, daß ich auf die folgenden Nummern – den gelehrten Schimpansen und den Mann, der sich allabendlich von einem Auto überfahren ließ – verzichtete und statt dessen lieber in Funny Fannys Garderobe schlüpfte, um mir den Schlüssel zu dieser unlogischen Geschichte zu holen. –
Als ich hinein kam, saß sie auf der Lehne des einzigen Stuhles vorm Spiegel, in so einer Art von Negligé oder Pudermantel, und bürstete ihre kurzen, krausen Haare. – Ich setzte mich also meinerseits auf ihren Kostümkoffer, und nach einigen belanglosen Präliminarien entwickelte sich folgendes Gespräch zwischen uns.
„Hör mal“ – sagte ich. „Macht dir das nun eigentlich wirklich Freude, wenn das Volk da spektakelt?“
„Nee!“ – sagte sie, legte die Bürste weg und zwirbelte sich andächtig die Stirnhaare zu einem spitzen, steilen Schopf zusammen.
„Ja, aber warum bleibst du denn immer noch dabei?“
„Weil ich immer noch die üble Notwendigkeit spüre, essen und schlafen zu müssen!“ bemerkte sie lakonisch und drehte sich dabei geschickt auch über jedem Ohr ein spitzes Schöpfchen.
„Du hast mir aber doch vorhin erzählt, du hättest jetzt deine eigene Einrichtung und eine kleine Rente, und -"
„Hättest -?“ unterbrach sie mich. „Nee, ich habe gesagt, ich hätte sie gehabt!“
Ich kam mir vor wie ein Inquisitor, aber ich wollte das nun einmal gerne wissen. „Wo ist sie denn wieder hingekommen?“ fragte ich.
„Verjuckt – alles verjuckt!“ bemerkte sie seelenruhig. Und dabei angelte sie in ihrem Toilettenkram herum, bis sie drei bunte Bändelchen herausgefischt hatte.
Ich guckte sie mir dabei von der Seite an. Auf der Bühne, bei Rampenlicht, sah sie ja noch fabelhaft jung aus; aber in Wirklichkeit mußte sie in den Dreißigen sein, und schließlich sind Exzentriktänzerinnen nicht gerade ein Artikel, der mit dem Alter im Kurs steigt. „Was für ein Leichtsinn!“ sagte ich deshalb nach einer Weile.
„Gott – Leichtsinn war es schon!“ konstatierte sie zustimmend. – „Aber leider nicht von mir!“ ? ? ? –
Diesmal konnte ich sie nur fragend anschauen.
„Und dann, weißt du, ist es auch ein Elend, daß die Leute immer gleich Kinder kriegen!“ fuhr sie nach einem Weilchen tiefsinnig fort, nahm die Bändelchen und band sich ihre drei Haarschöpfe damit zu einer richtigen dreizipfligen Clownfrisur zurecht. Hierauf guckte sie zuerst in den Spiegel und dann drehte sie sich plötzlich zu mir herum:
„Guck mal: bin ich so nicht ’ne patente Groß’?“
„Ach geh! Du und ’ne Groß‘!“
„Wetten, daß ich eine bin?“ sagte sie. – Und nach einer Weile: „Das ist es ja gerade! Ich sage dir, der Mensch kann sich eilen so viel er will, er bleibt doch immer hinter seiner Zeit zurück! Kaum ist man mit seinen Finanzen so weit, daß man sich erlauben könnte, Mama zu sein – schwapp! Fängt man auch schon an Großmama zu werden!“
Dies war nun alles ein bißchen dunkel und mysteriös. Und da das Fragen in solchen Angelegenheiten unter Umständen eine heikle und mißliche Sache sein kann, schwiegen wir ein Weilchen beide still, während welcher Zeit Funny Fanny ihre Trikots mit Strümpfen und Schuhen vertauschte. Dann schlug ich bescheiden vor:
„Möchtest du nicht einmal freundlich bedenken, daß ich gar nicht weiß, wovon du redest? – Vielleicht erzählst du mir das einmal in der richtigen Reihenfolge hintereinander?“
„Noch hintereinanderer?“ sagte sie und tauchte aus ihrer gebückten Stellung auf. „Wo soll man denn da anfangen? Daß ich mal mit deinem angenehmen Cousin verheiratet war, das weißt du doch?“
„Das ist aber auch, offen gestanden, so ziemlich alles!“
„Und daß mein Herr Vater mich seinetwegen mit seinem Fluch beehrte? Richtiggehendem Fluch – nicht bloß so in Kreuzstich auf Stramin gestickt wie ’n Haussegen! – Übrigens ein bedeutend vereinfachtes Verfahren, wenn man sonst in Verlegenheit kommen könnte, Vermögensstücke herausrücken zu müssen! – Und daß ich ursprünglich zwei Kinder hatte?“ –
„N – nein. Bitte bedenke, daß wir alle von meinem Vetter seit Jahren nichts gehört haben!“
„Ich auch nicht. – Gott sei Dank übrigens. – Das zweite Kind war ’n Junge. Ein süßer Bengel! – Der ist eigentlich schuld, daß ich ans Varieté gekommen bin. Das Kind hat mal einen ganzen Abend lang vor Hunger geweint, und du kannst dir nicht vorstellen, was er sonst für ein süßes und braves Kerlchen war. Ich stand in den Tagen gerade vor der Frage: sollst du nun oder sollst du nicht? – aber das hab’ ich nicht ausgehalten. Da bin ich am nächsten Tag hingegangen und hab‘ mich zu einer ganz gemeinen Schmiere vermietet, bloß um mal ’n paar Groschen zu verdienen.“
„Und dein Mann?“ – fragte ich. „Wo war der denn da?“
„Du hast wahrhaftig recht, man muß es in der richtigen Reihenfolge erzählen“ – sagte sie. – „Also schau: Sechzehn war ich alt, da hab’ ich ihn geheiratet. Und mich zu diesem Zweck mit meinem Vater vollständig auseinander geeinigt. Siebzehn: da ist mein Fräulein Tochter erschienen. Achtzehn: mein Herr Sohn. Neunzehn: da ist dein lieber Herr Cousin auf Erholungsreise gegangen, aber leider nicht wiedergekommen. Ich hätt’ ihn auch nicht wiedergenommen. Aber dagelassen hat er uns auch nichts. Na, das war denn nicht so einfach. Tanzen hab’ ich immer gut gekonnt, aber das war natürlich nicht das, was mir zunächst einfiel, und mit anderen Talenten und Kenntnissen bin ich leider nicht überbürdet. Also hab’ ich mich zunächst damit beschäftigt, mir die Finger krumm zu schreiben an Offerten und Stellungsgesuchen und langsam, Stück für Stück, unsere Einrichtung zu verkaufen oder zu versetzen, wie es gerade kam. Aber natürlich kam einmal der Tag, an dem der Kram alle war. Und dann hat es also zunächst mit einer Schmiere angefangen.“
„Ja, aber!“ (Ich war ganz entsetzt.) „Hast du denn bei einer Schmiere so viel verdienen können?“
„Gott, fürstlich war es gerade nicht!“ sagte sie und zuckte die Achseln. – „Aber durch die Schmiere bin ich dann an einen ganz geschickten Impresario gekommen. Ich glaube, er hatte sogar eine Zeitlang die Wahnidee, ich würde ihn heiraten. Ich habe ihn auch ruhig bei der Illusion gelassen, denn das hat mir viel Geld eingebracht, und das brauchte ich, um die Kinder anständig unterzubringen. – Derselbe Mann hat mich auf die Idee mit den lustigen Sachen gebracht, und er hat Recht gehabt – so was zieht immer! Die Leut’ wollen eben lachen für ihr Geld – das kann ihnen kein Mensch übelnehmen, ernsthafte Sachen kriegt man schon ganz umsonst genug. Aber schau, - nun kommt etwas, das ist mir nahegegangen.
Eines Tages bin ich in Neuyork im Engagement. Da krieg’ ich eine Depesche, daß mein kleiner Junge den Scharlach hat. Drei Tage drauf war er schon tot, und ich hab’ ihn überhaupt nicht mehr gesehen! – Siehst du, von dem Tage an hab’ ich angefangen wie ein Geizhals zu scharren und zu kratzen, immer nur Geld zu kratzen, damit ich wenigstens das Mädel in absehbarer Zeit zu mir holen könnte!“
Hier waren wir nun wieder ungefähr an demselben Punkte angelangt, an dem wir waren, als der Inspizient uns mit seiner Klingel störte. Ich war ernstlich begierig, wie es jetzt weitergehen würde; aber Funny Fanny griff, anstatt fortzufahren, nach ihren Sachen und begann wieder in ihre alltäglichen Hüllen zu schlüpfen. Ich sah ihr ein Weilchen schweigend zu; aber dann konnte ich es nicht mehr aushalten, und da mir eine Beileidsbezeigung nach so langer Zeit etwas gesucht vorkam, namentlich Funny Fannys ganzer Art gegenüber, sagte ich nur: „Nun, und - ?“
„Du mußt dir das nun nicht ganz so einfach vorstellen,“ sagte sie; „auch wenn man an sich ganz gute Gagen hat. Die Toiletten, die Reisen, die Agenten, na, und was sonst noch so drum und dran hängt – das frißt, sag’ ich dir! Und zwischendurch wollten wir doch auch leben, meine Kleine und ich, und das Sparen war von jeher nicht meine stärkste Seite!“
„Ich meine nur, hast du es denn schließlich erreichen können?“
„O ja – ich schon!“ sagte sie und schwieg schon wieder.
Ich sah sie ungewiß an. Einesteils mochte ich sie natürlich nicht nach Dingen fragen, über die sie vielleicht nicht gern sprach, aber andernteils hatte ich die bestimmte Empfindung, als ob da nur irgendein Kummer säße, dem es vielleicht ganz gut täte, wenn er einmal ausgesprochen wurde. „Wieso?“ fragte ich deshalb nach einer Weile.
„Tja. – Das ist keine ganz so einfache Geschichte“, fing sie endlich an. „Ich hatte also schließlich die erforderlichen Kröten wirklich zusammen. Und auch eine ganz reizende Einrichtung; das hab’ ich dir ja erzählt. Aber dafür hab’ ich natürlich energisch heran gemußt, immer von einem Engagement ins andere; und als ich schließlich hinfuhr, um mir meine Kleine zu holen, die ich damals in ’ner ganz netten bürgerlichen Familie untergebracht hatte, da hatt’ ich sie glücklich drei Jahre überhaupt nicht gesehen. Mit der Korrespondenz ist das zwischen uns nun auch so – so, wir sind beide keine großen Schriftstellerinnen vor dem Herrn! Übrigens ist das auch schwer, wenn man in so ganz verschiedener Umgebung lebt und sich innerlich eigentlich so wenig kennt. Und deshalb hatt‘ ich sie noch so ganz als das unfertige, dreizehnjährige Gör in der Erinnerung.“
Hier brach Funny Fanny wieder ab, setzte sich vor den Spiegel und zog sich die bunten Bändelchen aus den Haaren. Hierauf fing sie an, sich zu frisieren, und erst nach einer ziemlichen Pause fuhr sie fort:
„Na. Ich kann das nicht so rührend erzählen, weißt du. Also: ich fand statt meiner kleinen Dreizehnjährigen eine sehr ausgewachsene Sechzehnjährige. Und außerdem fand ich noch etwas, was ich gar nicht erwartet hatte. Nämlich einen ebenfalls durchaus ausgewachsenen jungen Mann, einen jungen Chemiker. Und dieser Chemiker und meine Kleine, die hatten die besten Hoffnungen für mich, Großmama zu werden!“
„Ich bitte dich!“ fuhr es mir heraus.
„Das sagte meine Kleine auch!“ bemerkte Funny Fanny trocken. „Die Sache lag nämlich hoffnungsloserweise so, daß der junge Mann noch völlig von seinen Eltern abhängig war. Und die Eltern, das sind so die richtigen satten Pfeffersäcke, denen jegliche Heiraterei ohne Bankkonto und ohne Sofa mit Umbau und ohne Küchentücher mit Monogramm von vornherein kein Vergnügen macht!“
Ich sah ja nun ein, daß es eine einigermaßen unangenehme Situation ist, wenn zu einer Hochzeit alle erwünschten Requisiten fehlen und dafür nur etwas allerseits noch Unerwünschtes vorhanden ist; aber daß die Situation hoffnungslos wäre, leuchtete mir nicht ein, und deshalb erlaubte ich mir zu bemerken: „Aber ich bitte dich: wenn sie schon ‚satte Pfeffersäcke‘ sind, hätten dann nicht sie vielleicht das Sofa mit Umbau selber kaufen können?“
„Können!?“ – Funny Fanny sprang temperamentvoll auf und stellte sich in Positur. „Können? Gekonnt hätten sie es natürlich! Aber du beweist mit deiner Frage, daß du keine Ahnung hast, was zu einer ordentlichen bürgerlichen Ehe erforderlich ist! Bei einer anständigen, bürgerlichen Ehe hat die Frau, hörst du? die Frau eine gediegene Mitgift zu bekommen, und hat eine Aussteuer zu haben, und eine Verlobungstoilette, um in einem gemieteten Wagen zu sitzen und von einem Mann in einem schwarzen Rock Karten in vorher aufgeschriebene Häuser tragen zu lassen; und die Eltern der Braut, unbedingt höchst respektable Eltern, haben eine Hochzeit zu geben, zu der alle Verwandten eingeladen werden können, und wo auf einem Nebentisch die Hochzeitsgeschenke dieser ebenfalls höchst respektabeln Verwandten aufgebaut sind, weißt du, was so ein angehendes Elternpaar am eiligsten braucht: Hummergabeln und Eisdeckchen und Tiffanyvasen! Ich sage dir, ohne das ist die Sache für ein ordentliches Schwiegerelternpaar einfach nicht diskutabel! Ohne das ist ein ordentliches Schwiegerelternpaar einfach nicht dazu zu kriegen, mitzutun! – Und zu alledem stelle dir nun auch noch so ein angehendes kleines Fräulein Mama vor und bedenke, daß es sich um den einzigen Sohn der ordentlichen Schwiegerleute handelte, den sie schon in Gedanken mit soundso vielen guten Partien versorgt hatten! Nein, die Geschichte war so hoffnungslos wie nur möglich, und die Umstände waren doch auch nicht dazu angetan, sich geduldig hinzusetzen und eine Sinnesänderung abzuwarten!“
„Aber der junge Mann? Was sagte denn der junge Mann dazu?“
„Gott!“ – Funny Fanny zuckte die Achseln. „Er hatte natürlich Reue und die wundervollsten Absichten, aber davon hat meines Wissens noch kein Mensch Kinderhemden genäht! Und außerdem: weiß man positiv, ob einer unter solchen Umständen wirklich Stange hält oder ob er sich eines Tages von seinen Leuten beschwätzen läßt? Und dabei hatte meine arme Kleine doch ihr ganzes dummes junges Herzchen an den Menschen gehängt!“
Hier machte Funny Fanny wieder eine unvermittelte Pause. – Aber in ihrem Schweigen lag deutlicher als in der längsten Rede, eine wie bittere Enttäuschung das für sie gewesen war, daß ihr einzig Kind gerade in diesem Augenblick ihr Herz an einen ganz wildfremden Menschen hängen mußte!
„Und was hast du denn da gemacht?“ fragte ich beinahe zaghaft.
Sofort wurde sie wieder lebendig. „Was ich gemacht habe?“ sagte sie. – „Dem Mosjö den Kopf gewaschen hab’ ich und ihm anempfohlen, auf seinem weiteren Lebenswege etwas mehr Selbstbeherrschung zu üben! Und meiner Kleinen hab’ ich klargemacht, daß man nicht hinterher heult, sondern die Nase oben hält und seine Stellung behauptet! Und dann hab’ ich ihnen den Kram gegeben und das Geld, damit sie leben konnten, und dann hab’ ich gesorgt, daß sie aufs Standesamt kamen! Das hab’ ich gemacht!“
„Und zu diesem Ende hast du dich selber all die langen Jahre in der Welt herumgeschlagen!“ schloß ich.
Funny Fanny hatte ihren Kleiderrock zu. – „Du sagst das so gefühlvoll,“ bemerkte sie, „daß ich mir noch nachträglich erhaben vorkommen könnte! Aber nun sage doch selbst: was hättest du denn getan? Hättest du denn dein einzig Kind wegen dieser elenden Kopeken unglücklich werden lassen? Und übrigens war es mir auch entschieden eine Genugtuung, diesen wichtigen satten Leuten einfach die Entscheidung aus der Hand zu nehmen: Voilà – es geht auch ohne euch! Ihr seid vollkommen entbehrlich! – Das war ihnen eine Lektion, sag’ ich dir, und das wird mir noch bis an mein seliges Lebensende Spaß machen, auch wenn ich dafür auf den Rädern liegen muß, bis es nicht einmal mehr als komische Alte geht!“
„Na, na, na,!“ sagte ich, noch ganz benommen von dem, was sie mir da in ein paar Sätzen gesagt hatte. „Ganz so schlimm ist es ja Gott sei Dank nicht! So eine Art Heim hast du ja nun doch – bei deinen Kindern!“
Funny Fanny setzte ihren Hut auf. Ich weiß nicht: war es nur der Schatten des Huts, oder wurde sie wirklich rot? „Warte!“ sagte sie. „Ich habe dir noch nicht ganz fertig erzählt. – Also: Inzwischen ist nämlich der Stammhalter angekommen. Ob die Schwiegerleute sich nun unterdes überlegt haben, daß meine Tochter eigentlich doch eine ganz gute Partie war, oder ob es die Rührung über den Enkel und Namensträger tat: kurzum, bei der Taufe hat man sich versöhnt! Große Rührszene, Tränen, Küsse – wie das bei solchen feierlichen Familienanlässen denn schon zu gehen pflegt. Und jetzt sind sie glücklich mit meiner Kleinen ein Herz und eine Seele!“
„Nun – und du?!“
„Und ich – bin beim Tingeltangel!“ sagte Funny Fanny und bückte sich über ihren Handschuh.
Eine Weile war ich ganz erstarrt über den Ton, in dem das herauskam.
„Aber! Ich bitte dich! du willst doch damit nicht sagen, daß du dich nun ausgeschlossen fühltest, du, die du die ganze Sache gemacht hast!“ sagte ich empört und stand auf.
„Geliebtes Mauseschwänzchen!“ (Der Handschuh ließ sich offenbar sehr schlecht schließen.) „Man muß die Dinge nehmen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein könnten. Meine Kleine kann ja nichts dafür; aber durch diese Versöhnung kommt sie doch in lauter streng bürgerliche Kreise, in die sogenannten guten Familien einer kleinen Kaufmannsstadt. Und nun sieh mal mich! Hier nebenan sitzt ’n Kollege von mir, das ’s ’n dressierter Aap. Und da drüben sitzt eine, die kriegt ihre Gage dafür, daß sie jeden Abend möglichst viel auszieht. Hier bei uns macht sich das ja ganz stilvoll – aber nun versetze uns drei, den Aap und den Hemdenmatz und mich mal in so ’nen soliden, ehrsamen bürgerlichen Sonntagsnachmittagskaffee, und du wirst zugeben, daß das eine etwas allzu unverträgliche Mischung gibt!“
„Aber was willst du denn mit den andern!“ sagte ich, etwas aus der Fassung gebracht. „Es handelt sich doch um keinen als um dich ganz allein!“
„Ich gehöre aber zu den andern!“ sagte Funny Fanny. – Und dann fuhr sie etwas hastig fort: „Nein, ganz ernsthaft: ich passe nun mal nicht zu den Leuten. Auf die Entfernung ist das ja nicht so schlimm, aber wenn ich da wäre, gäbe es endlose Reibereien und schiefe Situationen. Was soll ich denn nun hingehen und meiner Kleinen die Position verderben? Dann hätte ich mir die ganze Geschichte ja auch sparen können. Meine Kleine kommt da jetzt in ruhige und stabile Verhältnisse, so wie ich sie ihr doch nicht schaffen könnte; und alles in allem ist die Sache also besser ausgelaufen , als man irgend ahnen konnte. Was will ich denn mehr? Und dann auch das Baby! Das mußt du nun doch schon selber sagen: so ’ne Groß’ mit ’nem Capotehut und mit Einmachtöpfen und silbernen Serviettenringen ist für ’nen Enkel doch entschieden stilvoller und nützlicher als ’ne Groß’ vom Tingeltangel!“
Damit zog sie ihren Mantel an und drehte mir, wie zufällig, den Rücken. Aber weil der Spiegel da war, sah ich trotzdem, wie ihr plötzlich die Tränen hervorstürzten. Im Nu war ich neben ihr und legte ihr den Arm um die Schulter: „Klara!“ stieß ich hervor und wurde mir erst hinterher bewußt, daß ich ganz unwillkürlich ihren wirklichen Namen gebraucht hatte. –
Eine Weile war es ganz still in der Garderobe; man hörte nur ein paar schluchzende Atemzüge…
Aber dann putzte sie sich mit Energie die Nase, gab mir einen Kuß und schob mich samt meinen weiteren Sympathiebezeigungen zur Tür hinaus: „Du bist ein lieber Kerl“, sagte sie, „und es tut einem auch ganz gut, wenn man es mal so alles von sich tun kann, aber jetzt muß ich dich rausschmeißen, sonst kriege ich noch allzu viel Großmuttergefühle. – Und ich muß gleich noch einen Direktor und einen Agenten betören – die Kerls sind nur heute da, und das fluppt nicht mehr so mit den Engagements wie vor zehn Jahren! – Addio – weißt du den Weg? Ich gehe nicht mit – ich komme hier heraus. Den langen Gang da herunter und dann die Treppe rechts! – Addio! A rivederci!“
Und damit schlüpfte sie selber in einen übel beleuchteten Seitengang. – Und all diese starke opferwillige Liebe, diese tapfere Resignation verschwand mit ihrem zierlichen kleinen Persönchen in der Dunkelheit, als hätte der große steinerne Bau sie mit einem gleichgültigen Gähnen eingeschluckt…
Aber als ich nachher durchs Vestibül ging, traf ich den Dicken, der in der Vorstellung vor mir gesessen hatte. Er erzählte gerade einem Bekannten von Funny Fanny, und dabei mußte er wieder so schrecklich lachen, daß er ganz blau wurde und man denken konnte, er würde gleich einen Schlag kriegen. – – –

(aus: Leonore Niessen-Deiters, "Die unordentlich verheiratete Familie". Stuttgart, Berlin 1912, S. 29 - 46)

 

 

 

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