Das war im Varieté. –
Das Publikum heulte, wieherte. Vor mir
saß ein dicker Mann, der so schrecklich lachen mußte,
daß er ganz blau war; ich dachte, er müßte gleich
einen Schlag kriegen oder ersticken. Dieser dicke Mann konnte vor
lauter Lachen kaum noch klatschen; aber die übrigen applaudierten
dafür um so lebhafter, so daß es momentlang einen ohrenbetäubenden
Lärm gab.
Oben auf der Bühne stand Funny Fanny,
die drollige Fanny (im Privatleben Frau Klara Lobschütz und weiland
Ehegespons meines liebenswürdigen Vetters Egon Lobschütz),
und machte ein Gesicht, als wollte sie gleich sagen: Ihr seid doch
nun eigentlich eine dämliche Bande! – Statt dessen bemerkte
sie, als der Lärm etwas nachließ: „Kapellmeister!
Geben wir ihnen noch die Salome zu! Sie ist zwar so abgedroschen,
daß sie nur noch auf Minderbegabte wirkt – aber machen
wir sie ihnen!“
Fünf Minuten darauf ging das Geklatsche
von neuem los. – Dabei hätte man wirklich kaum sagen können,
was denn eigentlich so hinreißend drollig an ihr war: sie parodierte
ein paar Tänze und Tänzerinnen, karikierte nur ganz leicht,
beinahe nachlässig, und eher ironisch als grotesk – aber
jede Miene, jede Geste wirkte so unwiderstehlich, als ob sie die Lachmuskeln
ihres Publikums an einem einzigen Fädchen hätte und nur
zu zupfen brauchte, um sie in Bewegung zu setzen.
Diesmal kam sie zum Schluß an die
Rampe und bedankte sich mit einem richtigen Varietéknicks,
was mich, ich weiß nicht warum, ärgerte: es paßte
nicht zu ihr. Vielleicht dadurch veranlaßt, schoß mir
der nörglige Gedanke durch den Kopf: Da: Warum steht sie nun
da und macht Faxen und gibt für dieses Volk hier den Clown ab?
Also im letzten Grunde ist es doch wieder das alte Lied von allen
Bühnen- und Varietéleuten: wenn man ihn einmal gekostet
hat, dann kommt man nicht wieder davon los – vom Applaus des
süßen Pöbels!
Ich war nämlich auf Grund unserer
freilich etwas fragwürdigen Verwandtschaft vor ihrer Nummer in
ihrer Garderobe gewesen, und da hatte sie mir inbrünstig versichert:
der ganze Kram hinge ihr lang zum Halse heraus! Und außerdem
hatte sie mir erzählt, daß sie seit zehn Jahren gescharrt
und gespart hätte, um sich eine Einrichtung zu kaufen, ihre Tochter
zu sich holen und irgendwo ganz still und friedlich leben zu können.
Da sie mir besagte Einrichtung liebevoll und im Detail beschrieben
hatte, mußte ich doch annehmen, daß das erwünschte
Ziel auch erreicht wäre. – Freilich hatte uns just an dieser
Stelle unserer Unterhaltung die Klingel des Inspizienten gestört,
aber man wird in diesem Zusammenhang begreifen, daß mir ihre
Handlungsweise einigermaßen unlogisch vorkam. Und man wird ferner
verstehen, daß ich auf die folgenden Nummern – den gelehrten
Schimpansen und den Mann, der sich allabendlich von einem Auto überfahren
ließ – verzichtete und statt dessen lieber in Funny Fannys
Garderobe schlüpfte, um mir den Schlüssel zu dieser unlogischen
Geschichte zu holen. –
Als ich hinein kam, saß sie auf
der Lehne des einzigen Stuhles vorm Spiegel, in so einer Art von Negligé
oder Pudermantel, und bürstete ihre kurzen, krausen Haare. –
Ich setzte mich also meinerseits auf ihren Kostümkoffer, und
nach einigen belanglosen Präliminarien entwickelte sich folgendes
Gespräch zwischen uns.
„Hör mal“ – sagte
ich. „Macht dir das nun eigentlich wirklich Freude, wenn das
Volk da spektakelt?“
„Nee!“ – sagte sie,
legte die Bürste weg und zwirbelte sich andächtig die Stirnhaare
zu einem spitzen, steilen Schopf zusammen.
„Ja, aber warum bleibst du denn
immer noch dabei?“
„Weil ich immer noch die üble
Notwendigkeit spüre, essen und schlafen zu müssen!“
bemerkte sie lakonisch und drehte sich dabei geschickt auch über
jedem Ohr ein spitzes Schöpfchen.
„Du hast mir aber doch vorhin erzählt,
du hättest jetzt deine eigene Einrichtung und eine kleine Rente,
und -"
„Hättest -?“ unterbrach
sie mich. „Nee, ich habe gesagt, ich hätte sie gehabt!“
Ich kam mir vor wie ein Inquisitor, aber
ich wollte das nun einmal gerne wissen. „Wo ist sie denn wieder
hingekommen?“ fragte ich.
„Verjuckt – alles verjuckt!“
bemerkte sie seelenruhig. Und dabei angelte sie in ihrem Toilettenkram
herum, bis sie drei bunte Bändelchen herausgefischt hatte.
Ich guckte sie mir dabei von der Seite
an. Auf der Bühne, bei Rampenlicht, sah sie ja noch fabelhaft
jung aus; aber in Wirklichkeit mußte sie in den Dreißigen
sein, und schließlich sind Exzentriktänzerinnen nicht gerade
ein Artikel, der mit dem Alter im Kurs steigt. „Was für
ein Leichtsinn!“ sagte ich deshalb nach einer Weile.
„Gott – Leichtsinn war es
schon!“ konstatierte sie zustimmend. – „Aber leider
nicht von mir!“ ? ? ? –
Diesmal konnte ich sie nur fragend anschauen.
„Und dann, weißt du, ist es
auch ein Elend, daß die Leute immer gleich Kinder kriegen!“
fuhr sie nach einem Weilchen tiefsinnig fort, nahm die Bändelchen
und band sich ihre drei Haarschöpfe damit zu einer richtigen
dreizipfligen Clownfrisur zurecht. Hierauf guckte sie zuerst in den
Spiegel und dann drehte sie sich plötzlich zu mir herum:
„Guck mal: bin ich so nicht ’ne
patente Groß’?“
„Ach geh! Du und ’ne Groß‘!“
„Wetten, daß ich eine bin?“
sagte sie. – Und nach einer Weile: „Das ist es ja gerade!
Ich sage dir, der Mensch kann sich eilen so viel er will, er bleibt
doch immer hinter seiner Zeit zurück! Kaum ist man mit seinen
Finanzen so weit, daß man sich erlauben könnte, Mama zu
sein – schwapp! Fängt man auch schon an Großmama
zu werden!“
Dies war nun alles ein bißchen dunkel
und mysteriös. Und da das Fragen in solchen Angelegenheiten unter
Umständen eine heikle und mißliche Sache sein kann, schwiegen
wir ein Weilchen beide still, während welcher Zeit Funny Fanny
ihre Trikots mit Strümpfen und Schuhen vertauschte. Dann schlug
ich bescheiden vor:
„Möchtest du nicht einmal freundlich
bedenken, daß ich gar nicht weiß, wovon du redest? –
Vielleicht erzählst du mir das einmal in der richtigen Reihenfolge
hintereinander?“
„Noch hintereinanderer?“ sagte
sie und tauchte aus ihrer gebückten Stellung auf. „Wo soll
man denn da anfangen? Daß ich mal mit deinem angenehmen Cousin
verheiratet war, das weißt du doch?“
„Das ist aber auch, offen gestanden,
so ziemlich alles!“
„Und daß mein Herr Vater mich
seinetwegen mit seinem Fluch beehrte? Richtiggehendem Fluch –
nicht bloß so in Kreuzstich auf Stramin gestickt wie ’n
Haussegen! – Übrigens ein bedeutend vereinfachtes Verfahren,
wenn man sonst in Verlegenheit kommen könnte, Vermögensstücke
herausrücken zu müssen! – Und daß ich ursprünglich
zwei Kinder hatte?“ –
„N – nein. Bitte bedenke,
daß wir alle von meinem Vetter seit Jahren nichts gehört
haben!“
„Ich auch nicht. – Gott sei
Dank übrigens. – Das zweite Kind war ’n Junge. Ein
süßer Bengel! – Der ist eigentlich schuld, daß
ich ans Varieté gekommen bin. Das Kind hat mal einen ganzen
Abend lang vor Hunger geweint, und du kannst dir nicht vorstellen,
was er sonst für ein süßes und braves Kerlchen war.
Ich stand in den Tagen gerade vor der Frage: sollst du nun oder sollst
du nicht? – aber das hab’ ich nicht ausgehalten. Da bin
ich am nächsten Tag hingegangen und hab‘ mich zu einer
ganz gemeinen Schmiere vermietet, bloß um mal ’n paar
Groschen zu verdienen.“
„Und dein Mann?“ – fragte
ich. „Wo war der denn da?“
„Du hast wahrhaftig recht, man muß
es in der richtigen Reihenfolge erzählen“ – sagte
sie. – „Also schau: Sechzehn war ich alt, da hab’
ich ihn geheiratet. Und mich zu diesem Zweck mit meinem Vater vollständig
auseinander geeinigt. Siebzehn: da ist mein Fräulein Tochter
erschienen. Achtzehn: mein Herr Sohn. Neunzehn: da ist dein lieber
Herr Cousin auf Erholungsreise gegangen, aber leider nicht wiedergekommen.
Ich hätt’ ihn auch nicht wiedergenommen. Aber dagelassen
hat er uns auch nichts. Na, das war denn nicht so einfach. Tanzen
hab’ ich immer gut gekonnt, aber das war natürlich nicht
das, was mir zunächst einfiel, und mit anderen Talenten und Kenntnissen
bin ich leider nicht überbürdet. Also hab’ ich mich
zunächst damit beschäftigt, mir die Finger krumm zu schreiben
an Offerten und Stellungsgesuchen und langsam, Stück für
Stück, unsere Einrichtung zu verkaufen oder zu versetzen, wie
es gerade kam. Aber natürlich kam einmal der Tag, an dem der
Kram alle war. Und dann hat es also zunächst mit einer Schmiere
angefangen.“
„Ja, aber!“ (Ich war ganz
entsetzt.) „Hast du denn bei einer Schmiere so viel verdienen
können?“
„Gott, fürstlich war es gerade
nicht!“ sagte sie und zuckte die Achseln. – „Aber
durch die Schmiere bin ich dann an einen ganz geschickten Impresario
gekommen. Ich glaube, er hatte sogar eine Zeitlang die Wahnidee, ich
würde ihn heiraten. Ich habe ihn auch ruhig bei der Illusion
gelassen, denn das hat mir viel Geld eingebracht, und das brauchte
ich, um die Kinder anständig unterzubringen. – Derselbe
Mann hat mich auf die Idee mit den lustigen Sachen gebracht, und er
hat Recht gehabt – so was zieht immer! Die Leut’ wollen
eben lachen für ihr Geld – das kann ihnen kein Mensch übelnehmen,
ernsthafte Sachen kriegt man schon ganz umsonst genug. Aber schau,
- nun kommt etwas, das ist mir nahegegangen.
Eines Tages bin ich in Neuyork im Engagement.
Da krieg’ ich eine Depesche, daß mein kleiner Junge den
Scharlach hat. Drei Tage drauf war er schon tot, und ich hab’
ihn überhaupt nicht mehr gesehen! – Siehst du, von dem
Tage an hab’ ich angefangen wie ein Geizhals zu scharren und
zu kratzen, immer nur Geld zu kratzen, damit ich wenigstens das Mädel
in absehbarer Zeit zu mir holen könnte!“
Hier waren wir nun wieder ungefähr
an demselben Punkte angelangt, an dem wir waren, als der Inspizient
uns mit seiner Klingel störte. Ich war ernstlich begierig, wie
es jetzt weitergehen würde; aber Funny Fanny griff, anstatt fortzufahren,
nach ihren Sachen und begann wieder in ihre alltäglichen Hüllen
zu schlüpfen. Ich sah ihr ein Weilchen schweigend zu; aber dann
konnte ich es nicht mehr aushalten, und da mir eine Beileidsbezeigung
nach so langer Zeit etwas gesucht vorkam, namentlich Funny Fannys
ganzer Art gegenüber, sagte ich nur: „Nun, und - ?“
„Du mußt dir das nun nicht
ganz so einfach vorstellen,“ sagte sie; „auch wenn man
an sich ganz gute Gagen hat. Die Toiletten, die Reisen, die Agenten,
na, und was sonst noch so drum und dran hängt – das frißt,
sag’ ich dir! Und zwischendurch wollten wir doch auch leben,
meine Kleine und ich, und das Sparen war von jeher nicht meine stärkste
Seite!“
„Ich meine nur, hast du es denn
schließlich erreichen können?“
„O ja – ich schon!“
sagte sie und schwieg schon wieder.
Ich sah sie ungewiß an. Einesteils
mochte ich sie natürlich nicht nach Dingen fragen, über
die sie vielleicht nicht gern sprach, aber andernteils hatte ich die
bestimmte Empfindung, als ob da nur irgendein Kummer säße,
dem es vielleicht ganz gut täte, wenn er einmal ausgesprochen
wurde. „Wieso?“ fragte ich deshalb nach einer Weile.
„Tja. – Das ist keine ganz
so einfache Geschichte“, fing sie endlich an. „Ich hatte
also schließlich die erforderlichen Kröten wirklich zusammen.
Und auch eine ganz reizende Einrichtung; das hab’ ich dir ja
erzählt. Aber dafür hab’ ich natürlich energisch
heran gemußt, immer von einem Engagement ins andere; und als
ich schließlich hinfuhr, um mir meine Kleine zu holen, die ich
damals in ’ner ganz netten bürgerlichen Familie untergebracht
hatte, da hatt’ ich sie glücklich drei Jahre überhaupt
nicht gesehen. Mit der Korrespondenz ist das zwischen uns nun auch
so – so, wir sind beide keine großen Schriftstellerinnen
vor dem Herrn! Übrigens ist das auch schwer, wenn man in so ganz
verschiedener Umgebung lebt und sich innerlich eigentlich so wenig
kennt. Und deshalb hatt‘ ich sie noch so ganz als das unfertige,
dreizehnjährige Gör in der Erinnerung.“
Hier brach Funny Fanny wieder ab, setzte
sich vor den Spiegel und zog sich die bunten Bändelchen aus den
Haaren. Hierauf fing sie an, sich zu frisieren, und erst nach einer
ziemlichen Pause fuhr sie fort:
„Na. Ich kann das nicht so rührend
erzählen, weißt du. Also: ich fand statt meiner kleinen
Dreizehnjährigen eine sehr ausgewachsene Sechzehnjährige.
Und außerdem fand ich noch etwas, was ich gar nicht erwartet
hatte. Nämlich einen ebenfalls durchaus ausgewachsenen jungen
Mann, einen jungen Chemiker. Und dieser Chemiker und meine Kleine,
die hatten die besten Hoffnungen für mich, Großmama zu
werden!“
„Ich bitte dich!“ fuhr es
mir heraus.
„Das sagte meine Kleine auch!“
bemerkte Funny Fanny trocken. „Die Sache lag nämlich hoffnungsloserweise
so, daß der junge Mann noch völlig von seinen Eltern abhängig
war. Und die Eltern, das sind so die richtigen satten Pfeffersäcke,
denen jegliche Heiraterei ohne Bankkonto und ohne Sofa mit Umbau und
ohne Küchentücher mit Monogramm von vornherein kein Vergnügen
macht!“
Ich sah ja nun ein, daß es eine
einigermaßen unangenehme Situation ist, wenn zu einer Hochzeit
alle erwünschten Requisiten fehlen und dafür nur etwas allerseits
noch Unerwünschtes vorhanden ist; aber daß die Situation
hoffnungslos wäre, leuchtete mir nicht ein, und deshalb erlaubte
ich mir zu bemerken: „Aber ich bitte dich: wenn sie schon ‚satte
Pfeffersäcke‘ sind, hätten dann nicht sie vielleicht
das Sofa mit Umbau selber kaufen können?“
„Können!?“ – Funny
Fanny sprang temperamentvoll auf und stellte sich in Positur. „Können?
Gekonnt hätten sie es natürlich! Aber du beweist mit deiner
Frage, daß du keine Ahnung hast, was zu einer ordentlichen bürgerlichen
Ehe erforderlich ist! Bei einer anständigen, bürgerlichen
Ehe hat die Frau, hörst du? die Frau eine gediegene Mitgift zu
bekommen, und hat eine Aussteuer zu haben, und eine Verlobungstoilette,
um in einem gemieteten Wagen zu sitzen und von einem Mann in einem
schwarzen Rock Karten in vorher aufgeschriebene Häuser tragen
zu lassen; und die Eltern der Braut, unbedingt höchst respektable
Eltern, haben eine Hochzeit zu geben, zu der alle Verwandten eingeladen
werden können, und wo auf einem Nebentisch die Hochzeitsgeschenke
dieser ebenfalls höchst respektabeln Verwandten aufgebaut sind,
weißt du, was so ein angehendes Elternpaar am eiligsten braucht:
Hummergabeln und Eisdeckchen und Tiffanyvasen! Ich sage dir, ohne
das ist die Sache für ein ordentliches Schwiegerelternpaar einfach
nicht diskutabel! Ohne das ist ein ordentliches Schwiegerelternpaar
einfach nicht dazu zu kriegen, mitzutun! – Und zu alledem stelle
dir nun auch noch so ein angehendes kleines Fräulein Mama vor
und bedenke, daß es sich um den einzigen Sohn der ordentlichen
Schwiegerleute handelte, den sie schon in Gedanken mit soundso vielen
guten Partien versorgt hatten! Nein, die Geschichte war so hoffnungslos
wie nur möglich, und die Umstände waren doch auch nicht
dazu angetan, sich geduldig hinzusetzen und eine Sinnesänderung
abzuwarten!“
„Aber der junge Mann? Was sagte
denn der junge Mann dazu?“
„Gott!“ – Funny Fanny
zuckte die Achseln. „Er hatte natürlich Reue und die wundervollsten
Absichten, aber davon hat meines Wissens noch kein Mensch Kinderhemden
genäht! Und außerdem: weiß man positiv, ob einer
unter solchen Umständen wirklich Stange hält oder ob er
sich eines Tages von seinen Leuten beschwätzen läßt?
Und dabei hatte meine arme Kleine doch ihr ganzes dummes junges Herzchen
an den Menschen gehängt!“
Hier machte Funny Fanny wieder eine unvermittelte
Pause. – Aber in ihrem Schweigen lag deutlicher als in der längsten
Rede, eine wie bittere Enttäuschung das für sie gewesen
war, daß ihr einzig Kind gerade in diesem Augenblick ihr Herz
an einen ganz wildfremden Menschen hängen mußte!
„Und was hast du denn da gemacht?“
fragte ich beinahe zaghaft.
Sofort wurde sie wieder lebendig. „Was
ich gemacht habe?“ sagte sie. – „Dem Mosjö
den Kopf gewaschen hab’ ich und ihm anempfohlen, auf seinem
weiteren Lebenswege etwas mehr Selbstbeherrschung zu üben! Und
meiner Kleinen hab’ ich klargemacht, daß man nicht hinterher
heult, sondern die Nase oben hält und seine Stellung behauptet!
Und dann hab’ ich ihnen den Kram gegeben und das Geld, damit
sie leben konnten, und dann hab’ ich gesorgt, daß sie
aufs Standesamt kamen! Das hab’ ich gemacht!“
„Und zu diesem Ende hast du dich
selber all die langen Jahre in der Welt herumgeschlagen!“ schloß
ich.
Funny Fanny hatte ihren Kleiderrock zu.
– „Du sagst das so gefühlvoll,“ bemerkte sie,
„daß ich mir noch nachträglich erhaben vorkommen
könnte! Aber nun sage doch selbst: was hättest du denn getan?
Hättest du denn dein einzig Kind wegen dieser elenden Kopeken
unglücklich werden lassen? Und übrigens war es mir auch
entschieden eine Genugtuung, diesen wichtigen satten Leuten einfach
die Entscheidung aus der Hand zu nehmen: Voilà – es geht
auch ohne euch! Ihr seid vollkommen entbehrlich! – Das war ihnen
eine Lektion, sag’ ich dir, und das wird mir noch bis an mein
seliges Lebensende Spaß machen, auch wenn ich dafür auf
den Rädern liegen muß, bis es nicht einmal mehr als komische
Alte geht!“
„Na, na, na,!“ sagte ich,
noch ganz benommen von dem, was sie mir da in ein paar Sätzen
gesagt hatte. „Ganz so schlimm ist es ja Gott sei Dank nicht!
So eine Art Heim hast du ja nun doch – bei deinen Kindern!“
Funny Fanny setzte ihren Hut auf. Ich
weiß nicht: war es nur der Schatten des Huts, oder wurde sie
wirklich rot? „Warte!“ sagte sie. „Ich habe dir
noch nicht ganz fertig erzählt. – Also: Inzwischen ist
nämlich der Stammhalter angekommen. Ob die Schwiegerleute sich
nun unterdes überlegt haben, daß meine Tochter eigentlich
doch eine ganz gute Partie war, oder ob es die Rührung über
den Enkel und Namensträger tat: kurzum, bei der Taufe hat man
sich versöhnt! Große Rührszene, Tränen, Küsse
– wie das bei solchen feierlichen Familienanlässen denn
schon zu gehen pflegt. Und jetzt sind sie glücklich mit meiner
Kleinen ein Herz und eine Seele!“
„Nun – und du?!“
„Und ich – bin beim Tingeltangel!“
sagte Funny Fanny und bückte sich über ihren Handschuh.
Eine Weile war ich ganz erstarrt über den Ton, in dem das herauskam.
„Aber! Ich bitte dich! du willst
doch damit nicht sagen, daß du dich nun ausgeschlossen fühltest,
du, die du die ganze Sache gemacht hast!“ sagte ich empört
und stand auf.
„Geliebtes Mauseschwänzchen!“
(Der Handschuh ließ sich offenbar sehr schlecht schließen.)
„Man muß die Dinge nehmen, wie sie sind, und nicht, wie
sie sein könnten. Meine Kleine kann ja nichts dafür; aber
durch diese Versöhnung kommt sie doch in lauter streng bürgerliche
Kreise, in die sogenannten guten Familien einer kleinen Kaufmannsstadt.
Und nun sieh mal mich! Hier nebenan sitzt ’n Kollege von mir,
das ’s ’n dressierter Aap. Und da drüben sitzt eine,
die kriegt ihre Gage dafür, daß sie jeden Abend möglichst
viel auszieht. Hier bei uns macht sich das ja ganz stilvoll –
aber nun versetze uns drei, den Aap und den Hemdenmatz und mich mal
in so ’nen soliden, ehrsamen bürgerlichen Sonntagsnachmittagskaffee,
und du wirst zugeben, daß das eine etwas allzu unverträgliche
Mischung gibt!“
„Aber was willst du denn mit den
andern!“ sagte ich, etwas aus der Fassung gebracht. „Es
handelt sich doch um keinen als um dich ganz allein!“
„Ich gehöre aber zu den andern!“
sagte Funny Fanny. – Und dann fuhr sie etwas hastig fort: „Nein,
ganz ernsthaft: ich passe nun mal nicht zu den Leuten. Auf die Entfernung
ist das ja nicht so schlimm, aber wenn ich da wäre, gäbe
es endlose Reibereien und schiefe Situationen. Was soll ich denn nun
hingehen und meiner Kleinen die Position verderben? Dann hätte
ich mir die ganze Geschichte ja auch sparen können. Meine Kleine
kommt da jetzt in ruhige und stabile Verhältnisse, so wie ich
sie ihr doch nicht schaffen könnte; und alles in allem ist die
Sache also besser ausgelaufen , als man irgend ahnen konnte. Was will
ich denn mehr? Und dann auch das Baby! Das mußt du nun doch
schon selber sagen: so ’ne Groß’ mit ’nem
Capotehut und mit Einmachtöpfen und silbernen Serviettenringen
ist für ’nen Enkel doch entschieden stilvoller und nützlicher
als ’ne Groß’ vom Tingeltangel!“
Damit zog sie ihren Mantel an und drehte
mir, wie zufällig, den Rücken. Aber weil der Spiegel da
war, sah ich trotzdem, wie ihr plötzlich die Tränen hervorstürzten.
Im Nu war ich neben ihr und legte ihr den Arm um die Schulter: „Klara!“
stieß ich hervor und wurde mir erst hinterher bewußt,
daß ich ganz unwillkürlich ihren wirklichen Namen gebraucht
hatte. –
Eine Weile war es ganz still in der Garderobe;
man hörte nur ein paar schluchzende Atemzüge…
Aber dann putzte sie sich mit Energie
die Nase, gab mir einen Kuß und schob mich samt meinen weiteren
Sympathiebezeigungen zur Tür hinaus: „Du bist ein lieber
Kerl“, sagte sie, „und es tut einem auch ganz gut, wenn
man es mal so alles von sich tun kann, aber jetzt muß ich dich
rausschmeißen, sonst kriege ich noch allzu viel Großmuttergefühle.
– Und ich muß gleich noch einen Direktor und einen Agenten
betören – die Kerls sind nur heute da, und das fluppt nicht
mehr so mit den Engagements wie vor zehn Jahren! – Addio –
weißt du den Weg? Ich gehe nicht mit – ich komme hier
heraus. Den langen Gang da herunter und dann die Treppe rechts! –
Addio! A rivederci!“
Und damit schlüpfte sie selber in
einen übel beleuchteten Seitengang. – Und all diese starke
opferwillige Liebe, diese tapfere Resignation verschwand mit ihrem
zierlichen kleinen Persönchen in der Dunkelheit, als hätte
der große steinerne Bau sie mit einem gleichgültigen Gähnen
eingeschluckt…
Aber als ich nachher durchs Vestibül
ging, traf ich den Dicken, der in der Vorstellung vor mir gesessen
hatte. Er erzählte gerade einem Bekannten von Funny Fanny, und
dabei mußte er wieder so schrecklich lachen, daß er ganz
blau wurde und man denken konnte, er würde gleich einen Schlag
kriegen. – – –
(aus: Leonore Niessen-Deiters, "Die unordentlich verheiratete Familie". Stuttgart, Berlin 1912,
S. 29 - 46)
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