HEINEAGE

Kulturelle Variationen sozialer Identität im höheren Lebensalter – vergleichende Untersuchungen in Deutschland, Frankreich und England

Team:
Univ-Prof. Johannes Siegrist, Institut für Medizinische Soziologie
Dr. Morten Wahrendorf, M.Sc., Institut für Medizinische Soziologie

Ergebnis:
Soziale Identität, d. h. die Gesamtheit der für das Selbstwertgefühl von Menschen konstitutiven Erfahrungen der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, wird in modernen Gesellschaften aufgrund von Geltungsverlust traditioneller sozialer Bindungen und einer sich ausbreitenden Individualisierung der Lebensführung zunehmend brüchig. In besonderem Maß gilt dies für die wachsende Gruppe von Frauen und Männern im so genannten "dritten Lebensalter", einer Lebensspanne, die im Durchschnitt gut zwei Jahrzehnte umfasst, von der Verrentung bis hin zu beginnender Pflegebedürftigkeit. Diese Phase ist zwar durch mehr individuelle Freiheit und neue Konsumchancen, zugleich jedoch durch einen Mangel an verbindlichen Angeboten sozialen Handelns (z. B. Fortsetzung beruflicher Arbeit in Teilzeitform, Übernahme von Ehrenämtern und andern Formen sozialen Engagements) – und damit durch eingeschränkte Chancen fortgesetzter sozialer Identitätserfahrung – gekennzeichnet.

Vor diesem Hintergrund wurden anhand empirischer Daten strukturelle Bedingungen und Qualität sozialer Identitätserfahrungen im dritten Lebensalter in drei westeuropäischen Ländern (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) untersucht. Im Zentrum stand dabei die Teilhabe an rollengebundenen sozial produktiven Aktivitäten im dritten Lebensalter, so insbesondere in den Bereichen "Ehrenamt" und "Pflege", und die Frage, welche Aspekte für eine positive Erfahrung sozialer Identität wichtig sind. Folgende Hypothesen lagen zugrunde: 1. Teilhabe ermöglicht positive Erfahrungen sozialer Identität und fördert dadurchWohlbefinden und Gesundheit. 2. Dieser Zusammenhang ist immer dann besonders ausgeprägt, wenn produktive Aktivitäten nach dem Reziprozitätsprinzip erfolgen, d. h. soziale Anerkennung gewähren. Das Teilprojekt verwendete Daten aus zwei aktuellen europäischen Altersstudien: dem "Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe" (SHARE; Deutschland und Frankreich) und der "English Longitudinal Study of Ageing" (ELSA; England).

Die Ergebnisse zeigten, dass sozial produktive Aktivitäten in den drei untersuchten Ländern in einer Häufigkeit zwischen fünf und 14 Prozent ausgeübt werden. Unterschiede zeigten sich nach Alter, Geschlecht, Erwerbsstatus und sozialer Schichtzugehörigkeit. Hierbei trat ein vergleichsweise höherer Anteil „ehrenamtlich aktiver“ Älterer (65 bis 74 Jahre) und Rentner in Großbritannien und Frankreich auf. Wer einer regelmäßigen sozialen Aktivität nachgeht, weist eine höhere Lebensqualität und eine bessere subjektive Gesundheit auf. Dies gilt in erster Linie für ehrenamtliches Engagement und weniger eindeutig für die pflegerische Tätigkeit. Ferner zeigte sich für beide Aktivitäten, dass die erfahrene Reziprozität, die bei der Tätigkeit erfahrene Wertschätzung und Anerkennung, das Wohlbefinden positiv beeinflusst.

Als Schlussfolgerung ließ sich festhalten, dass soziale Produktivität im dritten Lebensalter eine bisher unzureichend genutzte Ressource nicht nur zur besseren Erfüllung vielfältiger gesellschaftlicher Aufgaben, sondern auch zur Steigerung von Lebensqualität und Gesundheit engagierter Älterer darstellt. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn entsprechende Aktivitäten dem Prinzip der Reziprozität folgen, d. h., wenn der Leistungsaufwand mit einer in der Regel nicht monetären Gratifikation der Wertschätzung und Würdigung beantwortet wird.

 

zurück