Der Morgenwind strich über die Höhen.
Er kam vom Rhein, von den fernen Sieben Hügeln. Er blies den
Bürgern der guten Stadt Siegburg in die Schornsteine, strich
neugierig um den spitzen Kegel der Siegburg selbst, die hocherhobenen
Hauptes all das Elend zu leugnen sucht, das sie birgt – als
Zuchthaus bergen muß – und flüchtete sich dann entsetzt
weiter, ins Tal der Agger – in den großen Forst, den Lohmarwald.
Da legte er sich schlafen und überließ der Sonne das fernere
Regiment.
Die Bäume, die eben noch murmelten
und rauschten, wurden still. Die Gräser schüttelten nicht
mehr die Köpfe über die schwere Last der Tautropfen. Sie
wußten: nun würden die Sonnenstrahlen durch die Zweige
klettern und sie fortwischen, sie trinken, mit sich fortnehmen. Der
ganze Wald lag regungslos und erwartete die Herrschaft der Tages.
– – – – – – – – –
– – – – – – – – –
– – – –
Mitten durch das Dickicht führt
ein schmaler, enger Pfad, ganz eingewachsen von Brombeergerank,
niedrigem Nadelholz – Gestrüpp aller Art. Er windet sich
rechts, er windet sich links, über Gestein, über Sand
– über ein kleines Wasser dem Waldinnern zu.
Nichts ist zu hören als das Murmeln
des kleinen Baches, der eilfertig der Agger zuläuft. Es ist
fast, als ob der blaue Morgennebel jeden Ton, jedes Geräusch
in sich aufsöge. Doch da – was ist das? Ein Knacken im
Unterholz. – Ein Reh. das sich vom Lager erhebt? Ein Eichhörnchen?
Wieder ein Knacken. Wie ein Zweig,
der unter dem Tritt bricht.
Dann wieder tiefe Stille. – –
Nun fluten plötzlich die ersten
Sonnenstrahlen in den Forst, gerade hinein in den schmalen Pfad.
Sie laufen über den gebrechlichen Steg und tanzen auf dm munteren
Wässerlein. Gleich darauf werden sie durch eine Wegkrümmung
aufgehalten und versuchen neugierig, in das Dickicht hineinzukriechen,
Von jenseit des Wässerleins kommt
ein Mensch durch den Wald. Ein junges Weib mit großen frohen
Augen, die beglückt und freudig in den jungen Tag strahlen.
Sie geht langsam, genießend, wie um einen seltenen Genuß
völlig auszukosten. Gras und Moos dämpfen ihre Schritte.
Einmal bleibt sie stehen und betrachtet lange mit den erstaunt entzückten
Augen eines Stadtkindes einen blühenden Zweig. Dann biegt sie
um die Wegkrümmung, dem Steg zu.
Im selben Augenblick prallt sie entsetzt
zurück.
Vor ihr, jenseits des kleinen Steges,
steht ein anderer Mensch, ein Mensch, der ebenso entsetzt zurückfährt
wie sie selbst.
Was will dieser Mensch, dieser Mann
in dem stillen,
taufrischen, morgendlichen Wald?
Denn er ist nicht gekommen, um die aufgehende
Sonne zu bewundern! – Seine Kleider, die ihm lose, wie fremd
um den Leib hängen, sind naß vom Nachttau, stellenweise
schmutzig. Sein bleiches Gesicht ist hässlich verzerrt, der
Mund zusammengekniffen, die Augen – wie die Augen eines gejagten
Raubtieres – starr und bösartig. Und was ist es doch,
was diesen abstoßenden Kopf so merkwürdig, so verschieden
von anderen Menschenköpfen macht?!
In diesem Augenblick sieht das Mädchen,
dass dieser Kopf, diese pergamentene Haut, glattrasiert ist –
nicht nur das Gesicht, der ganze Schädel.
Und blitzschnell, wie eine Vision, steht
der spitze Kegel der Siegburg
vor ihrem Auge.
Da weiß sie, woher dieser Mann
kommt.
Die beiden Menschen stehen sekundenlang
regungslos, nur durch das schmale Brett des Steges getrennt und
starren einander an.
Dann verdüstert sich das knochige
Gesicht des Mannes, seine Augen blitzen. Was will die da? Was hat
die zu spionieren? Was! Womöglich alles umsonst – die
lange Vorbereitung, die Anstrengung, die List, die atemlose Flucht
in den dichten Wald, der ihm weiterhelfen soll! – Alles vergebens
– nur wegen dieser einzigen Unvorsichtigkeit? Warum muß
dieses verfluchte Frauenzimmer im Walde umherstreichen, wenn noch
alle Menschen schlafen? – Nun wird sie Lärm machen, da
unten im Dorf – er wird erwischt. ehe er die helfenden Gefährten
erreicht – und dann ist die Freiheit, die Freiheit wieder
hin – auf wie lange, wie furchtbar lange!
– Warum? Weshalb?
Wegen der verrückten Idee irgend
einer Sommerfrischlerin! – Oho! – Wie, wenn sie nun
gar nicht in das Dorf zurückkehrte? – Wenn sie da im
Dickicht läge. Ehe einer sie fände – dann wäre
er längst weit!
– Dann wäre er in Sicherheit.
Die beiden Menschen stehen und starren
einander an – sprachlos, regungslos – er in der Haltung
einer Katze: Wenn du schreist! Wenn du schreist! – Sie erschreckt,
erstaunt, aber noch mehr erschüttert: Was muß ein Mensch
gelitten haben, dessen Gesicht so zerstört ist, der so aussieht!
Sekundenlang stehen sie – eine
Ewigkeit scheint es. Totenstille! Nur das Wässerchen murmelt
und läuft geschwind der Agger zu.
Plötzlich hebt ein Vogel an zu
singen. Zwitschernd erst, dann immer lauter, immer jubelnder! Andere
fallen ein. Wie sich das freut! Wie das singt! Wie das lockt!
Die beiden Menschen ändern unwillkürlich
die Haltung. Das Mädchen richtet sich auf, wie befreit. Dem
Manne sinken die Arme schlaff herunter, das Starre in seinem Gesicht
löst sich, seine Augen werden unsicher.
Nun scheinen alle Vögel des Waldes
erwacht zu sein.
Das ist ein Flöten, ein Jubeln!
Das Mädchen, im hellen Sonnenlicht
stehend, sieht dem Manne voll in die Augen, sehr ernst, aber ohne
jede Furcht.
Da tritt er fast unbewusst zurück
und gibt den Weg frei. Sie, ihn immer ruhig ansehend, setzt den
Fuß auf das schmale Brett, kommt vorwärts.
Nun stehen sie in dem engen Pfad momentlang
Auge in Auge. Keiner spricht ein Wort. Nur die Augen sprechen. Die
ihrigen sagen: Sei ruhig! Ich weiß nicht wer du bist. Ich
werde nicht reden! Die seinigen antworten: Geh! Geh unbesorgt vorüber.
Ich werde dich nicht anrühren. – Du!
Er sieht sie an. Etwas Unbekanntes,
Sonderbares
schnürt ihm die Kehle zu.
Ihr Kleid streift des Mannes Hand. Er
preßt sich noch fester gegen das Gestrüpp – fast,
wie um ihr die Berührung zu ersparen.
Nun ist sie vorüber.
Ohne den Kopf zu wenden, ohne Hast,
ohne Misstrauen schreitet sie gleichmäßig weiter in die
Sonne.
Der Mann sieht ihr nach. Nein. Die wird
nicht reden.
Die wird ihn nicht verraten.
Dann ein Satz über den Steg, brechende
Zweige – noch ein Rascheln im dürren Laub – und
er ist spurlos verschwunden. Nur das Wasser murmelt, die Vögel
singen.
Jetzt steht die Sonne voll und groß
über dem Forste. Die letzten Nebel sind verflattert, alle Tiere
des Waldes sind wach. Alles ist Leben, ist Freude – es herrscht
der Tag, das Licht.
– – – – – – – –
– – – – – – – –
– – – – – –
Fiel ein lichterer Strahl in die Seele
des Mannes, der nicht tat, was er doch hätte tun können?
Streifte sie ein Schatten seiner Schuld?
Gottes Sonne leuchtete in den Forst.
Gottes Vögel sangen in den Zweigen.
(aus: Leonore Niessen-Deiters, „Mitmenschen“.
Stuttgart, Berlin 1908, S. 79 – 84) |