Jakob Friedrich Fries' Stellung in der Philosophiegeschichte

 

 

L. Geldsetzer

 

 

 

Über Fries' Stellung in der Philosophiegeschichte reden, heißt über drei verschiedene Dinge reden: nämlich erstens über die Einschätzung seiner Stellung in der Philosophiegeschichte durch Fries selbst; zweitens über seine Würdigung durch die Philosophiegeschichtsschreiber, was seinerseits ein vielfältiges Bild ergibt; und drittens über die Stellung, die er in der Philosophiegeschichte verdient. Alles das könnte, muß aber nicht zusammen-fallen. Und es fällt gerade bei Fries ziemlich weit auseinander.

 

I. Reden wir also zunächst vom ersten, von Fries' Selbsteinschätzung. Es kommt ja nicht allzu häufig vor, daß ein systematisch denkender und disziplinär geschulter Philosoph auch noch eine Philosophiegeschichte, und in Fries' Fall gewissermaßen eine Weltgeschichte der Philosophie, unter Einschluß der orientalischen (indischen und chinesischen) 'Philosopheme' verfaßt hat. Fries hat sie gegen Ende seines Lebens in den Jahren 1937 und 184o in zwei Bänden vorgelegt, als er schon auf sein ganzes Lebenswerk und auch auf die Leistungen seiner prominenten Zeitgenossen zurückschauen konnte. Diese seine Philosophiegeschichte ist selbst ein Monument des Kantianismus. Sie läßt die ganze Geschichte gewissermaßen schnurstraks von Hesiod und Thales auf Kant zulaufen und behauptet, daß mit dem kantischen Kritizismus die Philosophie ein für allemal ans Ende gekommen sei. Ersteres hatte Kant in dem berühmten Abschnitt der transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft über die "Geschichte der Philosophie" so vorgegeben: Die Philosophiegeschichte pendele gleichsam zwischen den Polen des Dogmatismus und Skeptizismus mit immer kürzerem Pendel hin und her, bis ihr ganzes Uhrwerk als "kritische Philosophie" ein für allemal zum Stillstand komme. Einige Kantianer, wie etwa Karl Leonard Reinhold, hatten diese Endphilosophie auch als "Philosophie ohne Beinamen" bezeichnet, weil sie sich durch keinerlei Spezifikum mehr als einseitig oder als eine unter anderen, die auch noch "Philosophie" genannt zu werden verdienten, bestimmen ließe. Fries sieht diesen Endpunkt in Kants "Auffindung der Prinzipien aller metaphysischen Erkenntnisse", und eben darin auch die maßgebliche Leistung Kants.

Aber das ist nun eben doch nicht das letzte Ende der Geschichte. Fries widmet der Lehre Kants das vorletzte Kapitel seiner Philosophiegeschichte, nicht ohne schon seine eigene Kritik an Kant immer wieder deutlich zu machen. Das letzte Kapitel handelt von "Kants Schule". Und da zeigt sich denn, daß diese Schule nur aus einem einzigen Schüler besteht, nämlich Fries selber, der dann auch die Gelegenheit wahrnimmt, nur unter den Titeln "Andeutung der Mängel, welche in Kants Ausführungen seiner Lehre geblieben sind" und "Die Verbesserung der Mängel in der Kantischen Lehre" seine eigene Philosophie als nun wirklich allerletztes System der Philosophie vorzustellen. Diese Darstellung ist, wie nebenbei bemerkt werden kann, eine runde, systematische und gut lesbare Einführung und Gesamtdarstellung der Friesschen Philosophie und vielfach für Kenntnisnahmen darüber benutzt worden. Er sagt es ganz unumwunden und deutlich, daß er sich "für den einzigen halte, welcher die Kritik der Vernunft selbst weiter fortgebildet hat."

Will man nun diese Selbsteinschätzung von Fries, daß die letzte Philosophie ausschließlich in seiner eigenen verbesserten Version der kritischen Philosophie vorliege, nicht ganz und gar auf das Konto eines kaum zu überbietenden intellektuellen Hochmuts buchen, so muß man sich nach Gründen dafür umsehen. Diese liegen offensichtlich in seiner Auffassung von einer Entwicklungsgesetzlichkeit der Philosophiegeschichte, die er schon seit 1811 auf die Formel "Tradition, Mystizismus und gesunde Logik" gebracht hatte, und die er auch in der Einleitung zu seiner Philosophiegeschichte nochmals erläuterte. Es handelt sich um ein Drei-Stadiengesetz der Kultur-, Wissenschafts-, und Philosophieentwicklung, das sich neben dem Hegelschen Geschichtsgesetz von der Entwicklung des Geistes zur Freiheit und dem etwas späteren Comteschen eigentlich sogenannten Drei-Stadiengesetz sehen lassen kann. Gleichwohl ist es nicht so prominent geworden wie diese, vielleicht, weil es nicht so leicht wie jene in einer gestanzten Formel expliziert werden konnte.

Fries geht davon aus, daß die Kulturmenschheit in historisch überblickbaren Zeiten und in ihren Hochkulturen ihre intellektuelle Entwicklung aus dem Erbe religiös-dichterischer Traditionen beginnt. Deren Gehalte sind die großen Welt-Schöpfungs-, -Erhaltungs- und -Lenkungsmythen, die den Stoff für eine einheitliche Welterklärung und zugleich für die sittliche Normierung und religiöse Sinngebung des Lebens überhaupt abgeben. Mystizismus nimmt diese Mythen (das Wort Mythos fehlt ihm hier noch) auf und besteht für Fries dann in der Festhaltung einzelner traditioneller Mythologeme, wie er sagt "ausge-zeichnet durch den Anspruch an das Geheimnisvolle, durch Hingabe an dunkle Gefühle und träumende Phantasien, aber oft auch als lebendige eigne Überzeugung im Gegensatz der überlieferten, als inneres Licht im Gegensatz gegen Schul- und Kirchen-Orthodoxie". Von den geschichtlichen darauf gerichteten "mystischen Lehren" sind ihm die interessantesten diejenigen, die von einem "inneren Lichte" handeln, wie vorzüglich im Mittelalter, und meist zu pantheistischen "inneren Träumen der Phantasie für höhere Anschauung des Göttlichen" führen. Und zwar deshalb, weil sie am ehesten auf die weitere Entwicklung d. h. auf die nächste und letzte Phase der "gesunden Logik" vorausweisen, in welcher der menschliche Geist die Kapazitäten und Grenzen der Tätigkeit des Geistes in Natur- und Selbsterkenntnis mit Hilfe des logischen Werkzeuges eruieren kann. Man mag sich die Übersicht durch eine Ver-gleichung mit Comtes drei Stadien wohl erleichtern: Was bei Fries die erste Überlieferung religiöser Lehren ist, das erscheint bei Comte als theologisches Zeitalter; die Comtesche metaphysische Phase ist bei Fries die mythologische oder "mystische", und das letzte wissenschaftliche Stadium Comtes ist auch bei Fries das logisch saubere wissenschaftliche Denken, das in einer "streng wissenschaftlichen Philosophie" gipfelt.

Zur Dunkelheit und vielleicht Verwirrung trägt es bei Fries bei, daß er dieses ansonsten einfache Entwicklungsschema in seiner Einleitung in seine Philosophiegeschichte auch so darstellt, als ob es um einen "Kampf der Tradition, des Mystizismus und der gesunden Logik mit einander" (ibid. S.45) ginge, und daß die eigentlichen "großen Perioden in der Geschichte der Philosophie" grundsätzlich "...durch die Formen der logischen Entwicklung des Bewußtseins bestimmt (werden) nach Intuition, Epagoge und Spekulation" (ibid. S. 45). Er meint damit aber nicht, daß die Perioden der Geschichte dadurch abgegrenzt und in diesem Sinne bestimmt würden, sondern vielmehr, daß ihre jeweilige innere Entwicklung eine gewisse Abfolge nach dem Vorherrschen gewisser logischer Einstellungen aufweise. "Intuition" ist ihm dabei eine noch rohe Leistungsfähigkeit der "vernünftelnden Phantasie", die dabei "nur Einheit in der Gruppierung des Weltgemäldes mit dichterischer Erfindung ohne eine strenge Frage nach Wahrheit oder nach der Erklärung der Erscheinungen" anstrebt". (ibid. S. 5o). Er hält solch intuitives Denken für den bestimmenden Zug der Traditionsphase der Kultur und meint, daß die "Philosophie in den Überlieferungen mancher asiatischer Völkerschaften" auf dieser Stufe stehengeblieben sei (ibid. S. 5o). Epagoge bzw. Induktion nennt Fries dann die schon ausgebildetere Fähigkeit zur Begriffsbildung und mittels dieser zur wahrheitsfähigen Urteilsbildung. Er nennt das auch die Phase der "Erfindung der Abstraktionen" oder "des Abstrahierens" und hält sie für die große Leistung der Griechen und besonders des Aristoteles für die Philosophie, ja er geht so weit, die griechische Philosophie insgesamt als "die epagogische" Philosophie zu bezeichnen (ibid. S. 51). Die letzte Phase der sogenannten Spekulation sieht er mit dem Christentum, also der spätantiken und mittelalterlichen Philosophie einsetzen. Es ist die Phase der Ausbildung von Geistes- und Naturwissenschaft mit dem logischen Instrumentarium "abstrakter" Begriffe, und Fries nennt die christliche Philosophie deshalb auch insgesamt die "epistematische Philosophie" (ibid. S. 51). Spekulation und Episteme dürften hier dasjenige sein, was man heute "theoretisch-deduktive Wissenschaft" nennt. Fries sieht sie überall dort am Werk, "wo man das Prinzip an die Spitze stellt und aus ihm das Leben zu erklären sucht in vorherrschender Gedankenbewegung vom Allgemeinen zum Besonderen" (ibid. S. 50). Es ist auch das, was im 17. Jahrhundert als Mos geometricus die Systembildungen hervorgebracht hat.

Insgesamt schildert er diese Entwicklungsphase so: "Die spekulative Ausbil-dung der Naturlehre in der Erklärung der Naturerscheinungen aus den Natur-gesetzen ist der am fröhlichsten gedeihende Teil der Lehre, indem der erklä-rende Verstand von der mathematischen Philosophie der Alten ausgehend sich nach und nach immer tiefer in die Gebiete der Erfahrung hinein fand" (ibid. S. 54). Sie führt dann in der neueren Philosophie zum Streit der induktiven Erfahrungsphilosophie von Bacon bis zu den Schulen von Locke und Condillac einerseits und dem "Dogmatismus", auf der Grundlage der mathematischen Methode von Descartes, der dann durch Kants kritische Philosophie einen "Ausgleich" findet und so das Ende der Philosophie erreicht.

Ich habe das alles etwas näher ausgeführt, um den Rahmen zu verdeutlichen, in welchem Fries nun seine kritischen Kategorien findet, um seine eigene Stellung und sein Verhältnis zur zeitgenössischen Lage der Philosophie zu bestimmen. Er schließt nämlich seine Philosophiegeschichte mit einem "An-hang" ab, der nun gerade das behandelt, was man sonst von einer Philoso-phiegeschichte als Hinführung zur Gegenwartslage erwartet. Er ist überschrieben "Polemische Bemerkungen über neuere große Rückschritte". Und in diesem Anhang rechnet er mit Karl Leonard Rheinhold, Friedrich Heinrich Jacobi, Gottlob Ernst Schulze, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Johann Friedrich Herbart ab.

Was er ihnen allen vorzuwerfen hat, das ist, daß sie Kants Philosophie fortbilden wollten, anstatt nur deren Fehler zu verbessern, wie er selbst und einige andere es anstrebten. Sie blieben an einigen Fehlern Kants hängen und zogen daraus falsche Schlüsse. Und vor allem, so lautet sein Hauptargument, und es kann nicht anders lauten, wenn das Ende der Philosophie wirklich erreicht ist, sie sind dabei in frühere, längst überholte Entwicklungsstadien der Philosophiegeschichte zurückgefallen und haben sie nur repristiniert. Mit anderen Worten, es handelt sich bei ihren Systemen um Atavismen der Philosophiegeschichte. Da er freilich nicht ganz blind gegen philosophische Leistungen ist, hebt er an ihnen auch gewisse Vorzüge hervor. Aber diese bestehen darin, daß sie das, was Kant auch gesagt und gemeint hat, wiederholen. Gleichwohl sind seine Urteile vernichtend. Fichte hält er "wohl für einen kräftigen Redner, aber für gar keinen Philosophen" (Band 2, S. 636, Anm.); über Schellings Identitätsphilosophie heißt es: "Entkleiden wir nun den Traum der totalen Indifferenz von der armseligen Logik der spekulativen Physik, so finden wir leicht, daß wir nur in die alten neoplatonischen Träume zurückgetaumelt sind. Die Welt ist die Selbsterkenntnis Gottes; unten die absolute Objektivität der bösen Materie, oben die absolute Subjektivität der reinen Geisterwelt der Ideen, bei der sich ja wohl auch der liebe Gott finden wird" (ibid. S. 668). Über Hegel beginnt sein polemischer Bericht: "Hegels Lehre gehört ihrem großen Einfluß nach mehr in die Geschichte der Schulpolizei zu Berlin als in die Geschichte der Philosophie, denn das Ministerium Altenstein hat ihr lange Zeit einen forcierten Kurs hoch über Pari gesichert" (ibid. S. 671). Und er fährt später fort: seine ganze "objektive Logik ... enthält keine einzige wahre Behauptung, sondern nur leere Vergleichungsformeln von ganz abstrakten Begriffen und diese ohne alles Prinzip für ihre notwendige Verbindung zur Erkenntnis" (ibid. S. 675), insgesamt eine "unbeholfene und verworrene Sprachweise" (ibid. S. 682).

Offensichtlich hat ihn Rosenkranz' "Geschichte der kantischen Philosophie" im 12. Band seiner Kantausgabe von 184o, die Hegel ja als Endpunkt der Fortbildung Kants ansieht, besonders gereizt, und er paraphrasiert bzw. karikiert sie im Hegelabschnitt folgendermaßen: "Kant's Riesengeist war sehr subjektiv, da kam der noch riesigere Fichte über ihn, wurde ganz subjektiv, schalt jenen einen Dreiviertelskopf; plump lag der erste Riese erschlagen auf dem papiernen Schlachtfeld. Aber lange konnte Fichte sich seines Sieges nicht freuen, denn Schelling wurde wieder objektiv, schmollte mit Fichte über die Selbstoffenbarung Gottes und Fichte war tod. Bald darauf voltigiert der absolute Riese Hegel dem Schelling unter dem Arm durch, stellt sich gegen ihn und ruft: Sein ist dem Denken identisch! Schelling erschrak zwar nicht, aber auch er ist tod, der absolute Riese Hegel steht allein auf dem Kampfplatz und nimmt den erschlagenen Kant in den Arm: Sein ist Denken. Das sagte ja schon Xenophanes, was hat nun der Weltgeist mit all der Mühe gewonnen? Ich sehe nichts, als daß man den Xenophanes noch nicht in Berlin angestellt hatte, wie nun den Hegel" (ibid. S. 699/700).

Man sieht, Fries war nicht ohne Bosheit und Sarkasmus, wohl nicht zuletzt wegen der zugunsten seines Altkonkurrenten Hegel entgangenen Berufung nach Berlin. Der Tenor seiner ganzen Polemik aber läßt sich zusammenfassen in sein Diktum "Sehen wir von den besonderen dialektischen Fehlern ab, die hier jedem Lehrer in eigener Weise vorzuwerfen sind, so bleibt der Weltansicht nach allen der gleiche Fehler, sie sind alle von Kant wieder zu Leibniz zurückgegangen" (ibid. S. 716). Aber das hat Kuno Fischer, und sicher mit Recht und ohne Vorwurf, auch von ihm selbst gesagt. Seine Lehre vom Unbewußten ist gar nicht anders zu erklären.

Man muß feststellen, und es ist oft gesagt worden, daß es Fries an Gespür für die eigentlichen Leistungen dieser Zeitgenossen fehlte, die man mit einigem Wohlwollen auch unter der rhetorischen Einkleidung ihrer Werke entdecken konnte, und die andere bis heute noch entdecken. Ebenso ist auffällig und merkwürdig, daß er die ausländischen Entwicklungen der Philosophie nur im Kapitel vor Kant behandelt. Das gilt sogar für Thomas Reid und Dugald Steward in England, mit denen er doch offensichtlich mehr, als er zugeben wollte, gemein hat. Von Condillac in Frankreich hat er gerade noch Notiz genommen, nicht aber von der Schule der Ideologie, obwohl er doch Dégérando, der dazugehörte, sehr genau gelesen hatte und den er auch erwähnt, und schon gar nicht von Maine de Biran, den man in Frankreich doch am ehesten mit Kant verglich. Doch will ich hier meiner Vermutung Ausdruck geben, daß er sich damit befaßt hatte, denn auch die deutschen psychologischen Journale berichteten darüber recht ausführlich. Er hielt aber diese Angelegenheiten im Dunklen, um nicht seine Nähe zu dieser ganzen psychologischen Forschung, die in Frankreich und England genau so im Rahmen der Philosophie betrieben wurde wie in Deutschland, offenlegen zu müssen. Und das wäre sicher nicht möglich gewesen, ohne zugleich auch darauf einzugehen, ob und wie sich die transzendentalphilosophische Lehre vom Apriori von der cartesianisch-rationalistischen Position der eingeborenen Ideen unterschied. Schade, muß man dazu leider sagen, denn es wäre gut für die europäische Philosophie gewesen, die damals immer weiter in nationale Strömungen auseinanderdriftete, wenn auch ihre Gemeinsamkeiten herausgestellt worden wären.

 

 

II. Fries' zweiter Band seiner Philosophiegeschichte, in der sich diese Selbsteinschätzung findet, ist von den Rezensenten mit taktvollem Schweigen übergangen worden, während der erste Band in mehreren Rezensionen gelobt wurde. Die Hegelschule hatte inzwischen die Führung in der Philosophie-geschichtsschreibung übernommen und Hegel selbst ans Ende der neueren deutschen Entwicklung gestellt. Dabei hatte sie von Kant und den Kantianern den Fortschrittsgedanken und die These vom Ende der Philosophie übernommen und auf die eigene Schulentwicklung angewandt. Hegel erschien als derjenige, der die letztmögliche philosophische Position erreicht hatte, so daß nur noch deren Ausbau im Detail übrigblieb. Man weiß ja, was die beiden Hegelschulen, die rechte und die linke, daraus machten: Die einen betrieben Philosophie fast nur noch als Philosophiegeschichtsschreibung, die anderen wollten von der philosophischen Theorie und Interpretation der Welt zur philosophischen Tat der revolutionären Weltveränderung übergehen. Fries hatte auch mit solchen Leuten, etwa Follen, zu tun, und er gab sich sehr viel Mühe, sie davon zurückzuhalten. Daß auch diese Philosophiegeschichtsschreibung dem Fortschrittsgedanken huldigte, ist nicht so selbstverständlich wie man meinen könnte. Denn sie hatte sich gegen eine starke, von Schelling und den Romantikern ausgehende Dekadenzphilosophiegeschichtsschreibung durchzu-setzen, die aus dem, was Fries so beredt kritisierte, nämlich dem Rückfall in alte Positionen und ihre Repristination, gerade eine Tugend machte. Die Wahrheit und die höchsten Einsichten für den menschlichen Geist sollten in den ältesten Weisheitsquellen von Offenbarungsschriften und Dichtungen liegen, wie man bei Schelling selbst, Windischmann, Ast und Röth lesen konnte und heute etwas undeutlicher bei Heidegger und Gadamer. Für die Hegelianische Philosophiegeschichte wurde aber die idealistische Fortentwicklung Kants in der Linie Fichte-Schelling-Hegel zur maßgeblichen. Und man kann sagen, daß sie es bis heute im Grunde geblieben ist, wie sich an der gleichsam stehengebliebenen Epochenbezeichnung "deutscher Idealismus" noch zeigt. In dieser Linie war Kant mit seinem Werk selbst zur vorletzten Stufe geworden, über die eine neue Generation hinausgegangen war. Und wer da Kant für das Letzte hielt, war seinerseits zurückgeblieben und von der neuen Entwicklung überholt worden. Genau das mußte nun in der hegelianischen Philosophiegeschichtsschreibung von Fries gelten.

Man kann den Hegelianern sicher nicht vorwerfen, daß sie Fries ebenso behandelt hätten wie er die deutschen Idealisten, d. h. mit "polemischen Bemerkungen über neuere Rückschritte". Hegel hatte das schon lange vorher besorgt und dadurch Fries zu seinen kräftigen Worten provoziert. Man kann es etwa an der sehr verbreiteten Bearbeitung der Tennemannschen - also ursprünglich kantianischen - Philosophiegeschichte durch Amadeus Wendt sehen, die in dritter Bearbeitung 1829 erschien und zu jener Zeit außerordentlich populär war. Hier ist Kant schon "historisiert", denn die gesamte neuere Philosophie wird eingeteilt in einen "ersten Zeitraum von Bacon bis auf Kant" und einen "zweiten Zeitraum von Kant bis auf die neueste Zeit". Es ist auch schon einmal bemerkenswert, daß die "Philosophie der Deutschen" neben die "ausländische Philosophie" (der Engländer, Franzosen, Italiener und anderen Nationen) zu stehen kommt. Die deutsche Philosophie ihrerseits endet dann zwar auch mit Hegel, aber es werden nach ihm auch noch "die neuesten Erscheinungen in der Philosophie" registriert und dabei ausdrücklich festgehalten: "Übrigens ist neuerdings die psychologische und anthropologische Richtung unter den deutschen Philosophen, vornehmlich durch deren Gegensatz (zu) der willkürlichen Spekulation, lebhaft hervorgerufen worden" (ibid. S. 558). Bei der Kantdarstellung wird Kants Philosophie als "kritischer Idealismus" vorgeführt, wodurch natürlich insinuiert wird, daß die Idealisten Fichte, Schelling und zuletzt Hegel die legitimen Erben Kants seien. Aber neben "anderen Systemen" wie denen von Bouterwek, Bardili, Jacobi, Schulze, Herbart, Schleiermacher werden dann nur Fries und Krug als Autoren von "Systemen, welche den Kritizismus auszubilden strebten" vorgestellt. Wir erfahren auf knappen zwei Seiten über Fries, daß er "eine Verbesserung der Philosophie durch philosophische Anthropologie hervorbringen" und dabei zwei Grundfehler Kants berichtigen wollte. Nämlich erstens "die falsche logische Disposition seiner Lehre" (gemeint ist das von Fries sog. "transzendentale Vorurteil" Kants, Erkenntniskategorien und Ideen ableitend beweisen zu wollen, anstatt sie ohne Beweis schlechthin als Beweisgrundlagen zu nehmen), und zweitens "die Verwechslung psychologischer Untersuchungen über philosophische Überzeugungen mit Philosophie; der psychologischen Hilfsaufgabe mit der Metaphysik selbst" (Zitate von Fries selber, ibid. S. 547).

 

Fries' nachher für so wichtig gehaltene Leistungen für die Wissen-schaftstheorie der Naturwissenschaften werden dabei aber erst einmal übersehen, denn darüber heißt es nur bündig: "Den größten Gewinn aus der Kantischen Lehre setzt er in die vollständige Nachweisung aller Naturbegriffe und spekulativen Ideen" (ibid. S. 447). Viel wichtiger erscheint Wendt, daß Fries auch gemeint habe, "der bei Kant mißlungenen Glaubenslehre, als dem Mittelpunkt philosophischer Überzeugung, eine feste wissenschaftliche Grundlage gegeben zu haben ... Glaube und Ahnung liegen also noch über dem Wissen; worin sich Fries Jakobi annähert" (ibid. S. 548). Dann aber werden der "besondere Wert" seiner "vielen eigentümlichen Lehren in der Theorie des Geisteslebens" für die Ausbildung der philosophischen Anthropologie und ebenso seine "vielen eigentümlichen und treffenden Forschungen" für die Logik, die er durch eine "anthropologische Logik" vorbereite und untermauere, herausgestellt. Auch seine praktische Philosophie als "Lehre vom Wert und Zwecke des menschlichen Lebens und der Welt" wird kurz skizziert, allerdings ohne Erwähnung des Schlüsselbegriffs der "Menschenwürde". Es heißt von ihr, "In ihr findet sich die Endabsicht aller philosophischen Untersuchungen" (ibid. S. 549).

Halten wir fest, daß Fries in diesem sehr verbreiteten Werk von Tennemann und Wendt ganz und nur als treuer Fortbildner Kants erscheint. Wenn Wendt etwas zu tadeln fand, so war es nur dies: "Seiner Darstellung möchte man oft einen präziseren Stil und eine klarere Anordnung wünschen" (ibid. S. 549). Nicht unerwähnt sollte bleiben, daß hier auch schon Friedrich van Calker und de Wette als Schüler von Fries genannt werden. Bei späteren wird diese Reihe immer länger werden. Ersterer habe "Fries Ansichten verarbeitet...in strenger systematischer Form und mit manchen eigentümlichen Bestimmungen und Terminologien", letzterer habe sie auf Theologie anzuwenden versucht. Fries konnte damit zufrieden sein, und sicher hat diese Präsentation für die letzte Zeit seines Lebens und noch etwas länger die öffentliche Einschätzung von Fries bestimmt.

Nach Fries' Tod 1843 hat sich in umfassendster Weise Johann Eduard Erdmann in seinem "Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie", 1848-1853 erschienen, vom Standpunkt der Hegelschen Philosophiegeschichtstheorie auch zu Fries geäußert. Und auch hier muß man sogleich feststellen, daß er ihn in sehr korrekter und fairer Weise beurteilte. Er setzt zwar auch voraus, daß die gesamte Philosophiegeschichte auf den Idealismus und Hegel hinauslaufe, daß aber jede vorausgegangene Position in der Philosophiegeschichte durch eine Gegenposition kritisiert und kritisch fortgebildet werde, was schließlich aus einer "Koalition" der Gemeinsamkeiten beider zu einem neuen System führe. Dadurch ist für Fries schon die Stelle bezeichnet, die seine Wirksamkeit bestimmt aber auch begrenzt. Nach der Darstellung des "Kritizismus" Kants handelt Erdmann über die "Ausbreitung der Kantischen Lehre und Reaction dagegen" und befaßt sich hier insbesondere mit der Reaktion der "Glaubensphilosophie", d. h. mit Hamann, Herder, Jacobi, Neeb, Köppen, v. Weiller, Salat, Ancillon und Clodius". Fries gehört nicht in diese Reihe, und das ist sehr auffällig angesichts der auch im Text behaupteten Annäherung von Fries an Jacobi. Im dritten Abschnitt "Modificationen der Kantischen Lehre. Die Halbkantianer" wird er neben Bouterwek, Krug und Chr. Weiss "der Bedeutendeste unter den Halbkantianern" genannt, "ein Mann der einerseits mit der Kantischen Lehre so vertraut ist, daß er auch in ihre eigentlichen Tiefen hineinzudringen vermag, der andererseits in so innigem Wechselverkehr mit Jacobi gestanden hat, daß wenn Jacobi in einem Briefe sagt, er treibe seine Mühle mit seinem (Jacobi's) Wasser, dies eben so wahr ist, als es ist, wenn er gegen intime Schüler behauptet, der conciseste Ausdruck Jacobi'scher Lehre sey unter seinen Augen und mit seiner Beihülfe verfasst worden. Dieser Mann, welchem Unrecht geschieht, wenn er mit Krug auf eine Linie gestellt wird, ist Fries" (ibid. S. 382). Die Darstellung selbst ist geteilt in "Fries' Anthropologismus" und "Fries' Anhänger". Offensichtlich ist Fries für Erdmann der wichtigste von denen, die das kantische System durch Veränderungen für die Synthese mit der idealistischen Gegenposition vorbereitet haben, die ihrerseits erst im nächsten Band mit Reinhold und Bardili und mit Reinholds Gegnern Schulze (Aenesidem), Maimon und Beck in ihrer anfänglichen Ausbildung behandelt wird. Auch von diesen Kantianern ist Fries dadurch abgerückt und als eigenständig ausgezeichnet.

Im Vorspann des Paragraphen heißt es zunächst, in Krugs transzendentalem Synthetismus zeige sich schon "besonders die Verflachung" des modifizierten Kritizismus, und "so ist der Fortschritt am meisten in Fries. Sein Anthro-pologismus zeigt eine Coalition nicht mit einem schon überwundenen Standpunkt, sondern mit der ebenbürtigen Glaubensphilosophie Jacobis's". Über Fries handelt Erdmann dann auf guten fünfundzwanzig Seiten, und seiner "Schule" widmet er nochmals acht Seiten, darin Weiss eingeschlossen. Genauer als bei anderen liest man zur Biographie u.a. "Wegen seiner Teilnahme an dem Wartburgfeste als Demagoge denunciiert, kam er in Untersuchung und ward 1824 der philosophischen Professur enthoben und auf die der Mathematik und Physik beschränkt. Jedoch hielt er, namentlich in späterer Zeit, daneben auch philosophische Vorlesungen" (ibid. S. 383). Bei der Werkübersicht stellt Erdmann fest: "Fries ist ein äusserst fruchtbarer Schriftsteller". Aber außer bei der lange überdachten und überarbeiteten "Neuen Kritik" findet er zu tadeln: "Sie sind so gedruckt, wie sie zuerst aufs Papier geworfen wurden. Gibt ihnen dies gleich eine gewisse Frische, so laborieren sie doch dadurch an den Fehlern aller schnell gearbeiteten Werke, an Weitschweifigkeit und an Wiederholungen" (ibid. S. 385). Und dazu komme dann noch, daß Fries auf vermeintliche Mißverständnisse bei Kritikern noch weiter ausholte.

Erdmann hat seinen Fries gründlich gelesen und widmet ihm, wie man allenthalben sehen kann, ein wohlwollendes Verständnis. Das ganze Referat läßt Fries möglichst mit eigenen Worten reden, was dann auch durchgehend mit Belegstellen dokumentiert wird, offensichtlich eine Quelle für viele spätere Abschreiber. Was den "Psychologismus" bei Fries betrifft, so stellt es Erdmann so dar, als ob Fries damit Recht habe, wenn er Kant selbst unterstellt, daß die "Kritik der reinen Vernunft" die "Verwandlung der Philosophie in Psychologie" gebracht habe. Und ebenso referiert er, daß es deshalb auch "nicht ohne Schuld (Kants geschah), wenn seine Nachfolger Reinhold, Fichte, Schelling, ganz gegen seinen Geist vielmehr die Psychologie in Philosophie verwandelt haben" (ibid. S. 387 mit Hinweis auf Fries, Tradition, Mysticism und gesunde Logik, S. 117). Man muß hier festhalten, daß dieses Friessche Argument, das doch eigentlich das sachlich und logisch einzig richtige Psychologismusargument sein kann und sich gegen bestimmte Formen des Idealismus richtet, später überhaupt keine Rolle mehr spielt und von keinem Philosophiehistoriker aufgenommen wurde. Ganz im Gegenteil wurde Fries selbst noch lange und manchmal bis heute als "Psychologist denunziert. Dafür hält es Erdmann nun geradezu für die "Achillesferse jeder auf bloße Selbstbeobachtung gegründeten Philosophie" und also auch der Friesschen, daß das dabei beobachtete Subjekt nicht mehr verallgemeinerungsfähig bleibt, "daß es eigentlich nur wahrschein-lich sey, daß es sich in der Vernunft jedes Anderen eben so verhalte, wie in unserer" (ibid. S.389 mit Hinweis auf Fries: Reinhold, Fichte und Schelling, S. 71, 253). Man muß sagen, in diesem Punkt hat Erdmann sehr scharfsichtig die eigentliche Erschütterung und Gefährdung des Apriorismus ausgemacht. Der Psychologismusvorwurf war seitdem immer auch ein Induktionismusvorwurf gegen Fries.

Erwähnen wir noch, daß auch die Friessche Logik hier eine relativ breite Darstellung erfährt. Zustimmend wird hier als "der wichtigste Satz der neueren Philosophie" bezeichnet, "daß die Reflexion nur wiederholt, was in dem Geiste enthalten ist (ibid. S. 391 unter Hinweis auf Neue Kritik, S. 54, 87), so daß gelte "daß in der Philosophie manthanein anamnesis esti" (ibid. S. 391). Auch die Gemeinsamkeit und Abgrenzung von Fries gegenüber Jacobi mit einer Begründung des Mystizismusvorwurfs an letzteren wird ausführlich wiedergegeben. Weiter erfahren wir auch über Fries' "philosophische Naturwissenschaft", die als "mathematische Naturphilosophie" auch eine "Philosophie der Mathematik (enthalte), in der unter den Ueberschriften Syntaktik oder Combinationslehre, Arithmetik, Geometrie die wichtigsten mathematischen Begriffe erörtert werden, auf sie folgt dann die reine Bewegungslehre" (ibid. S. 403). "In der Vergleichung des Atomismus und Dynamismus wird dem letzteren das Lob gegeben, dass er durch Einführung des Begriffs des Stetigen eigentlich allein eine mathematische Behandlung der Naturwissenschaft zulasse, während freilich für ihn die Ableitung des Harten, welches der Atomismus (sogar als absolut Hartes) voraussetze, sehr schwierig werde" (Ibid. S. 403). Schließlich geht Erdmann auch noch auf Fries Religionsphilosophie und Ästhetik ein, die als "wahre Religionslehre, die Religionslehre ohne Dogmatik...Wissenschaft vom Glauben und der Ahndung, nicht aus ihnen" ist (ibid. S. 406).

Was Fries Wirkung betrifft, so stellt Erdmann fest: "Nicht nur, daß sich schon früh Manner fanden, welche, wie De Wette u. A. seine Ansichten auf Theologie anwandten, nicht nur, daß er als akademischer Lehrer in Jena vielen Einfluß zeigte und einen Kreis jüngerer Männer um sich versammelt hat, die nach seinem Tode, obgleich sie einen ihrer Tüchtigsten (Mirbt) verloren, Kraft genug fühlten, um als 'Fries'sche Schule' aufzutreten, so gesellten sich ihm auch Andere zu, die, ohne seine Schüler zu seyn, aus gleichen Gründen zu gleichen Resultaten kamen" (Ibid. unter Hinweis auf die "Abhandlungen der Fries'schen Schule von Apelt, Schleiden, Schlömilch und Schmidt, Professoren in Jena, 1847). Unter anderen zählen zu diesen Geistesverwandten Jäschke und Christian Weiss.

Neben J. Ed. Erdmann ist Kuno Fischer mit seinem monumentalen Werk zur "Geschichte der neueren Philosophie" nicht nur einer der großen hegelianischen Philosophiehistoriker, sondern auch einer der wirkungsvollsten gewesen und noch geblieben. Und auch von ihm kann man sagen, daß er Fries keineswegs polemisch, sondern - in seiner Rektoratsrede 18 Jahre nach Fries' Tod und an der gemeinsamen Alma Mater vor Kollegen, die Fries sicher noch persönlich gekannt haben - respektvoll behandelt hat, aber, wie man ebenfalls sagen muß, mit einer ebenso wirkungsvollen kritischen Formel, die Fries bis heute spürbar bei allen Kantianern, nicht aber bei anders orientierten Philosophen, in ein schiefes Licht gebracht hat. Es ist die berühmte Rektoratsrede von 1862 über "Die beiden kantischen Schulen in Jena." Erst später hat er Fries dann auch in seinem gerade genannten Philosophie-geschichtswerk im 5. Band über "Immanuel Kant und seine Lehre" nochmals kurz gewürdigt, aber ohne dort seine Argumentation zu wiederholen. Zunächst darf ich seine bemerkenswerte Captatio benevolentiae aus der Rektoratsrede wiedergeben, welche lautet: "Da ich von diesen (Fries') polemischen Schriften rede, so will ich doch im Vorübergehen bemerken, daß Fries in der Würdigung seiner Gegner stets wie ein Mann redet, dem man es anhört, daß es ihm bloß um die Sache zu thun ist. Selbst da, wo er sich im größten Gegensatz fühlt, versteht er die Bedeutung des Gegners und macht sie selbst einleuchtend mit einer ruhigen Anerkennung, welche beweist, wie wenig dieser Mann von einem kleinlichen und darum verkleinerungssüchtigen Sektengeiste befangen war" (Ibid. S. 93 unter Hinweis auf Fries Beurteilung der Schellingschen Naturphilosophie als "die einzige originelle, große Idee, welche seit der Erscheinung von Kants Hauptschriften im Gebiet der freien Spekulation sich in Deutschland gezeigt habe". Die oben zitierten deftigeren Stellen aus Fries' Polemischen Bemerkungen scheint er nicht gekannt zu haben). Fries stellt er als Stifter der jüngeren kantischen Schule der älteren Schule von Reinhold, Fichte, Schelling und Hegel gegenüber, aber auch Herbart und Schopenhauer, die er als Alumnus und Doktor der Jenenser Fakultät zwar nicht gerade in die letztere Schule einordnet, aber ihr doch nahestellt. Und in seinen Ausführungen nimmt dann die Darstellung und Kritik der Friesschen Lehre bei weitem den überwiegenden Raum ein.

 

Den Ausgang nimmt Fischer bei folgendem Resumé der Fries'schen Lehre. "Die philosophische Grundwissenschaft ist nicht die Metaphysik. Diese Erklärung kehrt sich gegen die Identitätsphilosophen und gegen Herbart. Die philosophische Grundlage gibt die Vernunftkritik. Diese Erklärung macht gemeinschaftliche Sache mit Kant" (Ibid. S. 92), und zwar gegen die Identitätsphilosophie von Reinhold, Fichte, Schelling und Hegel. Machen wir hier gleich auf eine Undeutlichkeit dieser Thesen aufmerksam:

Haben Kant und Fries tatsächlich so eindeutig behauptet, daß die Kritik der Vernunft "Grundwissenschaft" sei, und in welchem Sinne wird hier "Grundwissenschaft" verstanden? Beide haben doch diese Kritik auch als Vorbereitungswissenschaft, als "Propädeutik" der Metaphysik bezeichnet, und das läßt natürlich offen, daß für beide die Metaphysik als Disziplin von den eigentlichen "Ideen der Vernunft" die eigentliche "Grundwissenschaft", nämlich zur Begründung aller anderen philosophischen Disziplinen und Wissenschaften sein mußte.

Die noch wichtigere These von Fischer ist diese: "Also die Vernunftkritik, die sich richtig versteht, ist Erfahrungsseelenlehre. Ihr Inhalt ist anthropo-logisch, ihre Erkenntnis ist empirisch. Genau dies ist der Standpunkt von Fries" (Ibid. S. 92). An anderer Stelle betont und verstärkt er seine These mit dem, was wir das Induktionsargument nennen: "Die Vernunftkritik sey, wie Fries verlangt, innere Erfahrung, empirische Seelenlehre, sie sey nichts Anderes. Alle ihre Einsichten seyen demnach empirisch, nur empirisch. Keine empirische Einsicht ist allgemein und nothwendig, keine ist a priori. Diesem Satz ist kaum jemals widersprochen worden. Kant hat in der Einführung seiner Vernunftkritik den größten Nachdruck auf diesen Charakter der empirischen Erkenntnis gelegt. Fries ist darin ganz mit ihm einverstanden" (Ibid. S. 98). Aber auch hier muß kritisch angemerkt werden: Haben nicht Kant und Fries mit allem Nachdruck und aller Deutlichkeit behauptet, daß jede Wissenschaft - was ja dann auch für die Psychologie gelten muß - neben ihrem empirischen Teil auch ihre metaphysischen, d. h. apriorischen Voraussetzungen habe, was man schließlich seit Wolffs "rationaler Psychologie" wissen konnte? Und ist es deshalb nicht eine hier und später nur zweckdienliche Unterstellung, daß Psychologie deshalb nur und ausschließlich "empirische Psychologie" sei? Hätte man nicht auch damals schon sehen können (und Fries hat es wohl gesehen), daß auch eine empirische Wissenschaft ihre keineswegs empirischen Voraussetzungen macht, und daß sie dann in ihrem Verfolg und in ihrer Selbstreflexion auf diese "rationalen" (und so nach Kantisch-Friesschem Verständnis) apriorischen Voraussetzungen stoßen muß?

Das hat nun Fischer offensichtlich gar nicht gesehen. Und auch Fries unterstellt er, daß er dies nicht berücksichtigt habe. Er nennt diesen Punkt "an dem anthropologischen Grundgedanken die verwundbare Stelle. Von dieser Stelle hat auffallender- und zugleich begreiflicherweise Fries in allen seinen Schriften am wenigsten gesprochen, er hat in den früheren sie nur flüchtig, in den späteren gar nicht mehr berührt." (Ibid. S. 100). Nun, was man nicht sehen will, das sieht man dann auch nicht. Und so schürzt sich dann die Fries-Darstellung auf die These zusammen, Fries behaupte: "Was die Vernunftkritik entdeckt, ist a priori; aber die Entdeckung selbst ist a posteriori. Der Gegenstand ihrer Erkenntnis ist a priori, ihre Erkenntnis selbst ist empirisch. Darin eben liege das Vorurtheil, daß man meint: was a priori sey, müsse auch a priori erkannt werden. Auf diese Erklärung gründet sich die ganze friesische Lehre, ihre ganze Reform der Vernunftkritik. Diese Erklärung bildet geradezu die Spitze ihrer gegen Reinhold, Fichte, Schelling gerichteten Polemik. Und eben hier liegt in der friesischen Philosophie das proton pseudos. Was a priori ist, kann nie a posteriori erkannt werden" (Ibid. S. 99).

Dieser letzte Satz, der im Text gesperrt wiedergegeben ist, steht hier ohne jeden Beweis und auch jeden Hinweis, wie diese postulierte apriorische Erkenntnis vom Apriorischen vonstatten gehen sollte. Womöglich hat Fischer ihn selbst als eine apriorische Erkenntnis von etwas Apriorischem aufgefaßt. Aber wir wissen natürlich, daß dieser Satz gebraucht wird, um ein fundamentum inconcussum der Notwendigkeit und Gewißheit der Erkenntnis auszuzeichnen, von dem man damals und auch heute noch meint, es ließe sich nicht induktiv sichern. Fischer sagt es auch sogleich sehr deutlich: "Was ist Selbst-beobachtung? Ich beobachte nur mich. Was ich in dieser Beobachtung finde, hat zunächst gar kein Recht, für Alle zu gelten. Wo bleibt die Allgemeingültigkeit der Resultate? Ich verhalte mich in dieser Beobachtung nur empirisch. Was ich durch Erfahrung erkenne, darf und will keinen Anspruch auf strenge Nothwendigkeit haben. Wo bleibt die Notwendigkeit der Resultate? Wenn also die Verrnunftkritik nichts seyn will als empirische Selbstbeobachtung, wo ist noch die allgemeine und notwendige Geltung ihrer Einsichten: wo bleibt, frage ich, ohne diese die Vernunftkritik? Sie muß in den Augen Kants ihre ganze Bedeutung verlieren, auch in den unsrigen" (Ibid. S. 100).

Der Rest ist dann gut hegelianische Philosophiegeschichtskonstruktion. Diese Konstruktion enthält bekanntlich den wichtigen und sicher auch richtigen Gedanken, daß jede philosophische Position ein "Resultat" vorangegangenen Philosophierens sein muß. Das lenkt die Aufmerksamkeit naturgemäß auf das, was in der späteren Position von früheren Positionen "aufgehoben" ist - im doppelten Sinnes des Festhaltens und des Abstoßens. Fischers diesbezügliche Diagnose möchte ich keineswegs als Retourkutsche auf Fries' "Polemische Bemerkungen" deuten, die Fischer ja wohl auch nicht zur Kenntnis genommen hatte, sondern darin vielmehr einen sehr wichtigen und später offensichtlich erst in neuester Zeit wieder aufgenommenen Hinweis auf die von Fries selbst ziemlich im Dunklen gehaltenen Erbteile seiner Lehre sehen. Er sagt nämlich: "Der Verstand ist nach Fries für sich genommen leer. Hier geht Fries zurück auf die Theorien von Locke und Hume. Aber die menschliche Vernunft ist im Besitz ursprünglicher Erkenntnisse, die an sich dunkel sind und erst durch Abstraktion (Reflexion) deutlich gemacht werden. Hier geht Fries zurück auf Leibniz. Dieses unmittelbare Erkennen läßt sich dem Gemeinsinn (common sense) vergleichen, worauf Humen gegenüber die schottische Schule ihre Erkenntnistheorie gründen wollte. Hier vergleicht sich Fries mit Thomas Reid und Steward. Dieses Wahrheits- und Einheitsgefühl der Vernunft ist zugleich deren nothwendige Erhebung über die in Raum und Zeit ausgedehnte, darum unvollendete und unvollendbare Sinnenwelt, die Idee des Vollendeten und Absoluten, zu der von Raum und Zeit unabhängigen Ideenwelt ... Hier ist die bedeutende Verwandtschaft, welche Fries mit dem Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi, die unter den Theologen De Wette mit Fries eingeht" (ibid. S. 96/97).

Bei dieser Konstellation und "Koalition", die Fischer sehr scharfsichtig sah, mußte es dann zum Psychologismus kommen, und Fries ist hier der Größte, damit die Geschichte über ihn hinaus zu Hegel führen konnte. Mit Fischers eigenen Worten, die zugleich diese "Historisierung" besiegeln: "...ich verkenne nicht, daß die anthropologische Auffassung der Kritik nahe liegt, und in die Entwicklung der kritischen Philosophie gehört. Es ist von großer Wichtigkeit, daß ein bedeutender Denker wie Fries sie annahm und durchführte. Aehnliche Auffassungen haben Andere neben ihm geltend gemacht; keiner, der an philosophischer Begabung ihm gleichkam. Dies ist sein großes, geschichtlich denkwürdiges Verdienst, das ich in seinem ganzen Umfang anerkenne, über dessen fortdauernde, in unserer Mitte lebende Anerkennung ich mich aufrichtig freue" (Ibid. S. 101).

Das war sicher nett und höflich gesagt, aber es war, wie man hinterher weiß, auch einer der elegantesten Rufmorde in der neueren Philosophiegeschichte.

Neben der kantianischen und hegelianischen Fortschritts- und Endzeit-geschichte und der schellingianischen Dekadenzgeschichte haben wir es aber in Deutschland noch mit einer Schule zu tun, die man geradezu die "historische" nennen kann. Sie ist dem alten (aristotelischen) Geschichtsbegriff treu geblieben, indem sie Geschichtsschreibung strikt als pure Faktenkunde betrieb und es geradezu ablehnte, die historischen Fakten vom Standpunkt irgend eines besonderen Systems, sei es ein neues letztes, sei es ein altes und ursprüngliches, zu beurteilen. Sie hat sich besonders an der antiken Doxographie im Stile des Diogenes Laertios geschult, die Behandlung der antiken Philosophie in Verbindung mit der Altphilologie und ihrer hermeneutischen Methodologie zu einem für damals und bis heute nachwirkenden Paradigma unvoreinge-nommener akribischer Forschung gemacht und ihren Forschungsbereich schließlich auch auf die neuere und neueste Philosophie ausgedehnt. Es ist die Schule Schleiermachers, Brandis' und Ritters.

In ihrem ganz und gar faktenkundlichen Sinne hat Viktor Philipp Gumposch kurz nach Fries' Tod um die Jahrhundertmitte "Die philosophische Literatur der Deutschen von 1400 bis auf unsere Tage" dargestellt, und darin auch Fries einen Platz angewiesen. Sein Platz ist in der dritten Abteilung der "philosophischen Literatur seit Kant" unter den "Gemischten Literaturpunkten", nämlich "Jena". Nach Aufzählung seiner Hauptschriften heißt es von ihm: "Man tadelte bei ihm den Mangel an Tiefe, die Breite der eiligen Darstellung, die Unsicherheit des Standpunktes etc. Dessenungeachtet hat er noch jetzt seine Schüler und Freunde, von denen Apelt...seine Apologie übernommen hat. Und es kann in der Tat sein Unternehmen im Anschluß an Jacobi, durch Gefühl und Ahnung die Kluft zwischen Idealismus und Empirismus auszufüllen, kein ganz verfehltes, oder schlecht ausgeführtes genannt werden." Es folgt dann ein Zitat von J.H. Fichte, in dem dieser sagte: "Wir dürfen Fries noch immer als den klassischen Autor einer vielverzweigten Zwischenepoche betrachten: Alle Fragen derselben sind von ihm mit Vollständigkeit, Ordnung und Klarheit ausgeführt worden" (ibid.s S. 427). Auch Erdmann wird zitiert mit Ausführungen über Kant und Fries' Anknüpfungspunkte an ihn, wobei es dann auch heißt, daß Fries "jedenfalls als der Bedeutendste unter den Halbkantianern (Bouterwek, Krug, Weiß) angesehen werden muß". Wörtlich von Erdmann übernommen wird auch das oben schon angeführte Zitat über das Fries-Jacobische Verhältnis. Weiter wird noch gesagt: "Der Einfluß von Fries ist kein unbedeutender gewesen, so sehr auch seine Lehrtätigkeit durch die Verwicklung in die burschenschaftlichen Prozesse gedrückt und gehemmt ward" (ibid.S. 428). Und es werden dann auch als Schüler genannt und charakterisiert: E. F. Apelt, E. Sigm.Mirbt, K. H. Scheidler, und "angereiht" Th. Schmid und F. van Calker.

Festzuhalten ist hier: Fries wird nun auch hier zum "Halbkantianer", und zwar zum bedeutendsten, und die "Annäherung an Jakobi" erscheint andeu-tungsweise als Identität der Standpunkte. Die erste Friesschule wird schon umfangreicher, und die Wartburgaffaire wird zwar als Impediment, aber nicht als Verhinderung einer schulbildenden Wirksamkeit gesehen. Immerhin wird er nun zum "Klassiker einer Zwischenepoche", nämlich zwischen dem deutschen Idealismus und einer noch unbenannten Wende zum Realismus und Positi-vismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ernannt.

Ein weiteres Werk dieser faktenkundlichen Philosophiegeschichte ist Fried-rich Ueberweg zu verdanken, das ja in dieser Hinsicht Maßstäbe gesetzt hat und in seinen 1o bis 12 Auflagen bis heute die erste Quelle geblieben ist, aus der man sich in Deutschland über solche Fakten erkundigt. Die erste Auflage in drei Bänden bzw. Teilen erschien in den Jahren 1863 bis 1866, also nach Kuno Fischers Würdigung. Auch in diesem Werk führt der letzte Abschnitt des dritten Teils "Die neueste Philosophie oder die Kritik und Spekulation seit Kant" vor und beginnt mit einer umfangreichen Kantdarstellung. Fries figuriert unmittel-bar im Anschluß daran im Paragraphen "Schüler und Gegner Kants" neben Reinhold, Schiller, Jakobi, Beck und Bardili. Damit ist Fries wieder zum reinen Kantianer zurückverwandelt. Und da vom Neukantianismus und der Rückkehr zu Kant - wie von einigen zaghaften Stimmen auch schon damals gefordert - noch nicht die Rede sein konnte, so kommt das einem ehrenvollen Begräbnis im Friedhof des nur noch geschichtlich Interessanten gleich.

Was nachher noch behandelt wird, zeigt dann die eigentliche Fortschrittslinie zum "gegenwärtigen Zustand der Philosophie in Deutschland" und "außerhalb Deutschlands", mit dem auch Ueberweg endet. Es sind nämlich: Fichte und die Fichteaner, Schelling und seine Anhänger und Geistesverwandten, Hegel (noch ohne Schule), Schleiermacher, Schopenhauer, Herbart und zuletzt Beneke. Im größer gedruckten Vorspann des Paragraphen 19 über die Kantianer (an dem der eilige Leser des "Ueberweg" ja gewöhnlich schon hängen bleibt), heißt es über Fries: "Durch Verschmelzung Jacobi'scher Anschauungen mit der Kantischen Philosophie gelangte Jakob Fries zu der Lehre, daß das Sinnliche Objekt des Wissens, das Übersinnliche Objekt des Glaubens (und zwar des Vernunft-glaubens), die Bekundung oder Offenbarung des Übersinnlichen im Sinnlichen aber Objekt der Ahnung sei; die Vernunftkritik hat Fries psychologisch zu begründen versucht." (ibid. S. 183). Im Kleingedruckten liest man dann aber viel Genaueres - auch Richtigeres und fast apologetisch zu Nennendes - über Fries Unternehmen, in der Vernunftkritik psychologische Forschung und metaphysisch-apriorische Gehalte genau zu unterscheiden. Vor allem ist da überhaupt nicht mehr von Jacobi die Rede. Zunächst gibt Ueberweg Fries Recht: es lasse sich "nicht leugnen, daß auch er (Kant) seine Vernunftkritik auf - wirkliche oder vermeintliche - Tatsachen der inneren Erfahrung basiert" (ibid. S. 190). Und er fährt fort: "Keineswegs aber liegt, wie Einzelne gemeint haben, ein 'Widersinn' in der Annahme, daß wir durch innere Erfahrung inne werden, Erkenntnisse a priori zu besitzen; denn die Apodiktizität und Apriorität soll den mathematischen und metaphysischen Erkenntnissen, wie auch dem Pflicht-bewußtsein selbst anhaften, der empirische Charakter aber nicht diesen Erkennt-nissen als solchen, sondern nur unserem Bewußtsein, daß wir dieselben besitzen. Falls es überhaupt Erkenntnisse a priori im Kantischen Sinne dieses Terminus gäbe, so könnte ganz wohl angenommen werden, was Fries annimmt, daß die Metaphysik ebenso wie die Mathematik von aller Erfahrungswissenschaft spezifisch unterschieden sei, und daß doch zugleich eine auf innerer Erfahrung ruhende Wissenschaft, nämlich die Vernunftkritik, über den Rechtsgrund und die Grenzen der Gültigkeit jener apodiktischen oder wenigstens Apodiktizität beanspruchenden Erkenntnisse zu entscheiden habe. "(ibid. S. 190).

Man beachte, wie Ueberweg hier über Apriorisches im Konjunktiv spricht, denn er glaubte selber nicht daran und konnte daher recht unvoreingenommen über die logische Stimmigkeit der wiedergegebenen Friesschen Argumentation urteilen. Das ändert sich hernach bei den Neukantianern gründlich. Fries' wissenschaftstheoretische Überlegungen werden übrigens ganz mit den Kantischen identifiziert. Nur der "Gedanke der mechanischen Erklärbarkeit der Organismen" wird hervorgehoben, den Schleiden dann für das Pflanzenreich "durchzuführen gesucht" habe. Jedenfalls ist alles Wissen auf die Erscheinungswelt beschränkt. "Auf die Dinge an sich...geht der Glaube. Allem Handeln der Vernunft liegt der Glaube an Wesen und Wert, zuhöchst an die gleiche persönliche Würde der Menschen zum Grunde" (ibid. S. 190). Und schließlich: "Die Religionsphilosophie ist Wissenschaft vom Glauben und der Ahnung, nicht aus ihnen" (ibid. S. 190). Von Fries' Verwicklungen in die politischen Zeitverhältnisse ist überhaupt nicht die Rede. Offenbar haben sie erst nach Erscheinen der Henkeschen Biographie, die hier nur angekündigt war , Aufmerksamkeit erweckt. Dafür hat sich aber die Reihe seiner Schüler verlängert: Schleiden, Mirbt, van Calker, Apelt, Schmid, Hallier, Schlömilch, de Wette; als "verwandter Art" werden Reichlin-Meldegg und F. H. Germar genannt. "Auf Beneke, der zum durchgeführten psychologischen Empirismus fortgegangen ist, ist die Fries'sche Doktrin in mehrfachem Betracht von wesentlichem Einfluß gewesen " (ibid. S. 191).

Abgesehen davon, daß hier die praktische Philosophie und vor allem die Rolle der "Menschenwürde" darin in den Vordergrund treten, was nachher das Interesse vor allem in der Nelsonschule an Fries anregte, erzeugt diese Darstellung von Fries so etwas wie eine optische Täuschung. Fries wird nämlich als Kantianer mit den Kantianern der ersten Generation in eine Verbindung gebracht, von denen die meisten doch um eine Generation älter als er waren oder die er beträchtlich überlebt hat. Karl Leonhard Reinhold war 1828 gestorben, Schiller 18o5, Jacobi 1819, Bardili 18o8, nur Beck ist erst kurz vor Fries 184o gestorben. Seine eigentlichen Generationsgenossen, die deutschen Idealisten und erst recht Herbart und Beneke aber werden nach ihm in der Art und Weise, als ob es sich um die Jüngeren und Späteren handele, dargestellt. Darauf beruht noch eine weitere irreführende Suggestion. Gerade weil es als positive Leistung von Fries hingestellt wird, daß er den Nachweis erbracht habe, daß Kants Vernunftkritik selbst in weiten Teilen pure Psychologie sei, wird das Eigene und Originelle seines Beitrags zur Begründung der modernen Psychologie als Wissenschaft neben Herbart und Beneke gar mehr gesehen, und demnach erscheinen letztere nun als deren Begründer und zugleich als die letzten in der Reihe der neuesten Denker.

Die späteren Auflagen des "Ueberweg" in der Bearbeitung von Max Heinze haben die Disposition und auch den Text von Ueberweg ziemlich getreu beibehalten, aber doch um zusätzliche Informationen erweitert. Und doch ist die optische Täuschung des historischen Zurückgleitens verstärkt worden. Die 8. Auflage von 1896 teilt den dritten Teil über die Neuzeit nun in zwei Bände auf, wobei Fries im vorletzten Band "Vorkantische und kantische Philosophie" im selben Kontext der "Schüler und Gegner Kants" angesiedelt bleibt, während der letzte Band von Fichte bis Beneke als der "Zeit der aus der kantischen Kritik hervorgegangenen Systeme" handelt, um dann mit der "Philosophie der Gegenwart" abzuschließen, zu der auch der Bericht über das Ausland gehört. Dieser letzte Abschnitt enthält nun auch einen Paragraphen über "Psychologismus". Er behandelt Brentano, Carl Stumpf, Alexius von Meinong, A. Marthy , Husserl, Chr. v. Ehrenfels, Theodor Lipps, Goswin K. Uphues und Hermann Schwarz. Von Fries ist dabei nirgends mehr die Rede. Im groß Gedruckten über Fries heißt es nun, den vorn zitierten Text erweiternd: "Die Vernunftkritik hat Fries psychologisch zu begründen versucht und so einen Anthropologismus gelehrt, der auch in der Gegenwart noch Anhänger hat. Zugleich räumt er der philosophischen Ästhetik eine viel größere religions-philosophische Bedeutung ein als Kant und hat so den ästhetischen Rationalismus begründet" (ibid. S. 325). Im Kleingedruckten wird Fries nicht mehr unmittelbar nach Jakobi behandelt, sondern Herder wird noch eingeschoben, der 18o3 gestorben war. Viel entschiedener als von Ueberweg selbst wird aber hier auch der Psychologismusvorwurf von Kuno Fischer zurückgewiesen durch die eingeschobene Bemerkung: "Es ist demnach die Untersuchung Fries' keineswegs mit den Worten abzufertigen: 'Was a priori ist, kann nie a posteriori erkannt werden' " (ibid. S. 337, Anm.). Bei den Schülern wird nun auch auf Jürgen Bona Meyer hingewiesen, der "an Fries anknüpfend auch neuerdings... einen psychologischen Empirismus als die richtige Fortbil-dung der kantischen Philosophie hingestellt" habe.

Die zwölfte und letzte "völlig neu bearbeitete Auflage" des Ueberweg von Tr. K. Oesterreich bietet dann aber Fries in einem gänzlich neuen Lichte dar. Er erscheint nun gar nicht mehr als Kantianer, sondern rückt mit seinem Werk in die Reihe der "spekulativen Systeme (bis 1831)" ein, und zwar gleich nach Schopenhauer und vor Herbart, Bolzano und Beneke. Und diese Neubewertung verdankt sich offensichtlich dem in diesem Werk zuletzt registrierten "Wieder-aufstieg der Philosophie (seit 1870)", der ganz wesentlich auch auf nunmehr sieben Kantianischen Schulen beruht. Unter diesen aber ist die letzte die "Neufriesische Schule". Sie firmiert unter dem Titel: "Die psychologistische Umgestaltung des Kritizismus. Nelsons Neufriesische Schule".

Obwohl bei den "spekulativen Systemen" aufgeführt, beginnt die groß gedruckte Darstellung Fries' sehr apodiktisch: "Jakob Friedrich Fries (1773-1843) ist ein Hauptvertreter des Psychologismus. Er steht in Gegensatz zu den spekulativen Systemen. Selbst der Meinung, Kants Erkenntnistheorie nur von Fehlern befreit zun haben, hat er dieselbe vielmehr ganz ins Psychologische gewandt. Da alles Erkennen eine psychische Funktion ist, ist nach ihm die grundlegende Disziplin der Philosophie die Psychologie ('psychische Anthro-pologie'). Es sollen zuletzt alle apriorischen Vernunfteinsichten, weil sie jedem Menschen beim Handeln immanent sind, durch bloße Selbstbeobachtung gewonnen werden, so daß alle Philosophie zu einer psychologischen Erfahrungs-wissenschaft wird" (ibid. S. 147). Weiter heißt es fast leitmotivisch: "...über-nimmt er von Kant alles Wesentliche". Immerhin aber doch auch: "Der Begriff der persönlichen Würde ist sein Zentralbegriff (in der Moralphilosophie). Auf ihn gründet er seine Philosophie des politischen Lebens im Sinne des Liberalismus seiner Zeit" (ibid. S. 147). Und weiter: "Am selbständigsten ist Fries auf religionsphilosophischen Gebiet" (ibid. S. 147). Zuletzt dann: "Die philosophische Wirkung Fries' ist nur von mäßigem Umfang, die Zahl seiner Schüler gering gewesen. Neuerdings ist jedoch von mehreren Seiten auf Fries zurückgegriffen worden, so daß von einer neuen Fries-Schule gesprochen werden kann" (ibid. S. 147/148).

Der Gerechtigkeit halber muß man sagen, daß das Kleingedruckte diese Annonce sogleich Lügen straft, obwohl man auch hier auf Fragwürdiges stößt. Der Text ist auf ca. 7 Seiten gewachsen, und es folgt auch noch etwas mehr als eine Seite über seine unmittelbaren Schüler. Unter den biographischen Details lesen wir: "1819 ging es Fries ähnlich wie Fichte; er wurde auf Drängen der preußischen und Österreichischen Regierung von seinem Amt suspendiert. Die Suspendierung war auf Fries von großer Wirkung, er trat nicht mehr hervor und sah resigniert auch seine Philosophie ohne Einfluß bleiben" (ibd. 149). Und später dazu noch: "Auf die Bildung einer Schule durch Fries hat neben seinem Gegensatz zum Zeitgeist seine Suspendierung vom Lehramt schädigend eingewirkt. Die Abhaltung privaten Unrterrichts konnte den Verlust des Katheders nicht ausgleichen" (ibid. S. 154).

An weiteren Punkten ist festzuhalten: daß Fries die nachkantischen Systeme in seiner Philosophiegeschichte als "neuere große Rückschritte" abfertigte und "die intellektuellen Schwächen ihrer Deduktionen erkannte und auch bereits persiflierte"; daß ihm aber "die Erkenntnis der sonstigen Bedeutung jener Denker abging". Kritisch heißt es, daß "seine eigenen Schriften in manchen Punkten wenig klar und durchsichtig" seien. "In vielem schließt sich Fries eng an Kant an. Er hat sich selbst für seinen treuesten Schüler gehalten und erblickte im Kantischen System den Abschluß der Geschichte der Philosophie, den es nur im einzelnen zu verbessern gelte. Außer Kant haben auch Jacobi und Schleier-macher Einfluß auf ihn gewonnen" (ibid. S. 149). Über die Veränderungen am Kantischen System wird wieder "seine Umgestaltung des Transzendentalen ins Psychologische" hervorgehoben: "Er ist ganz und gar Psychologist" (ibid. S. 149). Und dennoch soll "Fries diese rein immanente, extrem psychologistische Auffassung des Erkennens nicht konsequent durchgeführt" haben (ibid. S. 15o), was dann allerdings mit zahlreichen Zitaten keineswegs belegt wird. Man sieht aber daran, wie man Fries gerne gehabt hätte, daß man ihn aber wie gewünscht gar nicht bekommen konnte.

Endlich wird wie bei Erdmann auch wieder auf Fries als Naturforscher hingewiesen. "Auf naturphilosophischem Gebiet wird Fries' Gegensatz zur Spekulation seiner Zeit besonders deutlich. Er hält sich auf soliderem Boden und zeigt eine ausgedehnte Kenntnis der positiven Forschung seiner Zeit, war er doch selbst (s.o.) Professor der Physik und Mathematik und hat exakte natur-wissenschaftliche Arbeiten geschrieben" (ibid. S. 151). Und weiter: "Ein Ver-dienst kommt Fries auf dem Gebiet der Philosophie der exakten Wissenschaften insofern zu, als er zu den wenigen Systemphilosophen gehört, die um eine Philosophie der Mathematik bemüht gewesen sind.... Auch mit der Theorie der Wahrscheinlichkeit hat er sich beschäftigt" (ibid. S. 151).

Seiner Psychologie, bei der er sich als außer durch Kant auch durch Platner beeinflußt bekenne, und ihrer Kontraposition zu Herbart wird eine knappe Seite gewidmet. Dabei werden besonders seine Beiträge zur Psychiatrie hervor-gehoben. Anerkennend heißt es: "Wie neuerdings erkannt worden ist, ist Fries der psychiatrischen Entwicklung um fast ein halbes Jahrhundert mit seinen Ideen vorausgeeilt... Die damaligen Fachpsychiater haben keine von diesen Einsichten besessen" (ibid.S. 152).

Merkwürdiger Weise wird dann behauptet: "Am engsten schließt sich Fries trotz mancher Polemik an Kant in der Moral- und Rechtsphilosophie an. Der beherrschende Begriff ist der der persönlichen Würde" (ibid. S. 152). Es wird ihm als Liberalem "maßvolles und abwägendes Denken" bestätigt, das hellenisch-antikes Leben als Vorbild ansieht" (S. 153) und gleichzeitig auf davon sehr abweichende "Reformforderungen auf sozialrechtlichem Gebiet ('Unser Recht ist ein Faustrecht der Reichen', Politik 210) hingewiesen. Sein "großes Vertrauen auf die kulturellen Kräfte des Volkes", erfahren wir dabei, habe Hegel zu seinem Gegner gemacht, und dessen Charakteristik von Fries (in der Rechtsphilosophie) als einem "Heerführer der Seichtigkeit, die sich Philoso-phieren nennt" und seiner Wartburg-Rede als "Brei des Herzens, der Freund-schaft und Begeisterung" werden hier zitiert.

Es folgt noch eine kurze Darstellung von Fries' Gedanken zur Geschichts-philosophie aus der postum von Apelt herausgegebenen "Politik" und seiner Religionsphilosophie. Letztere, die mehr als Kant Religion und Ästhetik einander annähere, wird als mit dem Geist der Romantik verwandt charakte-risiert, vor allem wegen seiner Lehre von der "Schönheit der Seele". Dann heißt es: " Im Zusammenhang mit dieser (Lehre) wie vor allem seiner deutsch-nationalen Gesinnung legt Fries Wert auch auf körperliche Schönheit und Ausbildung. 'Halte auf gesunde, kräftige, gewandte und anmutige Erscheinung deines Körpers'" (ibid.S. 153).

Zum Abschluß ist die Liste der Schüler noch dieselbe wie bei den früheren Auflagen, jedoch wird Apelt ausführlicher dargestellt und besonders auf sein Werk "Epochen der Geschichte der Menschheit" hingewiesen und daraus zitiert, daß es "die großen Ansichten (von Fries) mit jenem Farbenglanze umgeben (solle), welcher den Schilderungen Alexander von Humboldts einen so magischen Reiz verleiht". Davon heißt es: "Sie geben in prächtigem Stil eine geschichtsphilosophische Darstellung des Werdeganges der Kultur, kulminie-rend im II. Bd., der die Kant-Friessche Weltanschauung behandelt" (ibid. S. 155).

Bemerken wir zum Abschluß, daß die Darstellung der "psychologischen Umgestaltung des Kritizismus" durch die Nelsonschule in keiner Weise erkennen läßt, wie und wo die Neufrisianer an Fries Lehre anknüpfen. Nelsons berühmte Argumentation gegen alle Erkenntnistheorie und seine Ethik und Rechtsphilosophie werden zwar auf drei Seiten ausführlich dargestellt, aber das Hauptargument ist hier nur die schlichte Behauptung, daß Nelson , "der Führer und Begründer der sogenannten Neufriesischen Schule ...im Gegensatz zu fast allen übrigen Neukantianern der Gegenwart für eine psychologische Inter-pretation Kants in engem Anschluß an Fries und Apelt" eintrete (ibid. S. 473). Obwohl sich ja Nelson und einige seiner Anhänger auch monographisch mit Fries befaßt haben, hat man in dieser frühen Zeit den Eindruck, daß Nelson und die Neufrisianer keineswegs von Fries "hergekommen", sondern wegen ihrer eigenständig entwickelten psychologistischen Kritik am Neukantianismus auf Fries "zurückgegangen" sind.

Wir haben bisher das Bild von Fries nachgezeichnet, wie es sich in den großen und repräsentativen Philosophiegeschichtswerken des 19. Jahrhunderts darstellt, die ihrerseits - auch durch bearbeitete Auflagen - ins 2o. Jahrhundert wirken und somit lange genug Zeit gehabt haben, das allgemeine Bewußtsein zu bestimmen. Fügen wir dem noch einige Züge hinzu, die der wohl beste Kenner der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts im angelsächsischen Sprach-raum verbreitet hat, und auf den wohl letztlich auch das neuere Interesse an Fries in analytischen Kreisen zurückgeht. Es handelt sich um John Theodore Merz und seine vierbändige "History of European Thougt in the Nineteenth Century" aus den Jahren 1904-1912. Er kommt an vielen Stellen immer wieder auf Fries zu sprechen und teilt ihm - immer neben Herbart und Beneke - eine wichtige Stellung in einem für die gesamteuropäische Geistesentwicklung markanten Umbruch von philosophischer Systembildung zu einem an einzel-wissenschaftlichen Problemen orientierten Philosophieren zu, das sich nicht mehr zu metaphysischen Vereinheitlichungen aufschwingt. Von daher ist die Psychologismusfrage für ihn überhaupt keine Frage mehr. Fries steht mit anderen an der Spitze dieser Bewegung. "Er (und andere) führten die Anthropologie ein, Schleiermacher Religions- und Moralphilosophie; andere wie Wilhelm von Humboldt, gefolgt von Philologen und Philosophen gleicherweise, arbeiteten an der Sprachphilosophie. Dann haben wir noch Rechtsphilosophie, politische Ökonomie, Staats- und Sozialphilosophie, und all dies mehr oder weniger unabhängig oder nur mit einem schwachen Bezug und Verbindung mit den zentralen Problemen des systematischen Denkens; und schließlich haben wir noch die Psychophysik" (ibid. IV, S: 596). Und, so können wir hinzufügen, niemand behauptet, dieses seien nun theologistische, linguistizistische, juridistische, politökonomistische, soziologistische oder psycho-physikalistische Systeme. Von Fries heißt es apodiktisch: "Zu dieser Zeit war der einzige Denker, der sich der Naturphilosophie selbst widmete, um eine Philosophie der Natur aufzubauen, Fries. Von den Idealisten ganz abgesehen, hatte auch Herbart, der Führer der 'exakten" Philosophie, nur ein sehr unvollkommenes Wissen von den Prinzipien der wissenschaftlichen Forschung" (ibid. S. 396 Anm.). Erst nach ihm kamen dann auch andere aus der exakten Forschung, wie Lotze, Helmholtz, Du Bois Reymond, Kirchhoff, Wundt, Ostwald, Mach und Haeckel. Und, so können wir auch hier hinzufügen, Fries führt diese Reihe an und wurde ihr Vorbild. Da fehlt denn auch die von Henke überlieferte Anekdote nicht, die Schleiden von Gauss berichtet: Daß er nämlich zu einem Studenten, den er mit Fries "mathematischer Naturphilosophie" antraf, sagte: "Young man, if you manage after three years of study to understand and appreciate this book, you may leave the university with a conviction, that you have employed your time better than most of your fellow-students" (ibid. Vol. III, S. 258, Anm.). Zweifellos ist diese Story eines der effektivsten Werbefeatures der neueren Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte für einen deutschen Gelehrten im Ausland gewesen.

Daneben stellt Merz aber auch den Beitrag Fries' zur Religionsphilosophie als bedeutsam heraus, wenn er ihn auch neben Schleiermacher etwas herunterstuft. Er liege darin, daß Fries die Religion als "psychologisches Phänomen" behandle. Dieser Hinweis ist sicher in Amerika auch immer beachtet worden, aber er hat offensichtlich erst in jüngster Zeit auch literarische Früchte getragen

Es ist sehr auffällig, daß weder Merz noch die anderen bisher genannten Philosophiehistoriker Fries' Beiträge zur Rechts- und Sozialphilosophie und zur politischen Ökonomie angemessen gewürdigt haben. Wir haben gesehen, daß er allenfalls wegen seiner Verfassungsschriften als "Liberaler" gekennzeichnet worden ist. Erst die Neufriesianer Nelsons haben diesen Teil seines Werkes in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit gezogen und Fries dabei als Alternative zu Marx und Engels, d. h. als Radikalsozialisten vereinnahmt. Fries' politische Philosophie, die aber auch erst nach Apelts Ausgabe seiner nachgelassenen "Politik" in ihrem ganzen Umfang bekannt geworden ist, enthält jedoch die philosophischen Grundsätze für seine unrühmliche Stellungnahme zur Juden-frage, die zu seiner Zeit erhebliches Aufsehen erregte, ihn bei neueren jüdischen Historikern aber zu einem der Wortführer des Antisemitismus und Propagator der Endlösung gemacht haben. Zweifellos sah er scharfsichtiger als viele andere die internationalen Verflechtungen des Finanzkapitals und der großen Handelshäuser, die im schlesischen und im Napoleonischen Krieg alle kriegführenden Parteien finanziert und beliefert hatten, und an denen jüdische Häuser einen beträchtlichen Anteil hatten. Nicht anerkennen wollte er die aussperrende Wirkung des Zunftwesens, das die Juden zur "Händlerkaste" gemacht hatte. Damit ineins sah er als Religionsphilosoph auch die verhee-renden Wirkungen, die die religiösen Ideologien als kulturprägende Mächte auf ganze Völker hatten, indem sie Kreuzzüge anzettelten und dann die Waffen aller Parteien segneten. Aber darüber deutlicher zu werden, war wohl damals wie auch heute Tabu. Aber für Fries ergab sich daraus sein Plädoyer für einen einheitlichen nationalstaatlichen Kultus und die Verhinderung jeder externen Einflußnahme auf die nationalen Belange. Seine Schlüsse aus dieser Diagnose führten ihn zu den berüchtigten politischen Empfehlungen: Entweder "Ausrot-tung des Judentums" in all seinen institutionellen Formen und damit voll-ständige Assimilation und "Aufnahme des Juden als Bruder" in die Zivil-gesellschaft, oder Stigmatisierung und Vertreibung aller Juden aus dem Staat. Daß beide Wege beschritten wurden, liegt auf der Hand. Viele Juden hatten ja schon den ersteren Weg eingeschlagen und ihr Judentum aufgegeben, und oftmals vergaßen sie überhaupt ihre jüdische Herkunft, bis sie durch den perfiden Ariernachweis des Naziregimes an diese Wurzeln erinnert wurden. Der zweite Weg wurde dann bekanntlich zunächst offizielle Nazi-Politik. Aber er scheiterte daran, daß auch andere Staaten vertriebene Juden nur in begrenztem Umfang aufnahmen. Das Ende war der Holocaust. Aber den hat Fries nicht empfohlen.

Es gibt keinen Grund, die Äußerungen Fries' zur Judenfrage zu beschönigen oder gar zu rechtfertigen. Sie sind und waren inhuman. Den ersteren Weg erzwingen zu wollen, führt zum ideologischen Terror, den wir heute als Fundamentalismus kennen. Der zweite, von den Spaniern schon vorgemacht und offensichtlich damals noch in aller Erinnerung - auch Fries erwähnt das -, mußte zum rassistischen Nationalstaat führen. Beide Empfehlungen aber haben dazu beigetragen, den Ungeist des Antisemitismus und der Fremdenangst in Deutschland wieder zu beleben, nachdem diese alte Wunde im christlichen Abendland durch Aufklärung und französische Gesetzgebung gerade zu heilen begonnen hatte. Gerade wenn man sie aus der Sicht des Gesamtwerkes von Fries und insbesondere seiner Ethik und seiner Lehre von der "Würde des Menschen" betrachtet, müssen sie als Menetekel dafür gelten, wie schnell und leichtfertig höchste Humanität bei den Prinzipien in unhumane Folgerungen und Anwen-dungen umschlagen kann. Zu seiner Zeit hat Fries' Rezension eine verständliche Aufregung in jüdischen Kreisen erregt, und es ist ihm - wie etwa von Zimmern- in gebührender Weise geantwortet worden. Und später hat die allgemeine und politische Geschichtsschreibung aufmerksam Notiz davon genommen. Bei den Philosophiehistorikern aber blieb die Angelegenheit bis heute gleichsam ausgespart, wie wir schon gesehen haben und wie man auch in den neueren Philosophiegeschichten bemerkt. Das gilt selbst für die Nazi-Zeit, in der sich keiner der Chefideologen auf Fries berief. Damals hat sich nur Max Wundt für Fries als Vordenker der "wahren völkischen Gemeinschaft" stark gemacht. Man kann nur die englische Erstausgabe von Dagobert D. Runes "Pictorial History of Philosophy" von 1959 nennen, der auf Fries und seinen angeblichen Vorschlag hinweist, "alle jüdischen Neugeborenen in die Flüsse zu werfen." Die Neo-Frisianer, von denen viele wie Nelson selbst Juden waren, und von denen viele in deutschen Konzentrationlagern umgebracht wurden oder die sich ins Exil retteten, haben Fries' Äußerungen zur Judenfrage niemals hochgespielt. Aber die Sache las sich vor und nach dem Holocaust auch anders. Für die Gegenwart wird man feststellen können, daß Fries nur in der allge-meinen politischen Geschichtsschreibung und bei jüdischen Historikern als einer der Hauptpromotoren des deutschen Antisemitismus gilt. Aber da wird er ge-wöhnlich mit Fichte und Hegel zusammen an den Pranger gestellt.

 

Wir können ein Fazit dieser philosophiegeschichtlichen Einschätzung von Fries ziehen. Es sind drei Gesichtspunkte, die in den Vordergrund getreten sind und in immer verschiedenen Variationen weitergegeben wurden: 1. das Psychologismusepitheton, 2. die Zuordnung zum Kantianismus und damit verbunden die wissenschaftstheoretische Bedeutung von Fries, und 3. das Glaubensargument, wie es hier vorläufig genannt sei. Das Epitheton vom "Judenhasser Fries" und Promotor des deutschen Antisemitismus im 19. Jahrhundert ist in die allgemeine philosophiegeschichtliche Würdigung nicht eingegangen.

Was den "Psychologismus" betrifft, so war dies Epitheton von vornherein ein Totschlagsargument der Kantianer bzw. derjenigen, die sich dafür hielten, gegen jede Hinterfragung der sog. Transzendentalphilosophie. Fries hat aber nicht mehr behauptet, als daß in der "Transzendentalphilosophie", wie Kant sie in den Kritiken vorgestellt hatte, eine Menge Psychologie stecke. Das hatte auch Russell - mit Recht - gegen Freges früheste logische Grundlegungsüberlegungen eingewandt, und man hätte es auch genau so berechtigterweise gegen Husserls nicht nur frühe, sondern auch die spätere Ausarbeitung der Phänomenologie, gegen Diltheys "Grundlegung" der Geisteswissenschaften und Heideggers Existenzialanalyse einwenden können, deren Einsichten ja ebenfalls in der Psychologie (und Psychiatrie) als "klassische" Beiträge gelten. Das Argument hat bei Fries nachhaltiger gewirkt, weil zu seiner Zeit die Psychologie noch gar nicht als Wissenschaft konsolidiert war, und er bei Gelegenheit seiner Kantkritik diese wissenschaftstheoretische Begründungs- und Konsolidierungsarbeit mitleistete. Man muß es daher als einen verhängnisvollen geistesgeschichtlichen Fehler der Kantianer beklagen, daß sie sich Fries' Kritik nicht grundsätzlich zu eigen gemacht haben und in der Transzendentalphilosophie genauer zwischen dem unterschieden, was tatsächlich psychologische Erkenntnis ist, und dem was den eigentlichen "metaphysischen Kern" der Transzendentalphilosophie ausmacht, nämlich die Lehre vom Apriori. Man mußte bis auf Nelson warten, um das Psychologismusargument gegen Fries als das zu erweisen, was es wirklich war, nämlich eine "Fabel". Christian Bonnet hat diese Gegen-argumentation neulich wieder aufgegriffen, und man wird erwarten können, daß es in Zukunft endlich vom Tisch ist. Daß Nelson dabei gewissermaßen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat, d. h. die ganze Erkenntnistheorie als Disziplin in Frage gestellt hat, die doch aller sonstigen Kantianer und Analytiker liebstes Kind gewesen und geblieben ist, das steht auf einem ganz anderen Blatt und muß hier nicht zurückgewiesen werden. Vielleicht sollte man hier aber auch auf die irreführenden Folgen der ziemlich neuen europäischen Gewohnheit hinweisen, Diskussionsgegenstände nach den ihnen zugeordneten Einzelwissenschaften zu benennen. Physische Gegenstande erscheinen dann als "physikalische", und Bewußtseins- und Seelenphänomene sind dann "psychologische". Fries hat sicher als "Psychologe" über psychische Phänomene gesprochen, aber er hat gerade nicht - wie er mit Recht Fichte, Schelling und Hegel vorgeworfen hat - psychische Phänomene wie das "Ich", die "intellektuelle Anschauung" oder den "Geist" oder die "Erinnerung" schlechthin zu metaphysischen Prinzipien stilisiert, was man erst mit Recht "Psychologismus" hätte nennen können.

Was nun Fries' Zuordnung zum Kantianismus betrifft, so hat Fries ja selbst darauf bestanden und sich selbst für den einzigen echten Kantianer gehalten. Und dies auf dem Hintergrund der Überzeugung, daß es nach und außer dem Kantianismus keine andere Philosophie mehr geben könnte, die diesen Namen verdiente. Das war zumindest voreilig und in der Sache töricht. Diese Fehleinschätzung wurde, wie wir sahen, durch die Philosophiehistoriker im Laufe von sechzig Jahren korrigiert. Erst galt er als "treuer" Kantianer, dann als "Halbkantianer" und schließlich - in den letzten Ueberwegauflagen - als Autor eines eigenen "Systems der Philosophie" neben den deutschen Idealisten und Herbart. Das war richtig, und daran muß jeder Versuch, die philosophie-geschichtliche Stellung von Fries' zu bestimmen, ansetzen.

 

 

III. Diese Einschätzung war auch der Gesichtspunkt, unter dem die Herausgeber der Sämtlichen Schriften von Fries im Jahre 1967 ihre Arbeit in Angriff genommen haben. Man muß aber sogleich dazu sagen, daß dieser Gesichtspunkt weder damals noch heute im Zeichen des Dekonstruktionismus und des "wilden - oder schwachen - Denkens", das mit Nietzsche das systematische Denken als "intellektuelle Unredlichkeit" perhorresziert, zeitgeistgerecht war. Wenn man davon ausging, daß Fries - neben den deutschen Idealisten - die Fahne der besten Traditionen des Systemdenkens des 17. und 18. Jahrhunderts ins 19. Jahr-hundert hinein hochhielt und damit auch heute noch beispielhaft wirken kann, so war das ziemlich reaktionär. Und wenn man darüber hinaus auch noch davon ausging, daß ein anständiges philosophisches System sein Zentrum und sein Begründungspotential in einer Metaphysik als eigentlicher Grunddisziplin haben mußte, so war das sogar bei den Wissenschaftstheoretikern analytischer Provenienz nach all den (vergeblichen) Versuchen der "wissenschaftlichen Überwindung der Metaphysik" nicht gerade "fortschrittlich". Immerhin ließ sich die Herausgabe seiner Sämtlichen Schriften, und zwar absehbar schnell, weil vorwiegend mit photomechanischen Mitteln, als ein Unternehmen rechtfertigen, mit dem einem Systemdenker von Rang Gerechtigkeit widerfuhr angesichts der Tatsache, daß die deutschen Idealisten und auch der Realist Herbart schon so lange ihre Gesamtausgaben hatten.

Fries ist neben Herbart in der Tat der einzige umfassende Systemdenker jener Zeit, der überhaupt noch eine "Metaphysik" geschrieben hat, und der dann - weiter ausgreifend als Herbart - die "metaphysischen Anfangsgründe" als "demonstrable" Axiome für die Begründung und heuristische Forschung in fast allen philosophischen Bereichsdisziplinen und über diese hinaus in den positiven Einzelwissenschaften zur Geltung und konsequenten Anwendung gebracht hat. Diese Anwendung und Ausarbeitung für die Einzelwissenschaften macht ihn überhaupt erst zum Wissenschaftstheoretiker sowohl der Naturwissen-schaften wie auch - durch die philosophische Anthropologie und die Logik, die ja als sein einziges Werk drei Auflagen (und mit dem Nachdruck der Neufriesischen Schule sogar vier Auflagen) erlebte und damit recht verbreitet war - der Geisteswissenschaften. Es ist freilich wahr, daß seine Grundlegungs-arbeiten im Bereich der "quadrivialen" Wissenschaften, also der Naturwis-senschaft und Mathematik, mehr beachtet und intensiver genutzt worden sind als diejenigen im Bereich der "trivialen" Geisteswissenschaften. Man sieht es auch in unserem Jahrhundert an den Friesdarstellungen etwa bei Neukantianern wie Cassirer, und Vorländer, ja noch in der großen (neunbändigen) Philosophiegeschichte von L. Geymonat, ganz abgesehen von den Bezugnahmen Poppers und Karl Alberts auf Fries. Und es ist auch wahr, daß Fries keine eigene "Hermeneutik" oder "Sprachphilosophie" geschrieben hat. Aber diese Bereiche ließen sich aus den Materialien seiner Logik und anderen Schriften, nicht zuletzt aus seiner kleinen Schrift über "Platons Zahl", die ein Jahrhunderträtsel der Altphilologie gelöst hat, ohne daß es die Altphilologen und Philosophiehistoriker der klassischen Philosophie überhaupt bisher zur Kenntnis genommen haben, ziemlich leicht destillieren. Seine "philosophische Anthropologie" hätte in der Hochzeit der Lebensphilosophie und Existenzphilosophie ein Klassiker werden müssen, wenn sie nicht teils durch das Pschologismusargument als diskriminiert, teils als historischer Beitrag zur Begründung der "empirischen Psychologie" abgetan gewesen wäre. Und das kann man auch von seiner Logik sagen, die ja keineswegs eine "psychologistische Logik" ist, sondern nur die psychischen Akte des Erinnerns und Denkens beim logischen Prozedere berücksichtigt, anstatt - wie Bolzano und Frege - von "Gedanken an sich, die keiner denkt" zu schwärmen. Immerhin ist seine "praktische Philosophie", Ethik und Rechtsphilosophie durch die Neukantianer - meist unter der Hand - so total rezipiert worden, daß bei allen modernen Diskussionen um Verfassungsprinzipien und insbesondere um die "Menschenrechte" keiner mehr weiß, daß die "Würde des Menschen" als materiale Ausfüllung des kategorischen Imperativs, die ja heute in den Verfassungen der meisten Staaten der Welt steht, auf Fries zurückgeht. Seine Religionsphilosophie ist durch die aufgeklärten protestantischen Theologen mindest ebenso total rezipiert worden, so daß auch die gottlosesten Entmythologisierer unter den Theologen sie immer noch als ein apriorisches Fundament für eine "geisteswissenschaftliche" Theologie benutzt haben. Da er seine Ästhetik aber mit der Religionstheorie und seiner Glaubens- und Ahndungslehre so eng verflochten hatte - was ja die beste Tradition des Platonismus und Neuplatonismus war - hat man sie immer zu wenig in ihrer wissenschaftstheoretischen Relevanz beachtet Und so ist gerade in einer Konstellation wie heute, wo man beim "Postmodernismusdialog" mit all seinen fundamentalistischen und "theologischen" Zügen fast von einer "ästhetizistischen Wende" in der westeuropäischen Philosophie sprechen kann, sicher noch mit neuem Interesse auch dafür zu rechnen. Aber das bringt uns auf den eigentlich metaphysischen Punkt der Friesschen Philosophie zurück.

Wir haben gesehen, daß die älteren Philosophiehistoriker die Friessche Glaubenslehre immer auf seine Begründung der Religionsphilosophie bezogen haben. Und deshalb haben sie auch Fries und Jacobi, der nun wirklich ein gläubiger Mensch war, in engsten Zusammenhang gebracht. Von Fries aber muß man sagen, daß er in irgend einem religiösen Sinne - gerade aus den Erfahrungen seiner Herrenhuter Glaubensdressur - an gar nichts geglaubt hat (wohl aber in ganz anderem Sinne an die Realität der Außenwelt und der Dinge an sich!). Und er hat das genügend oft betont, so daß man es ihm abnehmen kann. Auch die neueren Philosophiehistoriker, wie besonders Merz und in Anschluß an ihn andere, haben seine Glaubenslehre als "zweiten Schwerpunkt" seiner Philosophie gewissermaßen auf die religiöse Schiene gesetzt und sie damit möglichst weit von seiner Wissenschaftstheorie entfernt. Das aber ist ein durchsichtiges Manöver gewesen, seine metaphysische Grundposition zu entschärfen und sich damit gar nicht weiter auseinanderzusetzen. Es wäre richtig und angemessen gewesen, alles, was man da über seine Glaubenslehre gesagt und behauptet hat, nur und ausschließlich auf seine Ahndungslehre zu beziehen, denn sie ist die eigentliche metaphysische Grundlage für seine Religionstheorie und auch für seine Ästhetik.

Fries hat seine Glaubenslehre entwickelt und gebraucht, um auf metaphy-sischer Ebene seinen "quadrivialen" Realismus zu begründen, mithin als Lösungsvorschlag des von Kant apostrophierten "Skandals der Philosophie", daß es keinen Beweis der Realität der Außenwelt bzw. der Dinge an sich gäbe. Man kann es auch so ausdrücken: Fries hat damit die realistische Ontologie der modernen Naturwissenschaft begründet und damit auch deutlich gemacht, worauf sie sich tatsächlich gründet. Und er befand sich damit in bester Gesellschaft mit Hume und Thomas Reid, die genau dasselbe, aber nicht auf der metaphysischen Axiomenebene, zum Ausdruck brachten. Fries' Glaubenstheorie besagt ja schlicht und einfach, daß der Glaube eine apriorische und nicht weiter hinterfrag- und begründbare Grundeinstellung des Bewußtseins ist, die sich im "Selbstvertrauen der Vernunft" darin zeigt, daß sie hinter dem Gewußten noch etwas voraussetzt, was niemals gewußt werden kann, nämlich eben die Dinge an sich oder das Gesamt der äußeren Natur. Diese Einstellung "Glauben" zu nennen, war vielleicht ein Mißgriff, eben wegen der theologischen Konno-tationen, und um diese Konnotationen zu vermeiden, war es eben doch nicht genug, diesen Glauben noch von der Ahndung zu unterscheiden. Immerhin war die Bezeichnung ehrlich - und sie wurde ja auch von Hume und Reid her nahegelegt. Und wenn man die (natur-)wissenschaftstheoretische Szene heute unvoreingenommen betrachtet, wird man vielleicht auch zugeben, daß die Intensität des Glaubens an die Realität der Außenwelt bei gestandenen Naturwissenschaftlern den ehemaligen Glauben an die Realität von Geistern und Gespenstern bei weitem übertrifft. Die Alternative zu dieser Glaubensbe-gründung des Realismus wäre schlicht der Idealismus gewesen, der den "Skandal" gar nicht erst aufkommen läßt. Aber Kant hatte Berkeley, der eine passable idealistische Naturphilosophie und Mathematikbegründung vorgelegt hatte, zum "Träumer" erklärt, die deutschen Idealisten hatten in unverzeihlicher Weise in der Naturphilosophie dilettiert, der junge Mach hat seine Berkeleya-nischen Ansätze schnell wieder verleugnet, die sogenannte "Kopenhagener Deutung" der Quantentheorie geriet in den Geruch des Idealismus und gilt daher bei den meisten als überholt. Gestandene Analytiker wie Putnam aber erfinden immer wieder neue Varianten des "Realismus", wo sie doch längst wieder geheime Idealisten geworden sind.

 

Hätte man jemals damit ernst gemacht, daß Fries' Glaubenslehre die eigentliche metaphysische Begründung der realistischen Ontologie und damit der Naturwissenschaft sein sollte, so hätte man natürlich eingestehen müssen, daß die Naturwissenschaft sich überhaupt nur als eine zweite Theologie neben der (auf Ahndung beruhenden) wissenschaftlich begründen ließe. Das wäre zwar nichts Neues in der Philosophiegeschichte gewesen, denn Augustinus, Nikolaus von Kues, Galilei und Spinoza hatten das mit der Lehre vom "Buch der Natur" als zweiter Offenbarung Gottes, das in mathematischer Schrift geschrieben und deshalb durch eine eigene Hermeneutik zu erschließen sei, auch schon behauptet. Aber es hat weder den "richtigen" Theologen gefallen - wegen der Konkurrenz -, noch den Naturwissenschaftlern - wegen der Glaubwürdigkeit. Der Eifer, mit dem nachher von ihrer Seite die Metaphysik bekämpft und endgültig für "überwunden" erklärt wurde, läßt sich vermutlich überhaupt nur so erklären. Und sie ist wohl auch der Grund dafür gewesen, daß man Fries' Metaphysik bei seinen wissenschaftstheoretischen Leistungen gleichsam ausgeblendet hat.

Es gilt also, Fries nicht nur als "Philosoph der Naturforscher", sondern auch als Metaphysiker der Naturforscher ernst zu nehmen, der auch der Frage nach der Letztbegründung der Naturwissenschaft nicht ausgewichen ist. Er hat, wie mir scheint, für den kantischen "Skandal der Philosophie" eine konsequente Lösung vorgeschlagen, um die auch die moderne Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften nicht herumkommen kann, und mit der sie sich auseinandersetzen muß. Sie hat sich bisher mit der Herbartschen Interimslösung zufrieden gegeben, die darin bestand, die Realität der Außenwelt und damit des Gegenstandes der Naturwissenschaften als unlösbares Problem aufzufassen. Das war zwar gut für viele Forschungsprogramme und asymptotische Annähe-rungen, aber es kann wohl nicht die Lösung sein, wenn es überhaupt sinnvoll ist, derartige Probleme auf philosophische, und das heißt auch auf metaphysische Weise lösen zu wollen. Will man sich aber mit Fries' Lösungsvorschlag eines Glaubensapriori (und überhaupt mit dem Apriori) nicht befreunden, so bleibt nur die idealistische Lösung. Von der aber hat Fries gezeigt, daß sie es mit dem Wissen (und einem Wissensapriori) zu tun hat. Und auch dafür geben Fries' Ausführungen über das, was Wissen ist und wie es in den Geisteswissenschaften konsequent expliziert wird, genügend Anregungen. Falls es - angesichts der Krisis der "objektivistischen" Grundlegungen der Naturwissenschaft - zu einem idealistischen Paradigmawechsel kommen sollte, so hat voraussichtlich Fries' Wissenslehre noch eine große Zukunft.

Auch der Wegfall des Psychologismusargumentes gegen Fries' Philosophie muß Folgen für die Einschätzung seines Werkes haben, die eigentlich seit Nelson schon längst hätten durchschlagen müssen. Seine "Psychische Anthropologie" hätte dann wahrscheinlich als besonnenes Korrektiv gegen die nun wirklich psychologistischen Exzesse im Umgang mit dem "Unbewußten" von Schopenhauer über Eduard von Hartmann bis Freud gewirkt, indem sie - natürlich in der Nachfolge von Leibniz - das Unbewußte nicht als irrationale Gegenmacht des Rationalen, sondern gerade als dessen noch amorphe Bewußt-seinsmaterie thematisierte. Aber ganz abgesehen davon hätte Fries damit - neben Dilthey - zum zweiten Klassiker einer die Geisteswissenschaften begründenden Psychologie werden müssen. Dafür ist es aber noch nicht zu spät, und es kann auch noch jetzt dazu kommen.

Das dritte und letzte, auf das ich noch einzugehen habe, ist aber die geistes- und kulturwissenschaftliche Einschätzung des Friesschen Wirkens - nicht nur seines Werkes. Sie ist, wie ich schon vorher sagte, von der fachdisziplinären Philosophiegeschichte sträflich vernachlässigt worden. Von Merz, der noch am ehesten zu dieser Art von kultur- und ideengeschichtlicher Betrachtung neigte, war sie noch nicht zu erwarten, denn dazu standen ihm die historischen Quellen noch nicht zur Verfügung. Wir sind erst heute, nachdem diese Quellen fließen, dazu in der Lage. Gerald Hubmann hat in seiner Dissertation über "Ethische Überzeugungen und politisches Handeln. Jakob Friedrich Fries und die deutsche Tradition der Gesinnungsethik" ein schönes Beispiel dafür vorgelegt. Man kann hier sehen, daß Fries ja keineswegs nur durch seine Schriften oder seine offiziellen Universitätsvorlesungen gewirkt hat, sondern ebenso und in mancher Hinsicht viel nachhaltiger durch seine Haltung und den persönlichen Umgang mit den Studenten. Anders als Wilhelm von Humboldt, der sie auf "Einsamkeit und Freiheit" verpflichten wollte, hat sich Fries um sie gekümmert. Und er hat damit der ersten deutschen Jugendbewegung, d. h. damals den studentischen Burschenschaften, einen Weg gewiesen, der zwar in einer "verspäteten Nation" zum Nationalismus führte, zu dem es aber m.E. damals bei Lage des zersplitterten Landes inmitten hochgerüsteter und schon längst nationalistischer Großmächte keine Alternative gab. Und er hat dabei, wie man ja auch feststellen muß, trotz seiner antijüdischen Ausfälle versittlichend auf diese Generation gewirkt. Ich möchte vermuten, daß es unter anderem auch dieser Wirkung von Fries zuzuschreiben ist, daß deutsche Revolutionen seither "unblutig" verlaufen sind.

 

Alles in allem genommen, hat uns die Philosophiegeschichte von Fries ein Bild gezeichnet, das ihn als Klassiker unter unseren philosophischen Klassikern ausweist. Einige Züge an diesem Bild waren und sind noch verzerrt, einige auch noch undeutlich. Und da gilt es denn genauer hinzusehen. Klassiker aber bieten Gedankenpotenziale, die nicht nur zu immer genauerer historischer Forschung einladen, sondern die jederzeit auch übersichtliche und konsolidierte heuristische Ideen für systematische Wissenschaft zur Bewältigung unserer Gegenwartsfragen bereithalten. Wer das übersieht, wie es heute in einer gewissen modischen Kritik an der Philosophiegeschichte geschieht, der mag sich ja bei jedem Gedanken, der ihm durch den Kopf schießt, für sehr originell halten. Aber die, die so immer selbst denken, besitzen oft zu wenig Erinnerung, alles, was sie vorzeigen, an dasjenige, was sonst schon gesagt worden, anzuknüpfen, wo es doch vorher jeder, der einigermaßen philosophie-geschichtlich gebildet ist, schon sehen konnte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wissenschaftliche Kurzbiographie: Lutz Geldsetzer.

 

Jahrgang 1937. Studium der Philosophie, Soziologie, Jurisprudenz und Sprachen an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1956-1961. Dr. phil. Mainz 1961. Postdoktorales Studium an der Sorbonne, Paris 1961-1962. Wiss. Assistent am Philosophischen Institut der (damaligen) Medizinischen Akademie Düsseldorf. Habilitation für Philosophie an der Universität Düsseldorf 1967. Apl. Prof. und Leiter der Forschungsabteilung für Wissenschaftstheorie ebda 1969. C-4 Prof. für Philosophie ebda seit 1980. Gastprofessor an den Universitäten Nantes (Frankreich), Emory, Atlanta GA (USA), Padua (Italien), Jinnan, Shandong (VR. China).

Hauptarbeitsgebiete: Philosophiegeschichte der Neuzeit, Geschichte und Theorie der Philosophiegeschichtsschreibung, Logik, Hermeneutik und allgemeine Wissenschaftstheorie, Chinesische Philosophie.