WIEDERKEHR DER FOLTER?

Medizinhistorische Teilprojekt

abstracts

 

Medizinhistorische Untersuchung der Wahrnehmung der Folter
und ihrer Folgeerkrankungen

von Dr. Elke Mühlleitner (Gießen) und Prof. Dr. Johannes Kruse (Gießen)

Der medizinhistorische Teil des Projekts beschäftigt sich mit der Wahrnehmung und Darstellung der Folter und ihrer Folgeerkrankungen aus medizinischer, psychologischer und psychotherapeutischer Sicht. Im Mittelpunkt wird die Entwicklung des Traumakonzeptes und der Folterfolgestörungen in den Publikationsorganen der Medizin und Psychotherapie im deutschsprachigen Raum seit 1945 stehen.
Nach Jahrzehnten der Leugnung wachsen in der Medizin und Psychologie zunehmend das empirische Wissen und ein Bewusstsein über die lang anhaltenden Folgen der Folter für das Opfer.
Welche Definitionen von Folter liegen dem Krankheitsverständnis zugrunde, welche Narrationen werden entwickelt bzw. hat sich die Wahrnehmung von Folter und ihrer Folgeerkrankungen in der Medizin insgesamt gewandelt? Wo können die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge hergestellt werden bzw. scheinen sie überhaupt im Kontext der Medizin und Psychologie auf?
Wie hat sich die Medizin mit den psychischen Folgen der Folter über die Jahre auseinandergesetzt und wie haben sich Diagnostik, Begutachtung und die Behandlungsformen an diese Auseinandersetzung angeschlossen?
Mehr als ein Jahrhundert diskutierte die Medizin, ob äußere Extrembelastungen überhaupt lang anhaltende psychische Beeinträchtigungen nach sich ziehen können. Im Wandel der Zeit wurde immer wieder diskutiert, (a) ob die Betroffenen an einer reaktiven Krankheit leiden, (b) ob sie simulieren und betrügen, um sich einen finanziellen Vorteil zu erschleichen, (c) ob sie vor dem Ereignis schon psychisch erkrankt waren, (d) ob diese Erkrankungen primär hirnorganische Beeinträchtigungen darstellen, oder (e) ob sie unter einer primären psychischen Störung leiden.
Die Beantwortung dieser Fragen hatte nicht nur Konsequenzen für die Diagnostik und Therapie der extrem Traumatisierten, sondern insbesondere auch für die Begutachtung in Entschädigungsprozessen. Wie haben sich etwa Ergebnisse der Medizin und Psychotherapie auf z.B. die Asylfrage oder die Entschädigung von Folteropfern aus der ehemaligen DDR ausgewirkt? Und – wenn überhaupt – gibt es Untersuchungen über die Täter?
Folter wird in der Medizin und Psychologie als extreme Traumatisierung verstanden und im Rahmen der Posttraumatischen Belastungsstörung aber auch in den Krankheitsbildern Anpassungsstörung oder lang anhaltende Persönlichkeitsveränderung diskutiert. Die PTBS-Diagnose erweist sich häufig als unzureichend, um Folgestörungen nach Extrembelastungen zu beschreiben und es stellt sich die Frage nach der spezifischen Krankheitsentität als Folge der Folter. Zur Beantwortung dieser Frage soll nicht nur die deutschsprachige Literatur herangezogen werden sondern auch auf den aktuellen Kontext in der englischsprachigen Literatur ausgegriffen werden.

 

Medizinisch-Psychologische Untersuchung

von Maximiliane Brandmaier

Das derzeitige, von der UN-Anti-Folter-Konvention geprägte Verständnis der Folter als staatlich veranlasste, vorsätzliche Zufügung großer körperlicher oder seelischer Schmerzen oder Leiden zu einem bestimmten Zweck verleitet dazu, in ihr eine folgenlose Kombination von Körperverletzung und Nötigung zu sehen, was sich so zwar auch in visuellen Darstellungen findet, mit den neueren medizinischen und psychologischen Erkenntnissen aber nicht in Einklang steht. Um diese Diskrepanz zu erhellen, sollen die komplexen der Folter für die Überlebenden anhand eines systematischen Reviews empirischer Studien untersucht werden.
Die medizinisch-psychologische Forschung zu Traumatisierung hat in den letzten 20 Jahren das Wissen über die schweren und lang anhaltenden gesundheitlichen Folgen extremer Gewalt maßgeblich erweitert. Doch noch immer gibt es im Vergleich zur allgemeinen Traumaforschung wenig wissenschaftliche Erkenntnisse über die komplexen gesundheitlichen Folgen, welche durch Folter verursacht werden. Solche Erkenntnisse sind nicht nur notwendig, um die Folgen von Folter umfassend abschätzen zu können und Betroffenen entsprechend juristische Anerkennung zu verschaffen. Es bleibt auch eine offene Frage, ob Folter im Vergleich zu anderen Formen extremer Gewalt spezifische gesundheitliche Konsequenzen hat (Steel et al. 2009) und welche therapeutischen Hilfen sich als hilfreich für die Überlebenden erweisen. 
Folter ist eine Form außergewöhnlicher und extremer Gewalt, in deren Folge die meisten Betroffenen psychische, psychosomatische und somatische Erkrankungen entwickeln (Gorst-Unsworth & Goldenberg 1998; Quiroga & Jaranson 2005). Die Folgen der Extremtraumatisierung werden im medizinischen Kontext im ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation) als Anpassungsstörungen, als Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) oder als lang anhaltende Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastungen konzeptualisiert. Erfahrungen aus der klinischen Praxis werfen die Frage auf, ob diese Klassifikationen zum Verständnis der psychischen Folgen der Folter zu kurz greifen (Becker 2006). Die PTSD-Diagnose erweist sich häufig als unzureichend, um Folgestörungen nach Extrembelastungen zu beschreiben. Einerseits erfüllen zahlreiche Opfer nur einen Teil der diagnostischen Kriterien der PTSD, gleichzeitig leiden sie aber unter Depressionen, Angstzuständen, Suchtproblematiken, dissoziativen Störungen und chronischen somatoformen Schmerzzuständen (Campell 2007). Auch neuropsychologische Störungen, sowie ausgeprägte Identitätsstörungen und Schwierigkeiten in den interpersonellen Beziehungen werden berichtet. Um diesem Störungsbild gerecht zu werden, wurde daher das Konzept der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (Herman 1992) sowie im amerikanischen Sprachraum die diagnostische Kategorie DESNOS (disorder of extrem stress, not otherwise specified) diskutiert, ohne jedoch Eingang in den offiziellen Diagnosekanon zu erhalten. Nicht nur das Erleben, sondern auch die die Zeugenschaft von Folter kann eine traumatisierende Wirkung haben. Auch beeinflussen die psychosozialen Faktoren nach dem Erleben der Folterung die weitere gesundheitliche Entwicklung der Überlebenden. 
Ziel dieses Teilprojekts ist es, ein aktuelles systematisches Review zu erstellen, das die empirischen Arbeiten zu psychologischen, körperlichen und sozialen Folgen der Folter in ihrer Komplexität anhand einer definierten Suchstrategie zusammenfasst. Dazu erfolgt zunächst eine Auseinandersetzung mit im medizinisch-psychologischen Kontext gängigen Definitionen von Folter (der UN-Antifolterkonvention von 1984 und der Tokio-Deklaration des Weltärztebundes von 1975). Anschließend werden anhand zuvor festgelegter Kriterien in den Datenbanken MEDLINE, PsycInfo, PILOTS und Psyndex empirische Studien recherchiert, die zwischen den Jahren 2000 bis 2011 veröffentlicht wurden. Das systematische Review wird entsprechend dem PRISMA-Statement  (Moher et al. 2009) durchgeführt und beinhaltet eine Darstellung der identifizierten Studien und der Studienauswahl, eine Qualitätseinschätzung der Studien, die Datenerhebung und die Zusammenfassung der Daten. Dabei sollen auch covariate Einflussfaktoren auf die Entwicklung von Folgestörungen ermittelt werden, wie z.B. asyl- und fluchtbedingte Lebensumstände. 
Abschließend erfolgt eine Einordnung der Daten in den interdisziplinären Zusammenhang des Forschungsprojekts. So sollen Überlegungen angestellt werden, wie durch ein differenziertes wissenschaftliches Verständnis der Folter und ihrer Folgen die gesellschaftlichen, in Besonderheit auch die juristischen und medienrechtlichen Verfahren zur Ächtung von Folter gestärkt werden können. Hinsichtlich der asylrechtlichen Fragestellungen wird anhand des Reviews evidenzbasiert zu den Fragen Stellung bezogen, welche Störungen als Folge der Folter in aufenthaltsrechtlichen, strafrechtlichen und sozialrechtlichen Auseinandersetzungen anzusehen sind. Hinsichtlich der medienwissenschaftlichen Diskussion gibt das Review einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu den Folgen der Folter und ermöglicht einen Abgleich mit der medialen Darstellung. 



Literatur: 

Becker, D. (2006), Die Erfindung des Traumas – Verflochtene Geschichten, Freiburg.

Campbell, T.A. (2007). Psychological assessment, diagnosis, and treatment of torture survivors: A review. Clinical Psychology Review, 27, S. 628-641.

Gorst-Unsworth, C., Goldenberg, E. (1998), Psychological sequelae of torture and organised violence suffered by refugees from Iraq. Trauma-related factors compared with social factors in exile, British Journal of Psychiatry, 172, S. 90 – 94.

Herman, J. (1992), Complex PTSD: A syndrome in survivors of prolonged and repeated Trauma, Journal of Traumatic Stress, 5, S. 377 – 391.

Johnson, H., & Thompson, A. (2008). The development and maintenance of post-traumatic stress disorder (PTSD) in civilian adult survivors of war trauma and torture: A review. Clinical Psychology Review, 28, S. 36-47.

Moher, D.; Liberati, A.; Tetzlaff, J.; Altman, D. G.; PRISMA, Group (2009). Preferred reporting items for systematic reviews and meta-analyses: the PRISMA statement. PLoS Medicine, 6(7): e1000097. 

Quiroga, J.; Jaranson, J.M. (2005). Politically-motivated torture and its survivors: A desk study review of the literature. Torture, 16(2-3), pp. 1-110. 

Steel, Z., Chey, T., Silove, D., Marnane, C., Bryant, R.A., & Ommeren, M. van (2009). Association of torture and other potentially traumatic events with mental health outcomes among populations exposed to mass conflict and displacement. A systematic review and meta-analysis. JAMA, 302(5), 537-549.

Folter und Asyl

von Mareike Hofmann

Das asylrechtliche Teilprojekt beschäftigt sich mit der Begutachtung von Folter und Folter-folgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren aus juristischer sowie psychologischer und medizi-nischer Sicht.
In der Praxis der Begutachtung entwickeln sich mittlerweile Standards auf medizinischer und juristischer Seite: Die Bundesärztekammer bietet ein Fortbildungscurriculum zur „Begutach-tung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren“ an, das Bundes-verwaltungsgericht formulierte Mindestanforderungen an fachärztliche Atteste (NVwZ, 2008, 330). Besonderheiten bei der Begutachtung von traumatisierten Menschen sollen hier Berück-sichtigung finden. Ob die ärztlichen/psychologischen Gutachten den Qualitätsanforderungen der Begutachtung entsprechen und unter welchen Bedingungen ein SV-Gutachten vom zu-ständigen Richter eingeholt wird, soll in diesem Projekt untersucht werden.
Im Zentrum des juristisch-medizinischen Diskurses stehen zwei Problembereiche, die sich zwi-schen den Gerichten und den ärztlich/psychologischen Sachverständigen (SV) aufspannen. (a) Sowohl das Gericht als auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erwarten von den Opfern eine genaue Schilderung der Folter, um anhand der Details die Plausibilität der Aussagen zu prüfen. Aufgrund des Krankheitsbildes der Opfer sind diese zunächst vielfach nicht in der Lage, sich adäquat zu erinnern. Neben Konzentrationsschwierigkeiten können vielfältige Gedächtnisstörungen auftreten. Traumatisierte Menschen vermeiden oft bewusst Gedanken, Gefühle oder Gespräche, die mit dem Trauma in Verbindung stehen sowie Aktivi-täten, Orte oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen können. Manche Per-sonen können sogar ganze Teile des Traumas nicht erinnern. Zudem können Erinnerungen ans Trauma intensive Belastungen bis hin zu Retraumatisierungen auslösen. Diese Symptome können die Prüfung der Aussagen vor Gericht sowie die gutachterliche Exploration durch Sachverständige deutlich behindern.
(b) Während sich in der medizinischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung zunehmend abzeichnet, dass nicht nur die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), sondern auch De-pression, schwere somatoforme Störungen, Identitätsstörungen u. v. a. Folgen der Folter und extremer Gewalt sein können, werden diese Folgen vor Gericht als auslandsbezogenes Ab-schiebehindernis nicht anerkannt. In diesem zweiten Problembereich ist die Frage zentral, unter welchen psychischen und somatischen Folgeerkrankungen jenseits der PTBS Asylsu-chende nach der Folter leiden und ob diese von den Verwaltungsgerichten als relevant bewer-tet werden.
Weitere Fragen werden im Rahmen des Forschungsprojekt untersucht: Wird die Darlegungs-pflicht der Betroffenen in der gerichtlichen Praxis überspannt? Wie wird mit der Glaubwür-digkeitsproblematik umgegangen? Werden die altbekannten Realkriterien gebraucht oder ha-ben sich alternative Vorgehensweisen etabliert?
Die Beantwortung dieser Fragen ist relevant für einen verbesserten Ablauf des Asylverfahrens mit möglichst frühzeitiger Erkennung und Berücksichtigung von Traumafolgeerkrankungen durch die Gerichte. Seitens der Folteropfer können mögliche gesundheitliche Verschlechte-rungen bis Traumatisierungen infolge des Asylverfahrens durch eine schonende Vorgehens-weise reduziert werden. Eine den Qualitätsanforderungen entsprechende Begutachtung durch Experten und das frühzeitige Einholen von SV-Gutachten tragen zu einer verbesserten Effizi-enz des Verfahrens bei.