Über zetetischen und dogmatischen Umgang mit Philosophiegeschichte

 

Beitrag zur Internationalen Konferenz „The Philosophy of the History of Philosophy“,

des Instituts für Philosophie und Religionsstudien der Süddänischen Universität,

Odense, Dänemark, 28.-29 November 2002

 

von

 

Lutz Geldsetzer

 

 

 

Die Philosophie an unseren Universitäten folgt heute einer allgemeinen Tendenz der Wissenschaften zur Spezialisierung. Man sieht das leicht an den Ausschreibungen der Lehrpositionen. Es werden kaum noch Philosophen gesucht und angestellt, die das Fach „Philosophie“ in aller Breite vertreten, sondern Wissenschafts­theoretiker, Ethiker, Rechts-, Religions- und Kunstphilosophen und manche andere disziplinäre Spezialisten, und daneben auch Philosophiehistoriker, meistens spezialisiert für antike, mittelalterliche oder neuzeitliche und moderne Philosophie. Nicht nur der Philosoph oder die Philosophin scheint ausgestorben zu sein, sondern auch der nur systematische Philosoph und der reine Philosophiehistoriker erscheinen heute schon wie Fossile einer vergangenen universalen Gelehrsamkeit.

       In Deutschland steckt wohl trotz aller Klagen, die humboldtsche Universität sei tot, ein falsch verstan­dener Humboldtianismus dahinter. Nur wer forscht soll auch lehren, und er soll unmittelbar nur dasjenige in Lehre umsetzen, was er durch eigene Forschung erworben hat. Unter diesen Anforderungen werden die Lehr­- und Forschungsgebiete immer enger umschrieben. Um aber die Fraktionierung zu kompensieren, wird die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Spezialisten als neue Tugend empfohlen. Die Seminare bestehen daher immer mehr in Diskussionsveranstaltungen über die neuesten Beiträge zum Forschungsthema des Veranstalters, seien es systematische oder historische, wobei man als Lehrtexte immer mehr Anthologien und „Readers“ dieser Beiträge benutzt. Die sogenannte große Vorlesung über eine ganze Disziplin oder eine ganze historische Epoche, bei der man als Lehrender gewöhnlich weit über sein engstes Forschungsgebiet hinaus­greifen mußte (und gewöhnlich auch eine enorme Vorarbeit investieren muß) wird daher kaum noch angetroffen.

Diese veränderte Lage in den Wissenschaften hat ersichtlich schwerwiegende Folgen auch für das hier interessierende Thema des Verhältnisses von systematischer Philosophie und Philosophiegeschichte. Die Systematiker verlieren mehr und mehr den Sinn und das Gespür dafür oder auch das Wissen um den Einfluß, den die Geschichte der Philosophie auf ihre aktuellen Fragestellungen und Forschungsthemen hat. Etwas überspitzt kann man wohl sagen: Mancherorts wird zum wiederholten Male Amerika neu entdeckt oder das Rad neu erfunden, weil man bei systematischen Fragen die historischen Vorarbeiten nicht mehr kennt. Und zugleich eröffnet sich ein weites Feld für eine gewisse Sorte von Betrügern, die mit alten Hüten, die sie ein wenig umgekrempelt haben, als originelle Entdecker und Bahnbrecher bei ihren Kollegen Eindruck machen, weil diese auch nicht mehr erkennen, woher die Hüte stammen.

        Auch den Philosophiehistorikern geht in gleichem Maße immer mehr das Gespür dafür ab, in welchem Maße sie bei ihren Studien von den aktuellen Themen, Interessen und Vorurteilen der systematischen Gebiete abhängig sind. Ich muß hier freilich einige angelsächsische Philosophiehistoriker ausnehmen. Sie sind sich dieser Abhängigkeit geradezu im Übermaß bewußt. Deshalb inszenieren sie Philosophiegeschichte gerne als einen Dialog zwischen den „Dolphins“ (dead old philosophers, man sagt manchmal sogar: dead old white male Philosophers) und den Koryphäen der aktuellen Wissenschaft unter der Devise: Was hätte Platon, Aristoteles, Thomas, Descartes, Kant, Hume usw. zu dem Problem XY gesagt, das von Popper, Quine, Putnam oder Derrida aufgeworfen wurde? Woraus man dann lernen soll, was deren Philosophie eigentlich war und warum sie Klassiker geworden sind.[1] Das folgt übrigens selbst einem historischen Muster der „Totengespräche“, das im 18. Jahrhundert schon einmal blühte.

Diese Verhältnisse lassen sich nun leicht auf Prinzipien und gleichsam auf den Begriff bringen und dadurch besser durchschauen. Denn sie sind für die Theorie und Methodologie der Philosophiegeschichte schon im 19. und dann im 20. Jahrhundert vielbehandelte Themen gewesen.

        Aus der theoretischen Selbstreflexion der Philosophiehistoriker und aus ihrer Praxis lassen sich m. E. drei grundsätzliche Einstellungen zum Gegenstand „Philosophiegeschichte“ entnehmen, die ich schon an anderem Orte vorgestellt habe, und die auch für die heutige Lage noch Orientierungshilfe bieten können.[2]

 

1. Die erste ist diejenige, die man fast für die einzig mögliche hält, und die daher noch immer am weitesten verbreitet ist. Sie hat sich im Gefolge des neuzeitlichen  Verhältnisses zum Mittelalter und zur Antike als modernes Fortschrittsbewußtsein ausgebildet. Man geht hierbei davon aus, daß auch die Philosophie am Fortschritt der Moderne gegenüber aller früheren Philosophie teilgenommen und sich dabei in Hinsicht auf ihr Begriffsarsenal, die Theorien, die Ausarbeitung und Systematisierung der philosophischen Weltsichten zu Weltanschauungssystemen, die man seither selber „Philosophien“ (im Plural) nennt, ständig verbessert und bereichert habe. Da die einzelnen philosophischen Systeme natürlich auch Wahrheitsansprüche erheben, so verbreitet sich mit dem Fortschrittsdenken auch die Meinung, in den neuesten Systemen sei die Wahrheit am besten und klarsten artikuliert. Was man vordem nur als wahr geahnt und undeutlich ausgesprochen hätte, das wäre nun in den letzten Systemen übernommen und noch weiter herausgeklärt worden. Und von daher ließen sich auch die Irrtümer und Falschheiten früherer Philosophien beurteilen und gegebenenfalls für alle Zeiten in den Orkus des Vergessens verbannen.

Diese Einstellung wurde am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts von Kant und den kantianischen Philosophie­historikern sehr klar formuliert. Sie waren alle davon überzeugt, daß die kantische Transzen­dentalphilosophie (bzw. der sog. Kritizismus) eine gelungene Synthese aller wahren Einsichten sei, die bis dahin erarbeitet worden waren. Kant selbst sah seine Hauptleistung darin, die Einseitigkeiten aller „Dogmatismen“ und „Skeptizismen“ in seinem „Kritizismus“ überwunden und zugleich versöhnt zu haben.[3] Einige Theoretiker nannten Kants  Philosophie und die darauf begründete Philosophiegeschichte sogar eine „Philosophie ohne Beinamen“, weil sie nichts Spezifisches als besondere Richtung mehr enthielte und das wahre Erbe aller philosophischen Richtungen und Schulen in sich vereine.[4]

Das hatte zur Folge, daß die kantianischen Philosophiehistoriker, wie W. G. Tennemann, J. G. Buhle, J. F. Fries[5], ja auch z. T. noch Ed. Zeller und W. Windelband, die ganze Philosophiegeschichte als Vorgeschichte der kantischen Philosophie sahen, in der sie nur dasjenige besonders beachteten und beurteilten, was als „Vorlage“ und „Vorläufer“ kantischer Einsichten gelten konnte. Was nicht zur kantischen Philosophie paßte, das ließ man entweder ganz weg oder ordnete es als Nicht-Philosophie der allgemeinen Kulturgeschichte zu. So versteht sich auch, daß besonders die ganze scholastische Philosophie nur noch als autoritätsgebundene Theologie galt, mit der man sich nach der Aufklärung nicht mehr intensiv oder auch gar nicht mehr zu befassen hatte.

Die kantische Philosophie erfreut sich, wie bekannt ist, bis heute eines besonderen Ansehens bei vielen Einzelwissenschaftlern. Und das beruht sicher wesentlich darauf, daß Kant seine „Kritiken“ und viele andere Schriften explizit als „wissenschaftstheoretische Begründung“ der Einzelwissenschaften konzipiert hatte. Es kann daher auch nicht verwundern, daß in seinem Gefolge auch die sich im 19. Jahrhundert stark entwickelnde Geschichtsschreibung der Einzelwissenschaften, insbesondere der Mathematik und Naturwissenschaften, dem gleichen Deutungsschema des Fortschrittsdenkens folgte.[6] Man setzte voraus, und tut es fast überall bis heute, daß der neueste Stand der Wissenschaft die Verständnisgrundlage für die jeweilige Disziplingeschichte sei, in der es nur Vorgänger herauszuheben und überholte Irrtümer zu kritisieren gäbe.[7]

 

2. Die Alternative zu dieser Einstellung beruht auf einer geschichtsphilosophischen Dekadenzauffassung. Sie ist im frühen 19. Jahrhundert eng mit dem romantischen Geist, der Liebe zum Mittelalter und zur „Vorzeit“ mit ihren Mythen, Dichtungen und Religionen verknüpft. Wie die Romantik selbst steht diese Tendenz auch im Einklang mit der Theologie, die ihre Offenbarungs-Wahrheiten in der Heiligen Schrift, der Bibel vorgegeben sieht; und ebenso mit der historischen Schule der Jurisprudenz, die den „Geist der Gesetze“ in den römischen und germanischen Rechtsquellen als verbindlich voraussetzt. Beide, Theologie und Jurisprudenz geben das Vorbild für eine forschende Einstellung in den Geisteswissenschaften, die die Gründerurkunden der Kulturen in den frühesten Quellen der heiligen Schriften und der großen Gesetzgebungen sieht. Für beide gelten die hermeneutischen Maximen:  Die Botschaft, das Kerygma der Heiligen Schrift ist „höher als alle Vernunft“, und der „Geist des Gesetzes“, die ratio legis, ist klüger als der Gesetzgeber.

        Für diese Einstellung liegt das „goldene Zeitalter“ also im Anfang der Kulturen, d.h. in den Werken und Leistungen der Gründerväter, den großen Texten der Gesetzgebung und der religiösen Offenbarungen. Der Geschichtsgang ist darum auch Dekadenz und Abfall. Er zeigt nur die mühsame Arbeit der Generationen, die Höhe und Dignität der Erbschaft in der Überlieferung und aneignenden Auslegung lebendig und wirksam zu halten.

        In der Philosophiegeschichte und für sie ist diese Einstellung vor allem durch F. W. J. Schelling und neben ihm durch Friedrich Schlegel initiiert und verbreitet worden, die ja als Hauptvertreter der Romantik gelten.[8] Das angeblich „finstere Mittelalter“ mit seiner Scholastik wird für sie ebenso interessant und grundlegend für die ganze Neuzeit, wie die Mythen, Dichtungen und heiligen Schriften der „Vorzeit“ für die Entstehung der abendländischen und der orientalischen Kultur und Wissenschaft. Es handelt sich um einen Perspektivenwechsel und gewissermaßen eine „Umwertung der Bewertung“ des Gesamtgangs der Geschichte bis zur Gegenwart. Während für die Fortschrittdenker alles Frühere vom Späteren her als Vorstufe der Entwicklung gedeutet und bewertet und so verstanden werden soll, wird nun alles Frühere zum Ursprung und Grund des Späteren, und das Spätere muß vom Früheren her erklärt und verstanden werden.

        Man sollte nicht verkennen, daß auch die Blüte der humanistischen Studien und insgesamt der „klassischen Altertumswissenschaft“ im 19. Jahrhundert sich diesem Bewußtsein mitverdankt. Die Querelle des Anciens et des Modernes, die im 17. und 18. Jahrhundert nicht nur in der Literatur, sondern auch in den Einzelwissenschaften ausgetragen wurde, hatte in der Aufklärung mit einem Sieg der Modernen über die „Anciens“ geendet. Aber im 19. Jahrhundert erfolgte mit dem an der griechischen Antike orientierten Neuhumanismus der Gegenstoß der „modernen Alten“, für die das „humanistische“ Menschenbild der griechi­schen Antike durch die „Humaniora“ genannten Studien zum großen und noch immer unerreichten Vorbild wahren Menschseins und allseitiger Persönlichkeit wurde.

        Zweifellos gab die klassische Philologie mit ihrer Hermeneutik die methodischen Rahmungen ab, in denen auch das Interesse der Philosophiegeschichtsschreibung an der antiken Philosophie sich artikulierte. Sie gab die gelehrte Grundlage für die berühmte deutsche Übersetzung Platons durch Schleiermacher. Und Schleiermacher selber regte wiederum eine eigene Schule von Philosophiehistorikern  der antiken Philosophie an, unter denen etwa August Heinrich Ritter hervorragt. Friedrich Nietzsches, des „gelernten Altphilologen“ vorgebliche Entdeckung der „dionysischen“ Lebenseinstellung hinter der Fassade der „apollinischen“ Formen und Ordnungen der Griechen hat bis heute nichts von ihrer Faszination und Welterklärungspotenz verloren. Wie anders sollte man sich sonst den weltweiten Erfolg der Psychoanalyse mit ihren der griechischen Mythologie entnommenen Deutungskategorien des individuellen und kollektiven Seelenlebens erklären. Zwischen Schelling und Nietzsche aber gab es eine beachtliche Schule von schellingianischen Philosophiehistorikern, unter ihnen C. J. M. Windischmann und Ed. Röth, die die Ursprungsepochen der Kultur und auch der orientalischen, zu ihrem Forschungsgegenstand erklärten und sogar die antike griechisch-römische Philosophie von daher zu erklären und zu verstehen suchten.[9]

        Daß diese Dekadenzperspektive sich nicht nur gehalten hat, sondern im 20. Jahrhundert wieder verstärkt eingenommen wurde, sieht man in der geschichtsphilosophischen Spekulation bei Oskar Spengler, philosophie­geschichtstheoretisch wirksam und folgenreich am Werk Martin Heideggers[10]. Für Heidegger gibt es von Platon bis zu seiner Gegenwart nur eine Verfallsgeschichte des philosophischen Denkens, was er die Geschichte der Metaphysik nennt. Das Wahre und Maßgebende aber findet er bei den Vorsokratikern, und er vermutete es auch bei Laozi im alten China. Und dies sicher nicht ohne Anregung durch Karl Jaspers, der das Schlagwort von der „Achsenzeit“ im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus, der Zeit des Sokrates, Buddhas, Kongzis und Laozis aufgebracht hatte.[11] Durch Hans-Georg Gadamer und sein außerordentlich erfolgreiches Buch „Wahrheit und Methode“ von 1960 ist die heideggersche Position verallgemeinert und geradezu zu einer Mehrheitsposition in der Methodologie der Geisteswissenschaften geworden. Gadamer hat in der Philosophie dadurch die „Klassiker“ rehabilitiert und die Beschäftigung mit ihnen fast zur Hauptaufgabe der Philosophie gemacht. Sie sind für ihn nicht anders als durch ihre „Wirkungsgeschichte“ verständlich.

3. Zwischen diesen extremen Standpunkten formulierte Hegel den erfolgreichsten Vermittlungsstandpunkt. Und es trägt nicht wenig zum Verständnis der Hegelschule und ihrer Sichten bei, wenn man ihre Philosophie­geschichtsschreibung als eine Synthese beider Tendenzen erkennt.[12]

        Mit den Kantianern setzten Hegel und seine beiden Schulen voraus, daß die Entwicklung der Philoso­phie zu einem Ende gekommen sei, allerdings nicht mit Kant, sondern mit dem System Hegels selber. Das sog. Hegelsche System sei also nicht mehr zu verbessern, sondern allenfalls im Detail genauer auszuarbeiten. Es enthalte demnach auch alle bisherigen wahren Erkenntnisse und Einsichten, in deren Lichte sich alle wesentlichen Leistungen der Philosophiegeschichte als Vorläufer und Vorstufen verstehen ließen. Hegel hat diese Voraussetzung in einem hübschen Gedankenexperiment verdeutlicht. Er meinte, wenn man alle Besonderheiten, wie u.a. Jahreszahlen und Eigennamen, aus der Philosophiegeschichte weglasse, so bliebe nur ein System der Philosophie übrig, und natürlich meinte er dabei sein eigenes[13]. Allgemein bekannt ist darüber hinaus sein ständiger Vergleich der philosophiegeschichtlichen Entwicklung mit dem organischen Wachstum einer Pflanze. Was man am Samen und dem Keim nur angedeutet und noch unfertig angelegt sieht, das wächst mit der Zeit zu immer deutlicher sichtbaren Gestalten und Organen aus, um am Ende die vollendete Gestalt anzunehmen und Früchte zu tragen.[14] Es ist oft bemerkt und unterstrichen worden, daß damit der geschichtliche Fortschrittsbegriff schon bei Hegel und lange vor Darwin  und Lamarck eine organisch-evolutionistische Grundlage erhielt.

        Nun sind aber Hegels evolutionistische Vorstellungen zugleich auch das Bindeglied, das seine Philosophiegeschichtstheorie mit derjenigen seines Tübinger Studienfreundes und Jenaer Kollegen Schelling verband. Denn es war ja Schelling, der den Gedanken einer „organischen Entwicklung“ nicht nur aller einzelnen Dinge, sondern des gesamten Kosmos, den er bekanntlich als einen einzigen großen Organismus ansah, im deutschen Idealismus eingebracht und propagiert hatte. Hegel knüpfte daran an, indem er die ganze Philoso­phiegeschichte gelegentlich ein „System in der Entwicklung“ nannte. Er vertiefte den Entwicklungs­gedanken aber auch dadurch, daß er davon sprach, daß alle späteren Entwicklungsstufen nur und nichts anderes als das „Resultat“ aller vorangegangenen Stufen und Zustände seien, in dem nach dem zeitlichen Untergang und Absterben des Vorigen das Substanzielle und eigentlich Philosophische „aufgehoben“ bzw. konserviert und vergegenwärtigt sei.[15] Resultat aber, so betonte Hegel unter Berufung auf die lateinische Wortbedeutung, sei ein „Zurückspringen“ auf das Vorausgegangene und auf den Ursprung, aus dem her das Neuere und Gegenwärtige verstanden werden müsse. Und das zeigt er denn auch in seinen philosophiegeschichtlichen Vorlesungen am Beispiel der Seinsphilosophie des Parmenides, der Nichtsphilosophie der Sophisten und des Gorgias, und der „dialektischen“ Vermittlungsphilosophie des Werdens des Heraklit, die die Prinzipien erfanden, die auch noch am Anfang seines eigenen Werkes, der „Phänomenologie des Geistes“ „resultieren“.

        In der „rechten“ althegelianischen Schule der Philosophiehistoriker, zu der K. Rosenkranz, K. Fischer, J. Ed. Erdmann und viele andere gehören, hat man bekanntlich den Motor des Entwicklungsfortschritts der historischen Systeme im Dreitakt von These, Antithese und Synthese etwas überstrapaziert, aber das gehörte eben zur Ausarbeitung im Detail der hegelschen Philosophie, bei der die Philosophiegeschichte ein integraler Bestandteil sein sollte. Aber auch die „linken“ Junghegelianer, die unter Führung von Feuerbach, Marx und Engels von der nicht mehr überholbaren, wenn auch vom idealistischen Kopf auf die materialistischen Beine zu stellenden Weltinterpretation Hegels zur revolutionären Praxis der Weltveränderung übergehen wollten, schrieben ihre Philosophiegeschichten nach demselben Schema des Antagonismus und der dialektischen Vermittlung zwischen den materialistischen und idealistischen Bewußtseinspositionen von Demokrit und Epikur bis zum natur­wissenschaftlichen Materialismus der Aufklärung und zur „deutschen Ideologie“. Sie und auch ihre Nachfolger von Lenin bis Mao Zi-dong und Feng Yu-lan im kommunistischen China, Adorno und Habermas in Deutschland, zur Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte der italienischen Gruppe um Ludovico Geymonat[16] und zu den neuen Linken Frankreichs blieben stets der hegelschen Maxime treu, daß man den gegenwärtigen Bewußt­seinsstand der progressiv-revolutionären und der konservativen-bürgerlichen Ideologien nur als Resultat aller voraufgegangenen Klassenbewußtseinsantagonismen und ihrer intermittierenden Vermitt­lungen verstehen könne.

        Als Kontrast zu dieser hegelschen und hegelianischen Synthese möchte ich aber noch auf die besondere Amalgamierung von Fortschritts- und Dekadenzbetrachtung der Philosophiegeschichte in der neuscholastischen Historiographie hinweisen, für die etwa das monumentale Werk von Frederick Copleston[17] steht. Seit Thomas von Aquin 1871 durch Papst Leo XIII zum Kirchenphilosoph erhoben wurde, ist es für lizensierte katholische Philosophie­historiker obligatorisch, die Philosophiegeschichte von den Vorsokratikern bis Thomas als Vor- und Fortschritts­geschichte auf die wahre Philosophie des Thomas hin nach kantischer Manier darzustellen, von Thomas an bis auf die Gegenwart aber als Verfalls- und Irrtumsgeschichte. Der sog. Antimodernistenstreit im späten 19. Jahrhundert hat das recht klar erkennen lassen. Heute muß man nur etwas genauer hinschauen, um diese Hintergrundeinstellung auch bei neueren katholischen Philosophiegeschichten wiederzuerkennen.

 

Ich will gerne einräumen, daß es Philosophiehistoriker, und zwar nicht wenige, gibt, die von sich selbst meinen, einer Zuordnung zu einer dieser drei Gruppen entgehen zu können. Sie behaupten, daß sie ganz vorurteilslos bzw. „positivistisch“ an das geschichtliche Material herangingen, um – wie das Schlagwort Rankes es ausdrückte – nur zu zeigen, wie es eigentlich gewesen sei. Sie wollen dann allenfalls „immanent“ aus dem unmittelbaren Kontext Deutungen entstehen lassen oder gar dem Leser überlassen, sich aus den vorgelegten Dokumenten selbst ihr Bild von der Geschichte zu bilden. Der moderne Theoretiker dieser Haltung war Schopenhauer, der es für eine Zumutung der Philosophiehistoriker hielt, dem selbstdenkenden Philosophen die Philosophiegeschichte „vorkauen“ zu wollen. Deswegen hielt er die Arbeit der Philosophiehistoriker mit der Sammlung und Aufbereitung von Dokumenten in „Chrestomathien“ für beendet.[18] Dieses schopenhauersche Votum hat seine Spuren bei Heinrich Ritter und L. Preller[19], bei Friedrich Ueberweg[20] und in den „Historischen Wörterbüchern der Philosophie“ wie dem von Richard Eisler und seiner Neubearbeitung  unter J. Ritter und dann Karl-Fried Gründer[21] hinterlassen, deren Stärke und Nutzen bekanntlich darin liegen, daß sie hauptsächlich originale Quellenzitate anbieten.

        Diese Meinung halte ich aber für etwas naiv. Schon die Auswahl des relevanten Materials geschieht am Leitfaden eines Vorverständnisses davon, was überhaupt Philosophie sei und was nicht dazugehört. Und diese hier möglichen Vorverständnisse sind den genannten Positionen zuzuordnen. Die wissenschaftstheoretische Kritik am Positivismus hat darüber hinaus genugsam geklärt, daß es „pure Fakten und Daten“ generell nicht gibt, sondern daß sie immer schon im Lichte theoretischer Vorannahmen, d.h. von Interpretationssystemen umfas­sen­derer Kontexte konstruiert werden. Daß dies auch für die philosophiegeschichtlichen Fakten und Daten gilt, zeigt sich spätestens bei der Übersetzung griechischer und lateinischer philosophischer Termini oder auch früherer philosophischer Ausdrucksweisen in die modernen Sprachen, die regelmäßig sofort die Schulzu­gehörigkeit des Übersetzers verraten. Und nicht zuletzt muß auch ein noch so überzeugter Positivist  bei einer noch so kurzen Darstellung dessen, was er für den Grundgedanken oder die maßgeblichen Prinzipien eines von ihm aufgenom­menen Philosophen hält, Farbe bekennen, durch die er im Spiel der philosophischen Bewertungen einer der Einstellungen zugeordnet werden kann.

 

Jede dieser Einstellungen wendet bei ihrem Verständnis der Philosophiegeschichte die hermeneutische Metho­dologie auf ihre besondere Weise an. Daher ist es wichtig, sich über diese Methodologie intensiver Rechenschaft zu geben, als es bisher im allgemeinen der Fall ist. Die Lage ist die, daß man zunächst einmal davon ausgeht, es gäbe nur eine einzige hermeneutische Methodologie. Das bemerkt man schon daran, daß die gegenwärtige intensive Hermeneutikdiskussion immer wieder „die Hermeneutik der Geisteswissenschaften“ der „mathemati­schen Methode der exakten Naturwissenschaften“ gegenüberstellt und dabei unterstellt, beides seien einheitliche Gebilde, die allenfalls in ihren Anwendungen auf einzelne Wissenschaften spezifiziert würden.

        Diese Voraussetzung ist schon deswegen falsch, weil einerseits auch in den Geisteswissenschaften die mathematische Methodologie eine bedeutende Rolle spielt, andererseits auch die Anwendungen der Mathematik in den Naturwissenschaften hermeneutischen Kanons unterliegt. Im ersteren Falle sei nur daran erinnert, welch grundlegende Rolle eine Mathematik der negativen und positiven Zahlen, aber ohne die Null, beim chrono­logischen Ordnungssystem der gesamten Geschichte gespielt hat und weiterhin spielt. Ganze Zweige der Geschichtskonstruktionen, besonders auf ökonomistischer Basis wie in der marxistischen Basisgeschichte und in der französischen Schule der „Annales“, haben die mathematische Statistik geradezu zu ihrer Hauptmetho­dologie gemacht. Im Falle der Naturwissenschaften braucht man nur an die Rolle der „Interpretation“ von statistischen Datenerhebungen, von Formeln oder Gleichungen und nicht zuletzt axiomatischen Grundbegriffen in diesen zu erinnern, deren genauere hermeneutische Prozeduren noch keineswegs angemessen untersucht worden sind.

        Nun bin ich schon vor mehr als fünfunddreißig Jahren anhand des Studiums der Geschichte der Hermeneutik darauf gestoßen, daß es neben den „dogmatischen Hermeneutiken“ der Theologie und der Juris­prudenz (aber auch der Medizin in der Lehre von der Diagnostik als Krankheitszeichendeutung), und das heißt der sog. höheren Fakultäten, schon lange vor Schleiermacher seit der Renaissance wiederholte Ansätze zur Ausbildung einer „universalen“ Hermeneutik gegeben hat.[22] Man hat bis heute nicht bemerkt, daß es sich bei dieser sog. universalen Hermeneutik, die man heute schlechthin Hermeneutik nennt, zu einem großen Teil ebenfalls um eine dog­matische Hermeneutik der niederen „philosophischen Fakultät“ handelte, in deren „trivialem“ Teil die philolo­gische Dogmatik der Übersetzung und des „geschichtlichen Verstehens“ noch ihre hermeneutische Methodo­logie suchte. Wir sagten oben schon, daß der „quadriviale Teil“ der mathematischen Naturwissen­schaften seine Hermeneutik bis heute nicht gefunden geschweige denn ausgearbeitet hat.

        Auf diesen dogmatischen Anteil der philologisch-historischen Hermeneutik, die sich „universale Hermeneu­tik“ nannte, hat man seither nicht genug geachtet. Und das kommt wohl daher, daß alles Dogmatische in den Geisteswissenschaften im schlechtem Ruf der Voreingenommenheit, ja der Denkverbote steht.[23] Es kommt also sehr darauf an, hier genauere Unterscheidungen der Zielstellung und der Leistungs­fähigkeit der Hermeneutik herauszuarbeiten. Darum habe ich mich seither ständig bemüht, indem ich die „dogmatische“ Hermeneutik genauer von einer forschenden Hermeneutik unterscheide, die ich „zetetisch“ genannt habe. Worum es dabei geht, läßt sich in einigen Punkten einander gegenüberstellen[24].

 

Die dogmatische Hermeneutik weist folgende Charakteristika auf.

1. Sie ist streng und strikt fachgebunden (disziplinär), d.h. sie hat immer von den in den verschiedenen relevanten Theorien vorgegebenen Vorverständnissen des jeweiligen Faches auszugehen, die im Fache als letzter Stand des Wissens gelten. Diese theoretischen, oftmals antagonistischen Vorverständnisse erschließen kanoni­sche Spielräume für die Interpretationen. Der Fachmann muss sie kennen und unterscheidet sie in der Regel sehr genau von allen ‚Allotria’ dilettantischer, unfachlicher oder fachfremder Interpretationsgesichtspunkte.

2. Vor allem macht die dogmatische Hermeneutik keine Wahrheitsansprüche und kennt daher auch keine Wahrheitskriterien. Wenn gleichwohl in jeder Dogmatik mehr oder weniger emphatisch die „Wahrheit“ z.B. der Heiligen Schrift, des Gesetzes, eines Kunstwerkes oder eines Lehrgehaltes beschworen wird, so kann damit nur die jeweilige Kulturbedeutung des Artefakts gemeint sein.

3. Die dogmatische Hermeneutik richtet sich daher ausschließlich nach Kriterien der Qualität und Effizienz. Eine dogmatische Interpretation kann gut oder schlecht, fachgerecht oder dilettantisch, elegant oder überzwerch, scharfsinnig oder dumm, im Grenzfall noch zulässig oder abwegig genannt werden, nicht aber wahr oder falsch.

4. Das Effizienzerfordernis besagt, dass eine dogmatische Interpretation immer gelingen muss (Non-liquet-Verbot) und somit ein Ergebnis zu zeitigen hat, das den Bezugstext als „sinnvoll und einschlägig“ für die erwünschten Antworten erscheinen läßt.

5. Dabei setzt man bei dogmatischen Texten immer eine „überschießende Sinnfülle“ voraus, die grundsätzlich nicht auszuschöpfen ist: Die Heilige Schrift ist ‚höher als alle Vernunft’, das Gesetz ist ‚klüger als der Gesetzgeber’, der Klassiker ‚hat uns immer noch etwas zu sagen’, Musiknoten und Drehbücher können zu immer neuen Aufführungen dienen, und auch das gute Lexikon oder Lehrbuch bietet mehr, als man ad hoc gerade verwenden kann.

Für die Durchführung von Einzelinterpretationen haben die Jurisprudenz und Theologie spezifische Regeln – hermeneutische Kanons – entwickelt. Sie sind darauf ausgerichtet, die jeweiligen dogmatischen Texte als Bezugstexte auszuzeichnen und von anderen Textsorten abzugrenzen und zugleich die Fachgebundenheit, Qualität und Effizienz sowie notwendiges Gelingen der Auslegungen zu gewährleisten.

In der Theologie sind paradigmatisch dafür die Kanons vom zwei- oder mehrfachen Schriftsinn. Der buchstäbliche (Literal-)Sinn oder vordergründige Sinn wird vom eigentlichen (kerygmatischen) Sinn oder Hinter-Sinn (sensus mysticus) unterschieden. Letzterer kann seinerseits wieder in mehrere Sinnrichtungen verfolgt werden nach der bekannten Regel: Littera gesta docet, quid credas allegoria; moralis quid agas, quo tendas anagogia (‚Der buchstäbliche Sinn lehrt die Fakten, die Allegorie den Glaubensinhalt, der moralische Sinn das, was zu tun ist, der ‚erbauliche’, wonach zu streben ist“).

Der Jurist hat für Gesetzesinterpretationen mehrere in Alternativen verknüpfte Auslegungskanons zur Verfügung. Der Gesetzestext ist entweder eindeutig gemäß ‚planem’ Wortverständnis oder er läßt mehrere Deutungen zu. Ist er mehrdeutig, so wird er nach vorgängigem Beispiel höherer Instanzen (Präjudiz) interpretiert (das ist am sichersten). Die Präjudizien sind selbst Interpretationen, die aus dem Kontext der behandelten Materie (ratio legis) oder auch gemäß der historischen Intention des Gesetzgebers („Wille des Gesetzgebers“) gewonnen wurden. Verschränkt damit kann ein einzelner Gesetzesterminus gegebenenfalls im üblichen Wortsinn oder restriktiv (eingeschränkter Begriffsumfang) oder erweitert (ausgeweiteter Anwendungsbereich des Begriffs, im Strafrecht unzulässig!) interpretiert werden. Vielerlei Denkfiguren für die Verknüpfung von Rechtsbegriffen zu Auslegungstopiken lassen sich aus der Analogie zu Denkfiguren in jeweils anderen Rechtsbereichen gewinnen. Hierin bewährt sich am meisten juristischer Takt und Gespür für das, was unter besonderen Umständen als Argumentation für eine Interpretation überzeugen kann.[25]

Die klassische und die modernen Philologien haben seit jeher – aber nicht als „dogmatisch“ erkannte –Interpretationskanons zur Verfügung, die sie bei der Textinterpretation und auch beim Übersetzen, was ja immer eine Interpretation mitenthält, zugrunde legen. Das sind in erster Linie die großen autoritativen Wörterbucher und Grammatiken für eine oder mehrere Sprachen. Man kann sich zum Verstehen und Übersetzen hier immer die eine oder andere Bedeutung oder Bedeutungsnuance eines Wortes aussuchen, aber es ist unfachlich, eine gar nicht in den Wörterbüchern vorkommende Bedeutung zu unterstellen. Auch bei der grammatischen Konstruktion von Satzsinn wird man meist mehrere Möglichkeiten je nach den gewählten Wortbedeutungen zur Verfügung haben, aber sicher keine ungrammatische Sinnkonstruktion wählen.

Als wesentlich wird bei der dogmatischen Hermeneutik gewöhnlich der „applikative Aspekt“ herausgestellt – die Anwendungsbezogenheit. Sie besteht darin, dass eine dogmatische Auslegung nur ad hoc, d.h. zur Beantwortung bestimmter Fragen und zur Lösung von bestimmten Problemen (Glaubensfragen, Rechtsfällen, Übersetzungsaufgabe) eingesetzt wird. Durch die dogmatische Interpretation wird ein (institutionell gestützter) Textsinn so aufbereitet, dass er für die Anwendung auf praktische Fragen nutzbar wird. Gleichwohl sollte man auch hier genau zwischen der eigentlichen Interpretation und der Anwendung des dadurch gewonnenen Textsinnes auf die Probleme unterscheiden. Die Anwendung auf den Fall unterliegt ihrerseits nicht hermeneutischen, sondern logischen Regeln der Subsumption des Einzelnen und Besonderen (des Falles bzw. des Problems) unter das Allgemeine (des hermeneutisch festgestellten Textsinnes): Der festgestellte Textsinn liefert die logischen Prämissen für die schlußmäßige Deduktion einer Antwort auf die gestellten Fragen bzw. eines Urteils über den anstehenden Fall.

 

Die zetetische (forschende) Hermeneutik ist aus der dogmatischen entstanden. Sie beruht auf Kriterien, die sich – aus der Kritik an der dogmatischen Hermeneutik entwickelt – als Gegensätze dazu darstellen. Sie setzt voraus, dass grundsätzlich alles Textmaterial, darin eingeschlossen auch die dogmatischen Texte und darüber hinaus auch alle Arten von Kulturdokumenten, in ihren Gegenstandsbereich fallen können. Ebenso setzt sie voraus, daß alle Dokumentarten in ihrem Zeichenvorrat schon bestimmten Sinn und Bedeutung enthalten, den es in der jeweiligen Interpretation ‚auszuschöpfen’ und mittels der Interpretation wiederzugeben, zu rekon­struieren oder auch abzubilden gelte.[26] Kritisch-zetetische Einstellung wird dabei wesentlich in vorurteilsloser Offenheit und Unvoreingenommenheit gegenüber dem, was sich als Sinn der Texte zeigen soll, gesehen. Ihr Ziel ist daher auch die Erstellung von Interpretationen als Theorien, die diesen Sinn eindeutig, vollständig und adäquat  „abbilden“ bzw. „rekonstruieren“ oder (nach idealistischer Einstellung) überhaupt erst „konstruieren“ sollen.

Als Kriterien der zetetischen Hermeneutik lassen sich herausstellen:

1. Sie ist als Methodendisziplin grundsätzlich interdisziplinär – im Gegensatz zur Fachgebundenheit der dogmatischen Hermeneutik. Das schließt nicht aus, dass spezielle Text- und Dokumentarten zum Gegen­standsbereich jeweils spezifischer Disziplinen gehören. Interdisziplinarität meint einerseits die „Universalität“ und ubiquitäre Anwendbarkeit der zetetisch-hermeneutischen Methodologie in grundsätzlich allen Disziplinen. Andererseits bedeutet sie auch, daß das zum zetetischen Verstehen notwendige Wissen grundsätzlich aus allen jeweils einschlägigen Disziplinen gleichsam zusammengeholt werden muß. Der zetetische Interpret muß in der Lage sein, auch über seine Fachgrenzen hinaus Vorwissen aufzunehmen und sich für seine Verstehensbemühung zunutze zu machen.

2. Die zetetische Hermeneutik ist strikten Wahrheitskriterien unterworfen. Das heißt, dass nur die Resultate zetetischer Interpretationen als wahr, falsch oder ggf. auch als wahrscheinlich gekennzeichnet werden können. In der zetetischen Hermeneutik kommt es, wie viele ihrer Klassiker schon frühzeitig bemerkt haben, häufig auch darauf an, bei überhaupt wahrheitsrelevanten (etwa wissenschaftlichen) Texten neben der evtl. Wahrheit auch evtl. Falschheit „richtig zu verstehen“, sodaß eine wahre Interpretation durchaus gerade auch die Falschheit eines sinnvollen Gedankens bzw. Textes verständlich macht. Als Wahrheitskriterium wird nach herrschender realisti­scher Erkenntnistheorie in der Regel die Korrespondenz zwischen (vorausgesetztem) Textsinn und Interpreta­tions­sinn angenommen. Die Interpretation gilt dann als wahr, wenn sie dem Sinn des Textes genau entspricht bzw. ihn abbildet. Eine idealistische Erkenntnistheorie kritisiert daran, daß sich so etwas wie selbstständiger Textsinn und (diesen abbildender) Interpretationssinn nicht unterscheiden lassen, sondern daß die Interpretation selbst den Textsinn erst konstruiert. Insofern kommen für eine idealistische Erkenntnistheorie nur die Wahrheits­kriterien der logischen Kohärenz und der Umfassendheit (Komprehensibilität) der jeweiligen Interpretation selbst in Frage.

3. Spricht man überhaupt von der Qualität einer zetetischen Interpretation, so kann es sich nicht um gut oder schlecht, zulässig oder unzulässig u. ä. handeln wie bei der dogmatischen Interpretation, sondern nur um die Einbettung der vorgeschlagenen Interpretation in den Kontext des einschlägigen interdisziplinären Wissens. Von einer zetetischen Interpretation wird man daher mit Recht verlangen können, daß sie sich ‚auf dem letzten Stand der Wissenschaft’ befindet und das Fachwissen dabei vermehrt und vertieft.

4. Bei zetetischen Interpretationen ist auch mit einem Non liquet („nicht klar“), also negativen Ergebnissen zu rechnen wie das bei jedem Forschungsunternehmen möglich ist. Dies ist ein heikler Punkt, den kein Forscher gern eingesteht, weil ein Non-liquet-Ergebnis allzu leicht individueller Inkompetenz angelastet wird. Ein vager ‚Sinnlosigkeitsverdacht’, wie er häufig polemisch geäußert wird (‚das verstehe ich nicht’ oder ‚Nonsens’) genügt in keinem Fall. Selbst wenn er substanziiert und bewiesen würde, so würde er den Interpretationsgegenstand nur aus der Klasse der Artefakte ausschließen und in die der „sinnfreien“ Gegen­stände befördern. Gleichwohl kommt es nicht allzu selten vor, daß trotz bestehendem ‚Sinnhaltigkeitsverdacht’ von Texten und Artefakten der genuine Sinn mangels einschlägigen Wissens nicht festgestellt werden kann. Die Sinnvermutung kann dann allenfalls zu hypothetischer Wahrscheinlichkeit der zetetischen Interpretation führen.

5. Schließlich setzt man beim zetetisch zu interpretierenden Dokument historisch und systematisch beschränkten Sinngehalt voraus. Ein historischer Autor kann z. B. nur das wissen, was vor ihm bekannt war, aber sicher noch nicht einmal alles, was zu seiner eigenen Zeit bekannt war. Darauf beruht das, was Kant schon bemerkte, nämlich daß in der Regel ein späterer Ausleger „den Autor besser verstehen kann, als er sich selbst verstanden hat“.

 

Ersichtlich kann man von allen vorn genannten Einstellungen aus die Philosophiegeschichte erforschen und sich dazu der zetetischen hermeneutischen Methoden bedienen. Ebenso aber kann man auch die Philosophiege­schichte zur dogmatischen Auslegung verwenden und sie dabei auf aktuelle philosophische Sachfragen anwenden. Hat man keine Scheu davor, das Wort „dogmatisch“ überhaupt bei seriösen Wissenschaften in den Mund zu nehmen, so kann man durchaus sagen, daß die drei geschilderten Grundeinstellungen selber „Dogma­tiken“ darstellen, von denen aus Forschung getrieben und damit zetetische Hermeneutik gesteuert wird.

Forschung in der Philosophiegeschichte besteht in der Vermutung, Aufspürung und Entdeckung von neuen Fakten und Daten, also der Vermehrung und Sicherung des Materials. Darüber hinaus stellt sie immer feinere und mehr Verbindungen und Verknüpfungen zwischen solchen Daten und Fakten her. Viele Verknüpfungen sind dabei hypothetisch, und sie erlauben dann eine zielgerichtete Forschung nach den Faktenbelegen. Die Verknüpfungen sind in der Regel Kausal- und Wirkungs- bzw. Einflußverbindungen zwischen einzelnen Ideen, Begriffen, Problemen, Theorien, Systemen, Werken, Autoren, Schulen und ganzen Traditionssträngen. Das alles läßt sich im Rahmen der ganzen Philosophiegeschichte oder bestimmter Epochen, aber auch eingeschränkt auf die Geschichte einzelner philosophischer Disziplinen durchführen. Die Forschung gipfelt dann gewöhnlich in Revisionen überkommener Ansichten, z.B. über Werkzuschreibungen von Schriften an bestimmte Autoren oder   über das, was den Zeit- oder Epochengeist ganzer Epochen ausmacht, und damit auch der Grenzen von Epochen selbst.

Die Ergebnisse dieser Forschung schlagen sich naturgemäß in den Beiträgen der spezialisierten Zeitschriften und Sammelbände, gelegentlich auch in bahnbrechenden Monographien nieder. Wichtig ist, daß man gewöhn­lich nur auf diese Forschungen achtet und ziemlich schnell bereit ist, jede andere Beschäftigung mit der Philoso­phiegeschichte an ihnen zu messen und sie dann für „populär“, dilettantisch oder mindestens für nicht „originell“ zu halten.

Geht man bei der Forschung von der erstgenannten Position des Fortschrittsdenkens aus, wie etwa die kantianische, so übernimmt man die Beweislast dafür, diesen Fortschritt als Verbesserung, Vertiefung, Klärung, vielleicht auch Systematisierung des philosophischen Denkens im Laufe der Geschichte zu interpretieren. Geht man vom Standpunkt eines Dekadenzdenkens aus, so muß man den Nachweis führen, daß alles Spätere die spekulative Höhe, Weite und Tiefe des anfänglichen Denkens der Gründerphilosophen oder einer offenbarten Wahrheit nicht mehr erreicht hat, sondern es allenfalls nur noch teilweise erfaßt, ja sogar „verstellt“ und verdunkelt habe, wie dies von Heidegger und vielen seiner Anhänger versucht wird. Das ist übrigens auch ein beliebtes Feld für Pseudophilosophen sowie religiöse und andere Fundamentalisten, die jederzeit und heute besonders um Proselyten werben, denen sie die „höhere Weisheit“ bestimmter alter Schriften gegenüber allem gegenwärtigen wissenschaftlichen Wissen vor Augen führen oder in die Seele träufeln wollen. Aber auch viele Anhänger und Spezialforscher bestimmter Klassiker vertreten diese Einstellung, wenn sie bei ihnen immer wieder „Voraus­nahmen“ erst neuerdings erarbeiteter Einsichten entdecken oder sogar die Kristallisationskerne und Theorie­potentiale erst noch weiter zu entwickelnder Theorien für die Lösung jetzt erst anstehender Probleme.

Die von Hegel ausgehende mittlere Linie, die ich selber vertrete, neutralisiert die Fortschritts- und Rückschrittsannahme mit der These, nach welcher die Philosophie zu allen Zeiten – und mehr oder weniger auch in allen Großkulturen – einen ziemlich konstanten Wissensfundus in immer nur abwechselnden Ausdrucks­formen kultiviert hat. Dann kann man auch in den ältesten Mythen den „Logos“, also rationale Gedanken­strukturen entdecken und ihre Aktualität interpretieren, wie man auch umgekehrt in den neueren und modernsten wissenschaftlichen Einsichten nur die zeitgemäße Artikulationsweise solch alter und immer wieder umfor­mulierten philosophischen Grundgedanken, ja auch mancher uralter Mythen, wiedererkennt. Gewiß ist das nicht unmittelbar plausibel, und zwar gerade deshalb, weil die beiden anderen Einstellungen fast allgemein herrschen. Daher wäre schon etwas mehr Aufwand zu treiben, um diesen Standpunkt genauer vorzuführen.[27] Vielleicht genügt es an dieser Stelle ein geschichtsontologisches Argument vorzuweisen, das auch schon Hegel bemüht hat. Alles Vergangene ist seinem materiellen Sein nach „nicht mehr“, d.h. ins Nichts übergegangen. Was wir als Erinnerung und Wissen vom Vergangenen „aufgehoben“ und verarbeitet haben, ist grundsätzlich ideelle Gegenwart. Deshalb können wir gar nicht anders denken, als daß wir historische Gedanken in aktuellen Kategorien „buchstabieren“. Und umgekehrt gilt, daß wir auch gegenwärtig nur so denken können, wie es uns das historische Gedankenmaterial vorgibt.

 

Nun kommt es mir hier wesentlich darauf an, alles, was mit Philosophiegeschichte zu tun hat, aber dabei nicht direkte Forschung nach zetetischen Hermeneutikgesichtspunkten ist, nicht alleine dem oben genannten Odium des Dilettantischen, Vulgären oder gar Unoriginellen zu überlassen. Natürlich gibt es alles dies auch, aber daneben bleibt doch eine dogmatische Umgangsweise mit Philosophiegeschichte übrig. Diese spielt seit jeher in der Didaktik des Faches eine bedeutende Rolle, und sie wird vielleicht unter heutigen Bedingungen der Lehr- und Lernsituation der Philosophie immer wichtiger. Aber die philosophiegeschichtliche Didaktik ist sicher nicht die einzige dogmatische Art des Umgang mit der Philosophiegeschichte. Seit Boethius bietet die Philosophie­geschichte auch „Trost“ in schwierigen Lebenslagen, oder sie kann zur Erbauung oder zur indivi­duel­len Allgemeinbildung benutzt werden, nicht zuletzt auch als Vorrat an Topoi, Argumenten, Gesichts­punkten oder puren Zitaten in aktuellen Diskussionen und Auseinandersetzungen.

Der dogmatische Umgang mit der Philosophiegeschichte setzt zunächst voraus, daß sie grundsätzlich applikativ, also in praktischer Anwendung auf Probleme und Fragen verwendet wird. Diese Probleme bestehen in der Philosophiedidaktik in ihrem Einsatz als Lehrmittel unter der Fragestellung: Wie bringt man dem Lernenden bei, was überhaupt Philosophie ist. Die applikative Antwort besteht eben darin: die ganze Philosophiegeschichte einschließlich des gegenwärtigen Standes zeigt, was Philosophie ist.

Betrachten wir, wie sich die vorn genannten Kriterien für die dogmatische Interpretation bei dieser Anwendung konkretisieren.

1. Es ist streng disziplinär bzw. fachgebunden vorzugehen. Das setzt voraus, daß der Lehrende ein bestimmtes Vorverständnis mitbringt, was Philosophie und ihre Geschichte ist, was dazu gehört und vor allem was nicht dazu gehört. Über mögliche Vorverständnisse des Entwicklungsganges als Fortschritt, Rückschritt oder ihrer Synthese wurde vorne schon gesprochen.

Ich wende mich damit explizit gegen eine heute verbreitete pädagogische Meinung und Einstellung, der Lehrende könne auch das lehren, was er selber gar nicht kennt. Er habe also keinen Lernvorsprung vor seinen Schülern, sondern müsse und könne sich die Materie zusammen mit den Lernenden erarbeiten. Das ist aber wohl zu unterscheiden von der sokratischen Methode, die sich in raffinierter Weise „dumm stellt“, dabei aber gerade Wissen des Lehrenden über das, was zu lernen ist, voraussetzt.

2. Es kann nicht darum gehen, die „wahre“ Interpretation des Lehrmaterials zu geben, sondern eine gute, geeignete, der Verständniskapazität der Lernenden angemessene und verständ­liche. Das gilt auch dann, wenn die Lernenden, etwa in einem Fortgeschrittenenseminar, an den letzten Stand der systematischen oder philosophie­geschichtlichen Forschung herangebracht werden sollen.

3. Das zeigt sich gerade auch an den Qualitätsansprüchen, die man an den Lehrer stellt.  Er soll „gut“ sein, d.h. „sein Handwerk verstehen“, indem er seine Materie voll beherrscht und sich auf den Verständnishorizont der Lernenden, ihre Aufnahmekapazität einstellt. Er muß in der Lage sein, Kompliziertes  einfach erscheinen zu lassen, und umgekehrt auch das einfach Erscheinende beliebig komplex zu entwickeln und zu „hinterfragen“. Er muß einzelne Ideen oder Begriffe nicht nur übersetzen, sondern auch in die Vorstel­lungsweisen der Gegenwart übertragen und umgekehrt das Verständnis für historisch oder kulturell fernerstehende Denkweisen eröffnen können.

Schlechte Lehre wäre es, wenn der Lehrer auf eine eigene Interpretation geradezu verzichten würde und  irgendwelche Textstellen (auf deren editorische Zuverlässigkeit er sich ohnehin verlassen muß) nur vorliest und sie oder ihre Teile nur immer wiederholt, um die Lernenden zu Assoziationen dazu einzuladen. Diese neuere auf „kreative Anregung“ abgestellte Lehrmethode dürfte geradezu unzulässig sein, wenn es gezielt darauf ankommt, mittels der Philosophiegeschichte in die Philosophie einzuführen.

4. Der Lehrer würde überdies seine eigene Unfähigkeit eingestehen, wenn er sich angesichts eines philoso­phiegeschichtlichen Lehrstoffes auf ein „Non liquet“, also darauf berufen würde, er habe die Sache selbst nicht verstanden oder sie sei an sich unverständlich. Und wenn er einen Gegenstand zum Thema macht, bei dem die Forschung selbst zu einem „Non Liquet“ gelangt ist, wie es bei der Zuschreibung mancher Schriften zu bestimmten Autoren vorkommt, so muß er in der applikativen Auslegung der Sache irgend eine Meinung oder Vermutung vortragen, d.h. die Sache mindestens als sinnvollen Lehrgegenstand vertreten können.

5. Schließlich gilt auch in der Philosophiegeschichte die Voraussetzung, welche die Theologie bei der heiligen Schrift, die Jurisprudenz bei geltenden Gesetzen, die Philologie bei ihren autoritativen Wörterbüchern macht: daß sie nämlich immer eine unerschöpfliche Sinnquelle darstellt, die, so lange sie überhaupt gebraucht und als relevant für die Lehre angesehen wird, für Sinnkonstruktionen bereitsteht.

Und dazu muß man auf dasjenige achten, was bei den dogmatischen Kanones als alternative oder mehrfache  „Skopoi“ herausgestellt worden ist.

Das sind in erster Linie die schon eingangs genannten prinzipiellen Möglichkeiten, den Sinn der Philosophiegeschichte als Fortschritts- oder Dekadenzgeschichte zu deuten, und darüber hinaus im Hegelschen Sinne eine vermittelnde Position des Verständnisses einzunehmen.[28] Andere Alternativen oder Mehrfachskopoi für die dogmatische Interpretation liegen in den Gattungen, in denen Philosophiegeschichte präsentiert wird.

Im Vordergrund steht wohl noch immer die seit Diogenes Laertios verbreitete Personengeschichte der Philosophie, bei der das Philosophieren als Persönlichkeitsausdruck interpretiert wird. Ersichtlich ist ja das Interesse an den „großen Philosophen“, den „Geistesheroen“ oder „genialen Denkern“ schon immer und immer noch ein privilegierter didaktischer Zugang zur Philosophiegeschichte, und die Namen der hier seit Jahrhunderten thematisierten Personen bezeichnen selbst einen philosophischen Bildungskanon innerhalb der allgemeinen Bildung des Abendlandes.[29] Bemerken wir bei dieser Gelegenheit, daß auch die „Geschichte der philosophischen Frauen“ bzw. der Philosophinnen schon eine längere Vorgeschichte hat. Ihr Gründungsdatum dürfte die Schrift des Aegidius Menage: „Historia mulierum philosopharum“ sein, die Marcus Meibom seiner Ausgabe des „Diogenes Laertius“, Amsterdam 1692 (II. Teil, S. 485 – 508) beigegeben hat. Neben die individuellen Personen lassen sich dann, ähnlich wie im Recht, die überindividuellen Personen oder Kollektive stellen, die dann zum dogmatischen Interpretationsanker gemacht werden können. Die ältesten sind hier die Schulen bzw. „Sekten“ im Anschluß an ihre Gründer, wie man sie auch schon bei Diogenes Laertius findet. Unter den neueren „Trägern“ des Philosophierens hat das „Klassenbewußtsein“ großen Anklang gefunden, zumal es nach Georg Lukacs[30] sogar auch dann philosophische Positionen artikuliert, wenn es eine entspre­chende Trägerklasse (noch) gar nicht gibt. Gegenwärtig scheint es von der Gender-Philosophie abgelöst zu werden, bei der man noch nicht so genau absieht, ob und welches biologische Geschlecht ihr tatsächlicher Träger ist. Kollektive sind aber daneben auch noch immer Epochengeister, der Zeitgeist oder gar der spezifische „Geist einer Kultur“, vor allem fremder und fernöstlicher Kulturen, von dem aus oder als den selber man dogmatisch philosophiegeschichtliches Material interpretieren kann.

Zu diesen personalen Kanons bilden die große Alternative die von Aristoteles, Theophrast und Simplikios ausgehenden am philosophischen Material selbst anknüpfenden Kanons. Sie lassen sich zwanglos der System- und Problemgeschichte und der Ideen- und Begriffsgeschichte zuordnen. In zetetischen Interpretationen müssen diese Forschungen grundsätzlich zusammen und einander ergänzend betrieben werden. Probleme stellen in der Regel ja Widersprüche und Lücken in philosophischen Systemen dar, und Systeme lassen sich ihrerseits nur aus klaren und logisch geordneten Begriffen und deren Hintergrundsideen, die zudem oft aus Einzelwissenschaften oder überhaupt aus der literarischen Bildung einer Zeit stammen, konstruieren. Für die dogmatischen Interpre­tationen aber werden sie konkurrierend und je nach didaktischen Erfordernissen angewandt, um überhaupt ein Interpretationsergebnis zu erzielen.

Solche dogmatischen Philosophiegeschichten erkennt man daher auch leicht daran, daß sie ziemlich alte und konventionell gewordene Konzeptionen von System, Problem und Begriff zugrunde legen. Für die System­interpretation genügt dann immer noch die kantische Definition des Systems als „nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis“, keineswegs erfüllt sie aber strikt logisch-formale[31] oder gar axiomatische Anfor­derungen. Bei dogmatischen Problemgeschichten aber hat man es meist mit rhapsodischer Aneinander­reihung gegen­sätzlicher und somit im Widerspruch zueinander stehender Thesen zu einem gemeinsamen Thema zu tun, die von verschiedenen Schulgesichts­punkten ausgehen. Genau genommen sind diese auch nur eine philosophische Gestalt der bei den Theologen gepflegten Dogmengeschichte.[32] Für die dogmatische Begriffs­geschichte genügen oft schon reine Wortüberset­zungen der spezifischen Termini eines Philosophen oder des fachlichen Wort­schatzes einer Epoche, denn das Übersetzen ist selbst eine elementare dogmatisch-hermeneu­tische Tätigkeit nach den Normen der anerkannten Sprachwörterbücher. Hier ist freilich die Bandbreite zwischen guter und schlechter bzw. unzulässiger Übersetzung recht breit. Und offenbar pflanzen sich angesichts der immer weiter zurückgehenden Sprachkenntnisse der klassischen Sprachen und der weithin nicht vorhandenen Sprachkenntnisse bei nah- und fernöstlichen Sprachen auch fehlerhafte Übersetzungen in der Philosophie­geschichte dogmatisch fort. Eigentlich wäre für die dogmatische Begriffsinterpretation auch eine philologisch begründete Kenntnis der jeweiligen Wortetymologie der Fachtermini zu fordern. Im Chinesischen und Japanischen bezieht sich die Etymologie auch auf die Schriftzeichenbildung, aus der viel mehr über die einheimischen Wortverständnisse zu entnehmen ist als aus ihren jeweiligen Kontexten. Weil aber etymologische Kenntnis – selbst bei Fachphilologen – meist im argen liegt, konnten etwa Heidegger und manche seiner Schüler aus dieser Not eine vielbeachtete Tugend der „kreativen“ Interpretation zentraler Begriffe der antiken und fernöstlichen Philosophie entwickeln, die für die zetetische Interpretation zwar mancherlei spekulative Anregungen und Hypothesen für genauere Forschungen und Überprüfungen bewirkt haben, als „dogmatische Interpretation“ aber als schlechthin unzulässig gelten müssen.

 

Zum Abschluß möchte ich der Hoffnung Ausdruck geben, daß meine Ausführungen dazu geeignet sind, etwas mehr Licht in die Methodik des Umgangs mit der Philosophiegeschichte zu bringen, indem ich den Unterschied zwischen der zetetischen und der dogmatischen Hermeneutik herausstellte und vor allem die Relevanz der letzteren in der didaktischen Verwendung der Philosophiegeschichte im Philosophiestudium betonte. Daß hier noch ziemlich Bedarf an weiteren methodischen Überlegungen und Ausarbeitungen besteht, dürfte sich dabei ebenfalls gezeigt haben.

 

 

(Network-edition: März 2003)



[1] Vgl. dazu Richard Rorty, The historiography of philosophy : four genres, in : R. Rorty u.a.: Philosophy in History. Essays on the historiography  of philosophy, Cambridge Univ. Press, Cambridge 1984 (ND 1986), S.49-56. Rorty behandelt diese Sicht der Klassiker unter der Gattung “Rational and historical reconstruction”.

[2] L. Geldsetzer, Tre tipi  sistematici di storiografia filosofica, in : Criterio, hg. von R. Franchini, (Neapel) 1989, S.108-113.

[3] Vgl. L. Geldsetzer, Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert. Zur Wissenschaftstheorie der Philoso­phie­ge­schichtsschreibung und –betrachtung, Meisenheim 1968, S. 19-46. – Dazu auch: Giuseppe Micheli, Kant Storico della Filosofia, Padua 1980.

[4] M. Klein, Versuch einer genauen Bestimmung des Begriffs einer philosophischen Geschichte, in : Beilagen zu den neuen Würzburger gelehrten Anzeigen, Nr. 19-20, Juni 1802, S. 147.

[5]  Zur Philosophiegeschichtsschreibung der Kantianer vgl. Giovanni Santinello, Hg., Storia delle Storie Generali della Filosofia, Band 3 Teil II: Il secondo illuminismo e l’età Kantiana, Padua 1988, S. 879-1019,  sowie Band IV: L età Hegeliana, Padua 1995, S. 3-182. – Für Frankreich sei das unter kantischem Einfluß stehende Werk von J. M. Dégérando: „Histoire comparée des systèmes de philosophie considérées relativement aux principes des connaissances humaines“, Paris 1804, 2. Aufl. Paris 1822-1847 genannt.

[6]  Ein wichtiges Dokument der Integration von Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte stellt das Werk von John Theodore Merz: „A History of European Thought in the Nineteenth Century, 4 Bände 1904-1912, ND New York 1965, dar.

[7] Der Prototyp dieser Art von Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte dürfte Hans Reichenbachs Buch The Rise of Scientific Philosophy, (Univ. of. Calif. Press) Berkeley and Los Angeles 1966, sein.

[8] F. W. J. Schelling, Über Mythen, historische Sagen und  Philosopheme der ältesten Welt, in: Paulus’ Memorabilien von 1793, auch in Werke, hg. von M. Schröter, Band 1, München 1958, S. 1-43; F. Schlegel, Entwicklung der Philosophie in 12 Büchern, in: Krit. Ausgabe, hg. von Behler, Band 12, München-Paderborn-Wien 1964. -  Dazu auch L. Geldsetzer, Die Philosophie der Philosophiegeschichte, a.a.O. S. 81 ff. und S. 186 f.

[9] C. J. M. Windischmann, Die Philosophie im Fortgang der Weltgeschichte, 4 Teile, Bonn 1827-1834;  Eduard Röth, Geschichte unserer abendländischen Philosophie, 2 Bände Mannheim 1846, 2. Aufl. 1862. Über die Schellingschule vgl. auch L. Steindler in: G. Santinello, Hg., Storia delle Storie Generali, Band IV, Padua 1995, S. 349-412.

[10] M. Heidegger, Sein und Zeit, 7. Aufl. Tübingen 1953, S. 21: „Die Tradition entwurzelt die Geschichtlichkeit des Daseins so weit, daß es sich nur noch im Interesse an der Vielgestaltigkeit möglicher Typen, Richtungen, Standpunkte des Philosophierens in den entlegensten und fremdesten Kulturen bewegt und mit diesem Interesse die eigene Bodenlosigkeit zu verhüllen sucht“.

[11] K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949; sowie: Die großen Philosophen, München 1959.

[12]  Über Hegels Philosophiegeschichtsschreibung vgl. G. Santinello in: G. Santinello, Hg., Storia delle Storie Generali, Band 4, Teil I, Padua 1995, S. 413- 509.

[13] Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke, hg. v. H. Glockner, Band 17, Stuttgart 1959, S. 59: „Ich behaupte, daß, wenn man die Grundbegriffe der in der Geschichte der Philosophie erschienenen Systeme rein dessen entkleidet, was ihre äußerliche Gestaltung, ihre Anwendung auf das Besondere, und dergleichen betrifft: so erhält man die verschiedenen Stufen der Bestimmung der Idee selbst in ihrem logischen Begriffe ... und umgekehrt den logischen Fortgang für sich genommen, so hat man darin nach seinen Hauptmomenten den Fortgang der geschichtlichen Erscheinungen ... Man muß freilich diese reinen Begriffe in dem zu erkennen wissen, was die geschichtliche Gestalt enthält.“

[14] Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a.a.O. S. 49: „Es ist dem Keime nichts anzusehen. Er hat den Trieb, sich zu entwickeln, er kann es nicht aushalten, nur an sich zu sein ... Es kommt Vielfaches hervor: das ist aber alles im Keim schon enthalten ... Das höchste Außersichkommen, das vorherbestimmte Ende, ist die Frucht- d.h. die Hervorbringung des Keimes, die Rückkehr zum ersten Zustande. Der Keim will sich selbst hervorbringen, zu sich selbst zurückkehren. Was darin ist, wird auseinander gesetzt und nimmt sich dann wieder in die Einheit zurück, wovon es ausgegangen. Bei den natürlichen Dingen ist es freilich der Fall, daß das Subjekt, was angefangen hat, und das Existierende, welches den Schluß macht – Frucht – Samen – zweierlei Individuen sind ... Ebenso im animalischen Leben ... Im Geist ist es anders ... darum, daß in ihm Anfang und Ende zusammenfällt.“  S. 51: Die Entwicklung des Geistes ist Herausgehen, Sichauseinanderlegen, und zugleich Zusichkommen.“

[15] Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a.a.O. S. 66 f: „Die Prinzipe sind erhalten, die neueste Philosophie ist das Resultat aller vorhergehenden Prinzipe; so ist keine Philosophie widerlegt worden. Was widerlegt worden ist, ist nicht das Prinzip dieser Philosophie, sondern nur dies, daß dies Prinzip das letzte, die absolute Bestimmung sei.“

[16] L. Geymonat, Hg., Storia del pensiero filosofico e scientifico, 9 Bände, 2. Aufl. Mailand 1970, ND 1979.

[17] F. Copleston, S.J., A History of Philosophy, 9 Bände, 8. Aufl.  Garden City, New York 1962.

[18] Vgl. A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, I, in: Werke, hgg. v. Frauenstädt, 6. Band, 2. Aufl. Leipzig 1916, S. 35.

[19] H. Ritter und L. Preller, Historia Philosophiae Graecae. Testimonia Auctorum, 8. Aufl. besorgt von Ed. Wellmann, Gotha 1898.

[20]  F. Ueberweg: Grundriß der Geschichte der Philosophie, 3 Teile 1863-1866, Neue Bearbeitungen in 5 Bänden, 11.u. 12. Aufl. 1923-1928, ND 1956-1957. – Die jetzt laufenden Neubearbeitungen stellen demgegenüber Forschungskompendien dar.

[21]  R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, historisch-quellenmäßig bearbeitet, Berlin 1899, 4. Aufl. in 3 Bänden 1927-1930. – J. Ritter, Hg.: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Völlig neubearbeitete Ausgabe des ‚Wörterbuchs der philosophischen Begriffe’ von Rudolf Eisler, Basel-Stuttgart 1971 ff. (bisher 11 Bände bis „V“).

[22]  Vgl. meine Einleitung zum Nachdruck von G. F. Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, Halle 1757  (Instrumenta Philosophica Series Hermeneutica I), Düsseldorf 1965.

[23]  Umso verdienstvoller war hier der Akademievortrag von E. Rothacker, Die dogmatische Denkform in den Geistes­wissen­schaften und das Problem des Historismus (Akad. D. Wiss. und d. Lit., Abh. d. geistes- und sozialwiss. Klasse), Wiesbaden 1954. Er hat leider keine Wirkung für die Rehabilitation des Dogmatischen in der Methodologie der Geisteswissenschaften bewirkt.

[24] Vgl. auch meinen Artikel „Hermeneutik“  in : H. Seiffert und G. Radnitzky, Hg., Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München 1989, S.127-139.

[25] Zur dogmatischen juristischen Hermeneutik meine Einleitung zum Nachdruck von A. F. J. Thibaut: Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts, 2. Aufl. Altona 1806 (Instrumenta Philosophica Series Hermeneutica II), Düsseldorf  1966.

[26] So artikuliert sich jedenfalls die herrschende realistische Forschungseinstellung, die gemäß dem Korrespondenzkriterium der Wahrheit zwischen Sinnvorgabe im Text und Abbildung derselben in der Interpretation unterscheidet. Die idealistische Einstellung behauptet hingegen, daß diese Unterscheidung selber sinnlos ist, da ein Textsinn überhaupt erst in einer Interpre­tation „konstruiert“ wird, und zwar nach dem Wahrheitskriterium der logischen Kohärenz und der Umfassendheit.

[27] Einen Versuch dazu habe ich in meinem Aufsatz „Eurocentrism, Sinocentrism, and Categories of a Comparative Philoso­phy“ in: K.-H. Pohl, Hg., Chinese Thought in a Global Context. A Dialogue Between Chinese and Western Philosophical Approaches”, Leiden-Boston-Köln 1999, S. 287 – 303, gemacht.

[28] Man beachte bei der dogmatischen Nutzung dieser Positionen: Was sich nicht als Fortschritt deuten läßt, das läßt sich meistens als Rückschritt deuten, und umgekehrt. Versagen beide Gesichtspunkte, so bleibt immer noch die Vermittlung. Und innerhalb dieser Gesichtspunkte lassen sich leicht weitere Alternativen oder Mehrfachmöglichkeiten aufreißen. Denn es waren nicht nur die Kantianer, die die Fortschrittsperspektive einnahmen, sondern auch viele andere Schulen, wie der Evolutionismus der Lebensphilosophie, die Analytische Philosophie, der Konstruktivismus der Erlanger Schule usw. Das gleiche gilt für die Dekadenzperpektive, die am erfolgreichsten von Heidegger und seinen Anhängern eingenommen wird, zum Teil aber auch von der Neuscholastik für alle nachmittelalterliche Philosophie. Nimmt man die Perspektive des Hegelianismus und der hegelschen Schulen ein, insbesondere die junghelianisch-marxistische, so ist bei Zugrundelegung der dialektischen Methode ein sehr weiter Interpretations­horizont aufgerissen. Ausgearbeitet sind von solchen Interpetationen die ökonomistische von Karl Marx selber, die historistische im sog. historischen Materialismus, die naturwissenschaftliche von Friedrich Engels und die sog. humanistisch-existenzia­listische vom Praxiskreis im ehemaligen Jugoslawien. Und für neo-marxistische Interpretationsmöglichkeiten seien auch noch die Amalgamie­rungen mit der Psychoanalyse und dem postmodernen Denkstil genannt, wie dies in der Frankfurter Schule seit Adorno verbreitet worden ist.

Von hier gibt es manche Verbindung zur feministischen dogmatischen Interpretation der Philoso­phiegeschichte, die es natürlich neben der historischen Frauen- und Geschlechterforschung auch gibt. Auch dabei werden die Gesichtspunkte einer fortschreitenden Dekadenz der Stellung und Macht des Weiblichen vom Urmatriarchat etwa im Sinne Bachofens zur modernen Unterdrückung oder umge­kehrt einer fortschreitenden Emanzipation von ursprünglicher Unterdrückung der Frauen zur Gleichberechtigung oder auch zur Vormachtstellung durchgespielt und an den historischen Beispielen der Philosophinnen belegt.

[29] Im gegenwärtigen Fernsehzeitalter erhalten auch die überlieferten Philosophenbilder einen dogmatischen Stellenwert, wie man an der zunehmenden Ausstattung der Philosophiegeschichten mit solchen Bildern sieht. Noch fehlt es freilich an einer systematischen und auf Vollständigkeit ausgehenden Sammlung und Präsentation dieser Bilderspuren in der Philosophie­geschichte. Vgl. dazu meine „Philosophengalerie. Bildnisse und Bibliographien von Philosophen aus dem 11. bis 17. Jahrhunderts“, Düsseldorf 1967. Sie steht, erweitert um antike und patristische sowie ausgewählte chinesische Philosophen­bildnisse, seit kurzem auf der Website des Philosophischen Instituts der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Um eine umfassendere Bestandsaufnahme der Portraits wie auch aller philosophisch relevanten Bildmotive bemüht sich Lucien Braun mit seinem bahnbrechenden Werk „Iconographie et Philosophie. Essai de définition d’un champ de recherche, 2 Bände, Strasbourg 1994 – 1996.

[30] G. Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923), Neudruck 2. Aufl. Neuwied 1971.

[31]  Wie eine logisch formalisierte Systeminterpretation aussieht, habe ich am Beispiel der Hegelschen „Phänomenologie des Geistes“ und des Dao De Jing (Buch vom Dao und seinen Kräften) des Lao Zi zu zeigen versucht. Vgl. „Über das logische Prozedere in Hegels Phänomenologie des Geistes“, in: Jahrbuch für Hegelforschung, hg. von H. Schneider, 1, 1995, S. 43 –8o sowie „Dao als metaphysisches Prinzip bei Lao Zi. Einige Gedanken zur Logik der metaphysischen Begriffsbildung“, in: Monumenta Serica, Journal of Oriental Studies, Band 47, 1999, S. 237 - 254.

[32] Beispiele für eine solche dogmatische Problemgeschichte sind das bekannte „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie“ von W. Windelband, 15. Aufl. bearb. von H. Heimsoeth, Tübingen 1957 oder die „Histoire de la philosophie. Problèmes et écoles“ von P. Janet und G. Séailles, 1886, 15. Aufl. Paris 1932. – Zur „dogmengeschichtlichen“ Problemge­schichte vgl. meinen Artikel „Problemgeschichte“ im Historischen Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 7, Basel 1989, Sp. 1410-1414.