Teil III: Probleme der Philosophischen Anthropologie

6. Kapitel: Die Bestimmung und die Wesenszüge des Menschen

§ 16. Die Definition des Menschen

Die üblichen Definitionen versuchen, den Menschen durch ein einziges Merkmal zu bestimmen, das ihn in einer Reihe sonst unter die gleiche Gattung fallender Wesen auszeichnen soll. Solche Definitionen sind oft ingeniös, apart oder witzig und sagen mehr über ihren Erfinder als über den Menschen. Geben wir eine Liste (nach W. Sombart, Vom Menschen, 1938, S. 3 ff.), die freilich auswählend und zufällig bleibt:

Platon: zweibeiniges Tier ohne Federn. Aristoteles: sprachbegabtes (vernunftbegabtes) Tier. Stoa: Mikrokosmos. Cicero: animal hoc providum, sagax multiplex, acutum, memor, plenum rationis et consilii, quod vocamus hominem. Augustinus: Ebenbild Gottes; a veteribus ita definitum est: homo est animal rationale mortale. Thomas v. Aquin: horizon et confinium duorum mundorum. Nikolaus v. Kues: menschlicher Gott; schaffender Spiegel; quasi nexus universitatis entium. Leibniz: kleiner Gott. Montaigne: La plus calomnieuse et fragile de toutes les créatures .... et quand et quand la plus orgueilleuse. Pascal: Un roseau le plus faible de la nature, mais un roseau pensant. Rousseau: un animal dépravé. B. Franklin: a tool making animal. Kant: das Tier, das sich selbst vervollkommnen kann. Herder: der erste Freigelassene der Schöpfung. Schiller: das Wesen, welches will. Goethe: das erste Gespräch, das die Natur mit Gott hält. "Was ist der Mensch? / Ein hohler Darm / mit Furcht und Hoffnung angefüllt / daß Gott erbarm". Schopenhauer: das prügelnde Tier; "Ihm ist das Prügeln so natürlich wie den reißenden Tieren das Beißen und dem Hornvieh das Stoßen"; das Tier, das sich langweilen kann. Nietzsche: das kranke Tier; das Untier und Übertier; das nicht festgestellte Tier; das Tier, das versprechen darf. Marx: das Tier, das sich durch Arbeit selbst reproduziert. Freud: der Triebverdränger. Scheler: der Nein-sagen-Könner. Paul Ernst: das Tier, das sich selber belügt. N. Hartmann: das aus sich selbst heraus gefährdete Wesen. H. Plessner: das exzentrische Tier, das lachen und weinen kann. A. Gehlen: das Organmängel-kompensierende Tier. E. Cassirer: animal symbolicum. etc.

Beim heutigen Stand der Kenntnisse können so simple Definitionsversuche kaum genügen. In die richtige Definition müssen die Einsichten aus allen Forschungsbereichen über den Menschen eingehen, sie kann daher nur komplex ausfallen. Wir schlagen vor:

Der Mensch ist a. ein physikalisch-energetisches System höchster Ektropie (das "unwahrscheinlichste" Energiesystem);

  1. das in Anpassung an und Wirkung auf seine Umwelt plastischste und rigideste Tier;
  2. ein polyglottes, naturversinnlichendes und Sinn naturierendes Artefakt- und Handlungswesen.

 

§ 17. Der Gattungscharakter des Menschseins und die individuelle Persönlichkeit

Die Definition bestimmt das Menschsein überhaupt. Das Mehr oder Weniger ihrer Ausfüllung bestimmt die individuelle menschliche Persönlichkeit. Gewöhnlich gelten die Maxima als "großes Menschentum", die Minima als Massenschicksal: Wer am meisten Energie umsetzt, am geschicktesten sich anpaßt oder seine Umwelt verändert, durch weiteste Tätigkeit und größte Kenntnisse "kulturschaffend" ist, dem flicht die Nachwelt Kränze. Doch die "Lumpe sind bescheiden", sparsam, manipulierbar und begnügen sich mit den Brosamen der Kultur. Zu diesen Brosamen gehört auch die Idee der Innerlichkeit (eine neuplatonisch-augustinische Idee: noli foras ire, in te ipsum reddi, in interiori homine habitat veritas), die heutzutage so viele zum Selbstfindungstrip verlockt. Sie hoffen, etwas oder gar sich selbst zu finden und ihr Selbstbewußtsein und ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Man findet aber nur, was vordem hineingetan wurde, und sonst - Nichts. Doch es ist eine elementare Leistung des polyglotten Sprachvermögens, das Nichts zum Scheinen zu bringen, so daß auch das hohlste Selbstbewußtsein noch als Etwas gilt. Hier treffen sich aber nur die Minima individueller Persönlichkeit und abstrakten Menschseins.

 

§ 18. Das anthropologische Wahrheitsproblem

Es handelt sich - ontologisch formuliert - um das Problem der Echtheit und Substanzialität des Menschen, anthropologisch gesprochen um die Wahrhaftigkeit als Charakterzug der Persönlichkeit. Daß ein Mensch auch falsch sein kann, unstet, listig, verlogen und untreu, das ist eine alte Erfahrung. Alles dies hängt unmittelbar mit seinem polyglotten Sprachvermögen zusammen. Der Mensch kann sich und andere täuschen. Täuscht er sich, so liegt es an widerspruchsvoller Verwendung zweier Sprachen, die unbemerkt bleibt, ein Mangel an Bildung. Täuscht er andere, so denkt er die Wahrheit in einer Sprache, die wahrscheinlich klingt; wenn‘s gelingt, ein Zeichen großer Bildung. Die systematische Doppelzüngigkeit, die Lebenslüge, ist daher kaum aufzudecken, doch ihre Vermutung verpestet die zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie ist die Quelle des häufigsten Unglücks.

Der wahrhaftige Mensch denkt und spricht kohärent. Wo er es nicht vermag, gesteht er es sich und anderen ein, und er hält dies auch anderen zugute. Das ist tolerante Mitmenschlichkeit. Er ist daher verläßlich sich und anderen treu, lern- und wißbegierig, gesprächsoffen. Er tauscht gleichsam sein Bewußtsein mit dem der anderen Menschen aus und bildet so seine Persönlichkeit. Dies Verhältnis des Anerkennens und Anerkanntseins ist die größte Quelle des Glücks.

 

§ 19. Leben, Krankheit und Tod

Das sind die Titel der bedeutsamsten Fragen für den einzelnen Menschen. Und doch verhält er sich gewöhnlich, als wäre dies alles Nichts: Er riskiert sein Leben für Nichts - im Straßenverkehr, beim Essen und Trinken, im Sport; er läßt es auf voraussehbare Krankheiten ankommen; er sieht dem Tod ins Auge und freut sich, wenn er "davonkommt". Zugleich hält er die Gestaltung seines eigenen Lebens, seine eigene Krankheit, seinen eigenen Tod für das größte Problem.

In der Tat ebnet hier nur die Sprache ein, was eigentlich ganz verschieden ist. Den eignen Tod kann man niemals erfahren; es gibt ihn gar nicht. Aber der Tod der anderen - ein Abschied wie viele endgültige - gilt als Schreckbild. Die eigene Krankheit mag Schmerzen bereiten oder nicht; sie wird bedrohlich erst in der medizinischen Diagnose. Das eigene Leben nimmt uns niemand ab, es gilt uns als gut oder jämmerlich erst im Vergleich zum Leben der anderen. Hier kann man viel von den Tieren lernen, die zu leben, zu leiden, zu genießen und zu sterben verstehen.

Pervers, wie die Dinge weithin geworden sind, dürften sie nur durch einen anderen Umgang mit der Zeit zu heilen sein. Die uns beschiedene Lebensspanne, die verlorene Zeit der Krankheit, das bittere Ende sind nur Gespenster, die durch Uhr und Kalender erzeugt werden. "Der Mensch ist die Zeit" (lautet ein äthiopisches Sprichchwort). Er braucht den Mut, sich Zeit zu nehmen: zum Leben, zum Kranksein, zum Sterben. Darin liegt wahre Lebenskunst. Nur der Realist hält das Leben, die Krankheit, den Tod und die Zeit für objektive Gegebenheiten, und so beklagt er die Kürze und Armut des Lebens, den Zerfall des Körpers und das Ende seiner Zeit. Der Idealist aber weiß, daß das Bewußtsein sein Leben, die Krankheit eine Erfahrung, das Sterben ein vielgeübtes Einschlafen, der Tod eine Schimäre, die Zeit eine prekäre Ordnung in seinen Gedanken ist.

 

§ 20. Sexualität und Liebe

Daß der Mensch durch die Sexualität wesentlich geprägt ist, ist eine Binsenwahrheit. Daß er niemals als Mensch, sondern als Mann oder Frau vorkommt, ebenso. Und doch hat die Anthropologie erst spät davon Notiz genommen. Wie anders sähe ihr Bestand und unser Weltbild aus, hätte Platons Rede von männlichen und weiblichen Seelen gewirkt und hätte das Christentum die göttliche Dreifaltigkeit als heilige Familie konzipiert. So aber blieb die Seele geschlechtslos und der Geschlechtsunterschied ein zufälliges körperliches Merkmal, das Aristotelas unglückseliger Weise mit dem Form- und Materieprinzip in Verbindung brachte.

Die Einbindung des Menschen ins Tierreich durch die Sexualität und die entsprechenden Triebe ist ein Faktum, das man zwar früher als anstößig empfand und zu kaschieren suchte, das heute aber akzeptiert wird. Sogar die Sexualität der "unschuldigen Kinder" hat man schon entdeckt und weithin anerkannt. Daß aber nun gleich alles, was menschlich ist, auch sexuell sei, ist eine törichte Übertreibung. Es gilt schon nicht einmal im biologischen Bereich: der Geschlechtstrieb kann verkümmern, die Sexualität aus Willen, Gewohnheit oder Lebensalter gänzlich "uninteressant" werden. Im physikalisch-chemischen Bereich (wenn man den Menschen als ektropisches Energiesystem betrachtet) spielt sie gewiß gar keine Rolle. Und wieweit sie auf den kulturellen Bereich durchschlägt, ist ein Spezifikum bestimmter Kulturen.

Hier spricht man denn von Liebe. Sie ist die kulturelle Stilisierung der Sexualität. Da aber die Kultur vieles stilisiert, was keine biologische Grundlage hat (oder was diese verloren hat), so kann man auch nicht davon ausgehen, daß alles, was so heißt, auch Liebe ist. Kein Faktum ist von so vielen Metaphern umrankt! Die "sexuelle Revolution" des Abendlandes, die Freizügigkeit der Sitten und die Visibilität des sexuellen Aktes und der Nacktheit erzeugt nun den Anschein einer großartigen Befreiung zu humanem Umgang unter den Geschlechtern.

Abgesehen davon, daß es sich dabei nur um eine optische Täuschung durch Reklame und Medien handelt, der alle statistischen Tatsachen widersprechen, hat sie eher dazu beigetragen, diesen Umgang zu verunsichern. Indem das Geschlechtsverhältnis tendenziell auf das Sexualverhältnis reduziert wird, verlieren auch die kulturellen Formen der Liebe ihren Gehalt und werden leere Hülsen. Damit geraten auch die im weiteren Umkreis der Sexualität und Liebe befindlichen Institutionen ins Wanken: Familie, Erwachsenen-Kind-Verhältnis, Freundschaft, Ehe, nicht zuletzt die Kleidermoden.

Denn die Liebe ist nichts weniger als ein "natürliches Verhältnis" (was die Sexualität allerdings ist). Viele Kulturen kennen sie überhaupt nicht, manche weisen ihr nur wenig Bedeutung zu, im Abendland aber galt sie bisher als einer der obersten Werte. Daher die großen Erwartungen, die man ihr entgegenbringt, und auch die großen Enttäuschungen, die sie bereitet. Ihre abendländische Form war die, daß sie die besten selbständigen Tugenden in einen festen Bezug zur Sexualität brachte: Treue, Verläßlichkeit, Fairness, Aufopferung und Hingabe; und daß als Begleiterscheinungen geglückter Liebe die erstrebenswertesten Lebensumstände herauskamen: Geborgenheit, Schutz, Intimität, Wärme, die Erfahrung des Menschseins im Kinderlächeln, in Sorge, Not und Krankheit und im Erwarten des Sterbens, Pflege und Fürsorge, Zärtlichkeit und Strenge. Es hat sicher etwas Altmodisches, in dieser Weise verliebt zu sein. Aber die eher größer gewordene sexuelle Not der jüngeren Generation wird durch die falschen und verlogenen Idole heutiger Roman- und Kinolieben keineswegs gemildert. Wer für die Liebe nur den sexuellen Genuß, die Make-up-Schönheit, die Zweierbeziehung reservieren will, kann sie diese kontingenten Zustände nicht überdauern sehen. Daher die Enttäuschungen, die Scheidungen, der Egoismus der "Singles", die Kinderangst (man nennt das fälschlich "Kinderfeindlichkeit"). In solcher Einstellung wird auch der sexuelle Akt rein "natürliches Verhalten". Er verliert seinen Handlungscharakter, seine Symbolik, das Über-sich-hinaus-Verweisen. Die Konzentration auf den punktuellen Erfolg, die gleichsam sportliche Technik kennt nur noch Sieger und Verlierer. Daher die Misere der Frustration und der Impotenz.

 

§ 21. Das Bewußtsein

Zum menschlichen Dasein gehört das Bewußtsein. Aber was das Bewußtsein selber ist, dürfte eines der größten Rätsel überhaupt darstellen. Und dies trotz oder gerade wegen der Tatsache, daß jedermann es für das Bekannteste und persönlich Vertauteste hält, gelegentlich aber auch mit seinen unheimlichen und unerklärlichsten Seiten zu tun bekommt. Auch die philosophische Anthropologie, nicht weniger die Psychologie und die Psychiatrie ist weit davon entfernt, einen klaren Begriff davon zu besitzen.

Die Alten nannten es die Seele, ein Sprachgebrauch, der seit Christian Wolff und Kant im 18. Jahrhundert durch die moderne Wendung abgelöst worden ist, um dadurch genauer die menschliche Seele im Unterschied zu etwaigen tierischen oder gar pflanzlichen Seelen zu bestimmen und zugleich den wesentlichen Bezug zu unterstreichen, den die menschliche Seele zur Welt, eben zum "Sein" hat. Vom Verständnis der Seele her versteht sich daher auch noch das meiste von dem, was vom Bewußtsein gelten soll und kann. Vor allem galt die Seele als eine Kraft, als "Motor", die den lebendigen Körper bewegt, und die daher im Innern eines lebendigen Körpers entweder an einem bestimmten Ort (etwa einem Organ) oder im ganzen Körper verteilt ist. Belebte Körper nannte man daher im alten Griechenland "Automaten", d.h. "Selbstbeweger", eben weil die Seele von innen her den Körper bewegt und er keines Anstoßes von außen, wie die toten Dinge, bedarf. Von daher ist auch auf das Bewußtsein die Bestimmung übergegangen, daß es etwas sei, was im Innern organischer Körper - der Leiber - anzusiedeln und dort wirksam sei.

Platon und der Neuplatonismus und mithin das christliche Menschenbild haben die Seele als etwas ewiges, unverwechselbar und unvergleichbar Einziges, für das Individuelle schlechthin angenommen, das nur auf eine begrenzte Zeitspanne in einen vergänglichen Körper wie in ein Gefängnis eingesperrt sei. In aristotelischer Terminologie wurde die Seele daher als eine unvergängliche Substanz gedeutet. Descartes faßte sie als "denkende Substanz" und unterschied sie von der körperlich-ausgedehnten Substanz des Leibes. Leibniz erklärte die angeblichen körperlichen Substanzen für ein Scheinphänomen und ließ nur die Seelensubstanzen als "Monaden" übrig. Dadurch löste sich alles sog. Körperliche und Materielle in Vorstellungen der Seele auf. Da die Monaden-Seelen überdies "fensterlos" sein sollten, mußte die ganze "Außenwelt" eigentlich eine "Innenwelt" der Seele, gleichsam das Mobiliar in diesem fensterlosen Gehäuse werden. So kam das Sein ins Bewußtsein, und Leibnizens Schüler Christian Wolff redete fortan vom "Bewußt-Sein".

Kant zertrümmerte auch noch die Substanzialität der Seele und ließ nur noch "psychische Erscheinungen" übrig, die in einer nicht weiter hinterfragbaren Einheit und Ganzheit zusammenhängen sollten. Um diese Einheit und Ganzheit zu bezeichnen, verwendete er Wolffs Terminus "Bewußtsein". Von da an stellten sich alle Fragen über die Seele erneut als Fragen über das Bewußtsein.

Der deutsche Idealismus hat diese Tendenzen aufgenommen und zu metaphysischen Bewußtseinssystemen ausgebaut. Bewußtsein wurde zum allerklärenden und allumfassenden metaphysischen Prinzip. Dafür war die Aufhebung zweier in realistischer Perspektive als schlechthin unbezweifelbar und evident angesehener Grenzen: der Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt des Bewußtseins und der Grenze zwischen individuellem und überindividuellem bzw. "absolutem" Bewußtsein ausschlaggebend. Für das erstere gab Berkeley mit seinem Prinzip: "esse est percipi" die Argumentationsbasis. Wenn sich wahrgenommenes Sein nicht von der Wahrnehmung selbst unterscheiden ließ, so mußte auch die (Kantische) Unterscheidung vom Ding an sich und Erscheinung zwischen Außenwelt und Innenwelt hinfällig werden. Man hat freilich daraus immer wieder den Schluß gezogen, dadurch würde die Außenwelt gewissermaßen in das Bewußtsein hineinverlagert und das führe zu einem absurden Solipsismus. Aber man übersieht dabei, daß dort, wo von einem "außen" nicht mehr die Rede sein kann, auch die Rede vom "innen" ihren Sinn verliert. Entsprechend wäre es auch falsch, davon zu reden, daß etwa das Bewußtsein nach außen gekehrt und dadurch "verdinglicht" werde.

Auch für das zweite, die Aufhebung der Grenze zwischen individuellem und anderem individuellem sowie eventuellem übergreifendem Kollektivbewußtsein gab das Berkeleysche Argument wesentliche Stützen. Ersichtlich bezieht sich die Rede von "anderem Bewußtsein" oder von "übergreifendem Bewußtsein" auf körperlich in der angeblichen Außenwelt lokalisiertes Bewußtsein. Ist nun aber alle sinnliche Körpererfahrung selbst nur ein Bewußtseinsphänomen, so muß es erst recht jede daraus erschlossene Erfahrung über fremdes Bewußtsein sein. In der Tat spricht alles dafür, daß sich das Bewußtsein überhaupt auf diesem Umweg über die gedankliche Erschließung der in der Erfahrung anderer menschlicher Körper bzw. Leiber mitgegebenen Ausdrucksweisen dessen, was als fremdes Bewußtsein angenommen wird, so etwas wie ein Begriff von Bewußtsein überhaupt bildet. Hegel hat das dahin führende Prozedere in seiner "Phänomenologie des Geistes" wohl zutreffend und unüberbietbar scharfsinnig beschrieben. Natürlich stellt sich dann aber die Frage, ob ein auf diesem Wege gebildeter Bewußtseinsbegriff überhaupt auf dasjenige bezogen und angewandt werden kann, was seinerseits alle diese Erfahrungsweisen und Begriffsbildungen erst hervorbringt. Es handelt sich um die Frage nach dem Verhältnis von Selbstbewußtsein und Bewußtsein, nach dem Sinn und der Haltbarkeit dieser Unterscheidung und letztlich um die Frage nach der zweiten Grenze zwischen wie immer gearteten Bewußtseinen überhaupt.

Wie schwierig diese Fragen auch im einzelnen zu beantworten sein werden, so steht doch unter der metaphysischen Prämisse des Idealismus von vornherein fest, daß "alles - und somit auch jede unterscheidbare Art von Bewußtsein - eben Bewußtsein ist". Der Begriff des Bewußtseins fungiert im idealistischen System als oberster Gattungsbegriff – als absolute Kategorie. Mithin wird seine Intension generisches Merkmal aller wissenschaftlichen Begriffe, durch die irgend etwas Beliebiges erfaßt und erklärt werden soll und kann. Aus logischen Gründen wird man zugleich davon ausgehen müssen, daß der Begriff des Bewußtseins selber und mithin auch seine Intension durch gar kein Mittel weiter analysiert und geklärt werden kann.

Hier ist sogleich das evtl. Mißverständnis abzuweisen, eine solche Position sei nichts anderes als der wohlbekannt Panpsychismus. Dieser behauptet: "alles hat Bewußtsein" und setzt dabei voraus, daß ein irgendwie geartetes Sein erst einmal vorausgesetzt werden kann und muß, dem man dann zusätzlich eine Eigenschaft, Bewußtsein genannt, zuschreiben kann. Das Axiom des Idealismus aber lautet: "alles ist Bewußtsein". Und das heißt in erster Linie, daß alles, was als bestimmtes Seiendes namhaft gemacht werden kann, grundsätzlich nur in der Weise gegeben ist, daß es sich als Bewußtseinsphänomen ausweist.

Als metaphysisches Prinzip schlägt das idealistische Axiom natürlich auf die Ontologie durch. Alles, was man sonst Sein, Wirklichkeit, Realität, ja auch evtl. Nichts nennt, und ebenso die sog. primären Bestimmungen der Realität wie Raum und Zeit, das alles muß entsprechend als Bewußtsein gedeutet und abgeleitet werden. Zeigen wir das für zwei Anwendungsgebiete, die in realistischer Perspektive immer wieder gegen den Idealismus schlechthin vorgewiesen werden. Das eine Gebiet ist der Bereich der sog. Tatsachen der Evolution. Man geht davon aus, daß es vor der evolutionären Entstehung von Bewußtsein (bei Lebewesen) materielles physikalisches und chemisches Sein gegeben hat. Wir können hinzufügen und damit den Panpsychismus kritisieren: es gibt dergleichen immer noch, was ersichtlich kein Bewußtsein hat (wenn es auch nur durch Bewußtseinsakte erkannt und erfaßt wird). Das Argument lautet nun: Wenn es eine evolutionäre Realität vor der Entstehung von Bewußtsein gegeben hat, so kann das Bewußtsein nicht das Primäre bzw. Prinzipielle sein, sondern es muß selbst als spätes Evolutionsprodukt abgeleitet und erklärt werden.

Nun ist gegen die Erkenntnisse der Evolutionslehre nicht mehr zu streiten. Sie dürften, wie überhaupt das meiste an geschichtlichen Einsichten, geradezu die sichersten Fundamente für die Erkenntnis des gegenwärtigen Zustandes der Realität abgeben. Daher ist es auch geradezu trivial zu sagen, daß Bewußtsein sich gerade und grundsätzlich durch geschichtliche und somit auch evolutionsgeschichtliche Einsichten über seine eigene Genesis durchsichtig wird, sofern es überhaupt dazu in der Lage ist. Wie aber steht es mit dem Realitätscharakter dieser historischen und somit auch der evolutionären Tatsachen? Ohne weiteres wird man einräumen, daß sie der Vergangenheit angehören. Was vergangen ist, von dem sagt man mit recht, daß es nicht mehr ist bzw. existiert; und dies verhält sich genau spiegelbildlich zu evtl. prognostizierten Fakten der Zukunft, die noch nicht sind. Beide Arten von Tatsachen und Fakten sind bzw. existieren, da sie nicht mehr bzw. noch nicht sind, überhaupt nicht. Genauer: ihre Existenzweise bzw. ihr Sein, wenn sie überhaupt unter diese Begriffe gefaßt werden sollen, muß sich ganz wesentlich von der Existenzweise bzw. vom Sein dessen unterscheiden, was man sonst darunter faßt. Was aber sonst darunter gefaßt wird, das ist sinnlich wahrgenommenes, gegenwärtiges Sein. Auch dies führt wieder zu der Trivialität, daß eben Vergangenheit und Zukunft als zeitliche Dimensionen von zeitlicher Gegenwart zu unterscheiden sind. Aber diese Trivialität ist ernst zu nehmen, und daraus sind Folgerungen zu ziehen. Zunächst dies: Was auch immer Realität gewesen sein mag, das ist dadurch, daß es vergangen ist, eben nicht mehr Realität und kann deswegen seine vorgebliche Priorität gegenüber gegenwärtiger Realität nicht behaupten. Wenn es überhaupt noch so etwas wie Realität besitzt, so entweder deshalb, weil es als eine bewußte Erinnerung existiert und somit Teil bzw. Inhalt von Bewußtsein ist. Oder aber es ist noch immer als dasselbe (evtl. genidentische) Faktum (historisches Dokument) vorhanden, somit nicht vergangen und demnach auch nicht bloß historisches Faktum.

Nun liegt auf der Hand, daß die sog. Tatsachen der Evolution durchweg und definitionsgemäß reine historische Tatsachen sind: Man kann sie in ihrer (mutationellen) Einzigartigkeit in der gegenwärtigen experimentellen Praxis nicht reproduzieren, sonst würde sich die Evolutionsgeschichte beliebig wiederholen lassen. In der Tat sind alle evolutionären Fakten durch Rückschlüsse aus Gegenwartserfahrungen (über das Auftreten von Neuem im Verhältnis zu Vorgegebenem) erschlossen. Man sagt gewöhnlich, sie seien historische Rekonstruktionen. In der Tat wird in aller historischen Rekonstruktion keineswegs etwas Vergangenes wiederhergestellt (wie der Ausdruck suggeriert), sondern es wird gedanklich, bewußt konstruiert. Das nimmt der Gediegenheit und Wahrheit historischer Erkenntnisse nichts von ihrem Wert. Es macht nur darauf aufmerksam, daß ihre Gediegenheit und ihre Wahrheit nicht auf einem vorgeblichen Bezug zu einer irgendwie gearteten Realität beruht, sondern ausschließlich auf ihrer logischen Kohärenz und Umfassendheit, mit der sie Gegenwartserfahrungen in die imaginäre Zeitdimension der Vergangenheit verlängern.

Es ist freilich bei der gegenwärtigen realistisch eingestellten wissenschaftlichen Bewußtseinslage kaum damit zu rechnen, daß diese idealistische Argumentation gegen die vorgebliche Realität des Geschichtlichen und damit der Fakten der Evolution als prioritär gegenüber dem Bewußtsein selber sich leicht verstehen ließe. Alle eingewurzelten Denkgewohnheiten sprechen dagegen, und es erscheint als evident und schlechthin selbstverständlich, daß das sog. geschichtliche Sein als bewußtseinstranszendente Realität geradezu das Maß aller Realität und aller Seinsnotwendigkeit abgebe. Wer aber so denkt, der befindet sich offenbar in der Lage dessen, der einen von ihm unterschriebenen Wechsel (nämlich einen Beweis für die Existenz eines bewußtseinsunabhängigen Seins zu liefern) dadurch einlösen will, daß er ihn auf ein einst stattliches, zum Fälligkeitszeitpunkt aber nicht mehr vorhandenes Guthaben zieht. Daß man damit heute so gut durchkommt, zeigt nur, welcher Art Kredit es ist, der wissenschaftlichen Beweisen gegenwärtig eingeräumt wird.

Das zweite Argumentationsfeld gegen die Priorität von Bewußtsein gegenüber einem bewußtseinsunabhängigen Sein sind die sog. physiologischen und psychiatrischen Tatsachen. Ausgehend von der Voraussetzung, daß Bewußtsein an den lebendigen Körper gebunden und evtl. sogar in einem bestimmten Organ (dem Gehirn und evtl. dem Rückenmark und Nervensystem) lokalisiert ist, wird auch hier die Priorität des physiologisch-leiblichen Substrats gegenüber dem Bewußtsein behauptet. Speziell sind es dabei die schon recht weit fortgeschrittenen Erkenntnisse über die sog. Lokalisation einzelner Bewußtseinsleistungen in verschiedenen Teilen des Gehirns, die diese These plausibel machen. Offensichtlich hängen viele wohlunterscheidbare Bewußtseinsleistungen von der physiologischen Funktionstüchtigkeit solcher Gehirnzonen ab. Man beobachtet bei Beschädigungen oder dem Verlust bestimmter Gehirnzonen den Ausfall der betreffenden Bewußtseinsleistungen; z. B. bestimmter Weisen der Sprachverfügung, des Gedächtnisses, der Koordination der Glieder, der Raum- und Zeitorientierung und nicht zuletzt bestimmter sinnlicher Wahrnehmungen. Und diese mehr oder weniger umfangreichen Reduktionen der Bewußtseinsfunktionen entsprechend mehr oder weniger starken Läsionen des leiblichen Organs sind dann allemal ein Argument für die Annahme, daß der physiologische Tod des ganzen Organismus auch den Untergang des jeweiligen Bewußtseins bedingt.

Gegen diese Befunde ist ebenfalls nicht zu streiten. Und es ist auch nicht stichhaltig, gemäß gewissen neuplatonischen Bewußtseins- und Unsterblichkeitsauffassungen davon auszugehen, daß beim physiologischen Tod eines Organismus das zugehörige Bewußtsein in eine Art von Minimalreduktion der Bewußtseinsaktivität verfalle - man denkt dabei gewöhnlich an eine Art Ohnmacht oder Tiefschlaf. Ein Ohnmachtsanfall oder das Versinken in einen Schlaf mag vielleicht dem subjektiven Erleben des Sterbens entsprechen, ja diese Bewußtseinserscheinungen mögen gar identisch sein. Ersichtlich hat man aber noch nie ein totes Wesen aus einer "Ohnmacht" oder einem "Schlafe" erwachen gesehen, allenfalls mag man sich gelegentlich darüber getäuscht haben, ob ein Organismus tatsächlich tot war, der wieder ins Leben zurückkehrte.

Wohl aber ist die kritische Sonde an den organischen Befunden selber anzusetzen. Ersichtlich sind sie sämtlich immer wieder zu machende Gegenwartserfahrungen eines beobachtenden Bewußtseins des Außenstehenden, etwa des Psychiaters. Und was auch immer hierbei beobachtet werden kann, ist gewiß nicht selber Bewußtsein, sondern es ist das, was man mit jedem Recht für seine organischen Bedingungen halten kann. In und während der Beobachtung dieser physischen Gegebenheiten aber ist das Bewußtsein des Beobachters selber tätig, und ohne diese Bedingung würde überhaupt nicht und somit auch nichts beobachtet. Man muß dieser Trivialität wiederum allergrößte Bedeutung zumessen. Sie bestätigt die Wahrheit des Berkeleyschen Prinzips des "esse est percipi". Was als organische Bedingung von Bewußtsein beobachtet wird, erweist sich somit selber als durch Bewußtseinstätigkeit (des Beobachters) bedingt.

Auch hier muß wieder dem realistischen Einwand begegnet werden, der organische Befund der Beobachtung existiere und bleibe "objektive" Realität, auch wenn er nicht beobachtet würde. Und deshalb sei diese objektive Realität prioritär gegenüber dem Bewußtsein. Auch der Idealismus leugnet nicht den Befund, wohl aber deutet er ihn anders als der Realismus, indem er auf die bewußtseinsmäßigen Bedingungen des "Erhaltenbleibens" hinweist. Erhalten bleibt etwas, was beobachtet worden ist, grundsätzlich durch eine Gedächtnisleistung eines Bewußtseins. Man stellt sich zwar vor, "die Sache selbst" habe sich dann wenn sie nicht beobachtet werde, gewissermaßen vom Kontakt mit dem beobachtenden Bewußtsein gelöst oder das Bewußtsein habe sich von der Sache zurückgezogen. Aber eben dies stellt man sich so vor, und dazu bedarf es der Imaginationskraft eines Bewußtseins, das die Erinnerung an beobachtete Sachen festhält und sie in einen weiter beobachteten Sachkontext (als das jenseits des Horizonts der Beobachtung Liegende) einbaut. Die vom Realismus in den Vordergrund gestellte Überzeugtheit vom Erhaltenbleiben und der selbständigen Existenz der von jedem Bewußtseinszugriff getrennten Sache beruht ersichtlich auf einem Glauben, der nur als Widerspruch formuliert werden kann: Es ist der Glaube, daß es etwas (oder vielmehr eine ganze reale Welt) gibt, das kein Bewußtsein wahrnimmt, das in Erinnerungen abgebildet und gegebenenfalls in "Protensionen" oder Voraussagen über sein künftiges Wiedererscheinen vorausgewußt werden könne. Der Widerspruch liegt darin, daß das Nichtwahrgenommene, Erinnernd-Abgebildete und evtl. Erwartete unabhängig von Bewußtsein sein soll, zugleich aber doch durch diese Bewußtseinsleistungen überhaupt gegenständlich sein kann. Wie in jedem Widerspruch liegt darin eine wahre und eine falsche Einsicht: falsch ist, daß derartiges unabhängig von Bewußtsein sei, wahr ist, daß es von diesen Bewußtseinsleistungen abhängt. Vorsichtigere Realisten reden in diesem Falle gerne davon, daß die Existenzweise solcher Objekte eine "Möglichkeit" sei. Aber die Modalontologie der Möglichkeiten beruht, wie in der Logik gezeigt wurde, selber auf dem im Begriff der Möglichkeit zusammengezogenen Sein und Nichtsein zugleich einer Sache.

Gilt dieses allgemein, so gilt es insbesondere von den somatisch-physiologischen Befunden, die die Bewußtseinstätigkeit bedingen sollen. Was hier beobachtet werden kann, unterliegt ebenfalls dem Berkeleyschen "esse est percipi". Da mag ein individuelles Bewußtsein sogar mit Hilfe der technischen Instrumente seine eigenleiblichen Gehirnströme beobachten. In der Regel aber wird die eigenleibliche Physiologie jenseits der individuellen Beobachtungsfähigkeit liegen.

Wie man sieht, geben die hierbei vorausgesetzten Prinzipien des Realismus oder des Idealismus Anlaß, nun auf das Verhältnis von Physis und Bewußtsein die Kategorien von Ursache und Wirkung anzuwenden und je nach der metaphysischen Sicht die Physis zur Ursache des Bewußtseins oder umgekehrt zu machen. Die sog. Wechselwirkungstheorie, die vielleicht von den meisten Theoretikern - so auch Popper und Eccles in: "Das Ich und sein Gehirn" (München 1982, Originalausg.: The Self and Its Brain - An Argument for Interactionism, Heidelberg, Berlin, London, New York 1977) - vertreten wird, verdankt sich dabei wohl hauptsächlich einem unentschiedenen Schwanken zwischen beiden Positionen.

Allerdings wird man bei näherem Hinsehen auf die Argumentationsweisen der Wechselwirkungstheoretiker oft feststellen, daß die hier vielfach benutzte Rede von den "Bedingungen" keineswegs ein Ursache-Wirkungsverhältnis ausdrückt, sondern nur eine Korrelation notwendig zugleich und nebeneinander zu beobachtender Fakten. Hier scheint überall ein von Kant eingeführter Sprachgebrauch bezüglich der "Gemeinschaft" von Phänomenen als "Wechselwirkung" vorzuliegen. In der Tat handelt es sich dabei aber logisch um schlichte Korrelationen. Deswegen sind viele vorgebliche Wechselwirkungstheorien eigentlich Theorien eines psycho-physischen Parallelismus, wie auch im Falle von Popper und Eccles.

Und dies kann auch aus logischen Gründen nicht anders sein. Denn echte Wechselwirkungstheorien müßten zwischen Ursache und Wirkung ein als gemeinsame Gattung für ein Substrat der Wechselwirkung namhaft zu machendes tertium comparationis vorweisen. Was sollte dies aber zwischen oder jenseits von Organisch-Materiellem und Bewußtsein sein? Es bleibt hier nur der Ausweg, entweder Bewußtsein, wie der Idealismus, oder materielles Sein, wie der Realismus, als tertium comparationis und mithin als gemeinsame Gattung anzusetzen. Dann aber spielt alle Kausalität zwischen Bestandteilen materiellen Seins, und sie kann niemals von der einen Sphäre in die andere übergreifen. Dies spricht jedenfalls dafür, daß mit der Kausalrelation bezüglich der physischen und psychischen Befunde nichts auszurichten ist. Wir werden anschließend daraus noch einige Folgerungen für das Problem Freiheit - Notwendigkeit zu ziehen haben.

Neben der zum Scheitern verurteilten Wechse1wirkungstheorie und der Theorie des psycho-physischen Parallelismus, gegen deren logische Bewältigung der Befunde nichts einzuwenden ist, ist seit Spinoza immer wieder auch ein dritter Weg, der der sog. psycho-physischen Identität versucht worden. Ihr mangelt es gegenwärtig noch an konsequenter Ausarbeitung. Diese Ausarbeitung muß zeigen, wie eine solche Identität zwischen so Verschiedenem, wie es eben physische und psychische Befunde sind, gedacht werden kann und letzten Endes, worin sie faktisch besteht. Sie muß insofern vermeiden, "mystisch" zu werden und sich auf Instanzen zu berufen, die für keinerlei Erfahrung mehr zugänglich sind.

Nun gibt es offenbar eine Klasse psychischer Phänomene, die durchaus geeignet sind, diese Rolle des Identischen von und zwischen sog. Psychischem und Physischem zu spielen. Sie sind bisher außerordentlich schwierig zu analysieren, und zwar wohl gerade wegen ihrer Nähe zum Prinzip einer logisch konsistenten Theoriebildung über das Bewußtsein und die Wirklichkeit schlechthin. Wir meinen die Phänomene des Schmerzes und der Lust. In ihnen, so könnte man sagen, konzentriert sich Bewußtsein in die organischen Bestandteile des Leibes hinein, und umgekehrt wird Leibliches ganz und gar bewußt.

Dies ist näher zu analysieren, soll es als Demonstrationsfeld für eine Identität von Bewußtsein und organischem Leib geeignet sein. Stellen wir auch diese Analyse unter das Prinzip des "esse est percipi". Man wird dann Schmerz- und Lustempfindungen als eine Art von Wahrnehmung deuten, bei der die von Berkeley behauptete Identität von Wahrnehmung und Wahrgenommenem nur besonders exemplarisch ist. Hier findet sich im Unterschied zur sonstigen sinnlichen Wahrnehmung kein besonderes Wahrnehmungsorgan. Und zwar deshalb, weil der ganze Leib bei solchen Empfindungen zum Wahrnehmungsorgan wird. Darauf beruht die seltsame Dialektik, in die man verfällt, wenn man Lust- oder Schmerzempfindung beschreiben will: Die Wollust oder der Schmerz "sitzt" zwar in einem bestimmten Körperteil, aber sie werden mit dem ganzen restlichen Leib erfahren, und somit sitzen sie wiederum auch nicht in einem bestimmten Körperteil.

Zugleich wird man mit den Physiologen behaupten, sie säßen organisch in den wohlbekannten Schmerz- und Lustzentren des Gehirns, deren Funktionsausfall sie auch verschwinden lassen, und mit den Psychologen wird man sagen dürfen, sie würden gerade nicht im Kopf gespürt und empfunden, sondern eben an den Schmerz- und Lustzonen des Leibes. Diesen Lokalisierungen ist durch die übliche Deutung der Schmerz- und Lustphänomene logisch nicht beizukommen, was anzeigt, daß die Deutung falsch sein muß.

Gehen wir aber davon aus, daß Schmerz und Lustempfindung nichts anderes sind als die Leibwahrnehmung des Bewußtseins, bei der gemäß dem Prinzip des "esse est percipi" das Wahrgenommene mit dem Wahrnehmenden identisch ist, so dürfte sich die Dialektik bzw. die Widersprüchlichkeit der Lokalisierung auflösen lassen. Man muß dann sagen, daß Schmerz- und Lustwahrnehmungen überhaupt nicht im Sinne der anatomischen Topologie lokalisieren, sie gehen vielmehr vollständig in diesem Schmerz oder dieser Lust auf. Erst eine zusätzliche sinnliche Wahrnehmung und Beobachtung und überhaupt anatomisch-physiologisches Wissen kann dann den Schmerz oder die Lustempfindung an einer bestimmten Körperstelle lokalisieren. Daß dies so sein muß, erkennt man an Extremfällen: der rasende Schmerz, der das Bewußtsein, wie man sagt, gänzlich ausfüllt und gewissermaßen keinen anderen Gedanken mehr fassen läßt, füllt auch den ganzen Leib und läßt die Grenzen zwischen ihm und der Umwelt selber undeutlich werden oder gar verschwinden. Und ebenso die höchste Lust. In minderen oder habituell gewordenen Fällen schmerzlicher oder lustvoller Stimmung überträgt sich das Gefühl dann bekanntlich ebenso auf die sinnlichen Wahrnehmungen der sog. Außenwelt. Die sinnliche Wahrnehmung tönt sich selber schmerzlich oder lustvoll. Und dies wiederum gibt der philosophischen Spekulation Anlaß zur Ausbildung pessimistischer oder optimistischer Weltbilder.

 

§ 22. Schlaf, Traum, Ohnmacht

Aus dem Gedanken der psycho-physischen Identität läßt sich wohl auch noch zwanglos weiteres erklären, was der Deutung in den anderen Theorien größte Schwierigkeit bereitet. Wir meinen das Phänomen des Schlafes und des Traumes. Konzentriert sich das Bewußtsein in Fällen des Schmerzes und der Lust in seiner Wahrnehmungstätigkeit auf den Leib bzw. Leibteile, so läßt sich leicht vorstellen, daß es sich beim Einschlafen allmählich aus der sinnlichen Wahrnehmungstätigkeit über die Umwelt gleichsam zurückzieht. Sind die Wahrnehmungsorgane aber untätig, so setzt die gesamtorganische Wahrnehmungstätigkeit bezüglich der Leibzustände ein bzw. sie wird von den Überdeckungen der sinnlichen Wachwahrnehmungen befreit und bringt sich als einzige Bewußtseinstätigkeit zur Geltung. Man konzentriert sich nunmehr auf die Wahrnehmungstätigkeit bezüglich der Leibzustände, zu denen natürlich schmerzhafte oder lustvolle Funktionalität oder Dysfunktionalität und ihre nervöse cerebrale "Meldungsanlage" gehören, ebenso die Abspeicherungen der sinnlichen Wahrnehmungen wie erst recht auch das "Zukunftsgedächtnis", nämlich Abspeicherungen sog. Willensregungen und Verhaltensplanungen. Sie alle bilden im Traum das Material der "phantastischsten" Verknüpfungen, die ihrerseits wiederum gedächtnismäßig abgespeichert werden und dann als solche in den Wachzustand überführt werden können.

Nach allen Ergebnissen der Traumforschung bildet aber der Traum nur eine Durchgangsphase zum traumlosen Tiefschlaf, die sowohl beim Einschlafen wie auch beim Erwachen durchlaufen wird. Man wird also annehmen müssen, daß sich die Bewußtseinstätigkeit auch noch aus der "kontrollierenden" Wahrnehmung der nervösen und cerebralen Meldungsanlage der Leibzustände zurückziehen kann. Dieser Zustand ist negativ durch den Ausfall des Gedächtnisses charakterisiert. Aber diese Tatsache dürfte nicht dazu berechtigen, nunmehr vom Ausfall des Bewußtseins selber, gewissermaßen seinem "Abschalten" zu sprechen. Es wäre schwierig zu erklären, wie und wodurch es wieder "angeschaltet" werden könnte. Überdies ist die Unterscheidung zwischen Traumphasen und traumlosem Tiefschlaf nur aus äußeren Beobachtungen über unruhiges und ruhiges bzw. gleichsam lebloses Verhalten des Schläfers erschlossen, so daß es allemal eine Hypothese bleibt, in welcher Phase und ob überhaupt in solchen Phasen geträumt wird.

Auf jeden Fall dürfte es guten Sinn machen, auf Grund der Identitätsthese anzunehmen, daß das Bewußtsein sich in solchen von außen als "Leblosigkeit" darbietenden Zuständen eines lebendigen Leibes gänzlich mit seinen organischen Funktionen identifiziert, so daß kein Teil des Leibes mehr für andere Teile (wie etwa im Schmerz, in der Lust oder im Traum) zum Wahrnehmungsorgan, somit auch nicht das Gedächtnis zum Speicherungsorgan für solche Wahrnehmungen wird. Dafür scheint umso mehr der gesamte Leib zu einem empfindlichen Sensorium für seine Umwelt zu werden. Auf sie reagiert der Organismus mit seinem nun gleichsam ganz organisch gewordenen Bewußtsein weiter: Der Schlafende wendet sich in bequeme Lagen, er entblößt oder bedeckt sich, ja es scheint, daß er gegen Störungen, die über die spezifischen Sinnesorgane wahrgenommen werden, bis zu einem gewissen Grade mit Trauminszenierungen reagiert, die die Wahrnehmung in einen Erinnerungskontext so einbaut, daß entweder weitergeschlafen oder plötzlich aufgewacht wird.

Weiter erscheint es auf der Basis der Identitätsthese nicht so erstaunlich und rätselhaft, daß ein schlafender Organismus außer durch Träume auch durch sichtbares Verhalten auf Umwelteinflüsse reagiert, das dem Handeln im Wachzustand oftmals täuschend ähnlich sieht. Da wird auf Ansprache gelegentlich auf lange Strecken recht sinnvoll geredet oder etwa ein längerer Handlungszusammenhang in vertrauter Umgebung (z.B. Aufstehen, ein Glas Wasser abfüllen und austrinken u.a.) ausgeführt. Wahrscheinlich hält man manchen Schlafwandler deshalb für wach, obwohl er es nicht ist. Das schlafende Bewußtsein ist ersichtlich keineswegs ein Nichtbewußtsein oder etwas Unbewußtes, wie es ja auch nicht überall auf der Welt selbstverständlich ist, daß man sich zum Schlafen an einen ruhigen Ort zurückzieht. Trance- und Hypnosezustände scheinen sich überhaupt einer kulturell stilisierbaren Schlaftechnik zu verdanken.

Ein weiteres Phänomen beim Schlaf und bei der sog. Ohnmacht wird gewöhnlich übersehen oder falsch eingeschätzt. Man deutet die dabei stattfindende manifeste Unterbrechung der Bewußtseinstätigkeit in negativen Begriffen, spricht von einem Zustand ohne Bewußtsein oder von Bewußtlosigkeit. Und will man dies doch positiv fassen, so benutzt man den dialektischen Begriff des Unbewußten als Lückenbüßer. Das Unbewußte soll ja eine Bewußtseinstätigkeit kennzeichnen, die zugleich keine bewußte Tätigkeit ist, es soll sich um nichtbewußtes Bewußtsein handeln.

Woher nimmt nun aber das Bewußtsein seine negativen Begriffe und besonders den Begriff des Nichts selber? Diese Frage wirft eines der zentralen metaphysischen, ontologischen und auch logischen Probleme auf. Es muß in idealistischer Perspektive auch von einer Bewußtseinserfahrung her gelöst werden. Wenn aber gelten soll: "alles ist Bewußtsein", so muß auch alles, was sich durch negative Begriffe erfassen läßt, und auch das, was man gemeinhin das Nichts nennt (wenn überhaupt davon sinnvoll geredet werden kann), in dieses "alles" einfügen, was als Bewußtsein ausgewiesen wird. Ersichtlich ist das auch der Fall. In der Dunkelheit nichts zu sehen und in der Stille nichts zu hören, ist sicher eine alltäglich zu machende Erfahrung. Und man setzt dabei voraus, daß man dabei sehr bewußt und angestrengt ausschauen oder hinhorchen kann. Nur weil dabei eine bewußte Sinnestätigkeit ausgeübt wird, wird man den Gegenstand solchen Schauens und Horchens nicht geradezu Nichts nennen, sondern nur negativ sagen, es werde nichts Bestimmtes gesehen oder gehört. Aber auch dabei deutet sich eine Dialektik an, die ein Problem anzeigt: Man sieht und sieht zugleich nicht, man horcht und hört zugleich nicht. Undialektisch und mithin logisch wäre aber zusagen: Man sieht und hört Nichts. Und eben dies und nichts anderes kann sinnvollerweise Nichts genannt werden.

Hat man nun auf solche Weise Nichts gesehen oder gehört und somit das Nichts sinnlich erfahren, so wird diese Erfahrung auch ein positiver Inhalt des Gedächtnisses dieser Erfahrung. Es ist ein positives Glied in der Kette von Erfahrungen überhaupt und dient dem Bewußtsein dazu, seine eigene Kontinuität aufrecht zu erhalten.

Dies läßt sich leicht beim Erwachen aus dem Schlafe konstatieren. Hat man geträumt und erinnert sich daran, so weiß man doch zugleich und zuverlässig, daß das Traumerleben nicht das war, was man sonst im Wachzustand erlebt. Der Traum hebt sich im normalen Falle gleichsam automatisch als das Negative zum sonstigen positiven Wacherlebnis ab. Und erwacht man aus traumlosem Tiefschlaf (was nur heißen kann, daß man keine Erinnerung an einen Traum zurückbehält), so kennzeichnet sich die Lücke ebenso automatisch als die Erfahrung des Nichts im Kontinuum der positiven Wacherfahrungen. Man weiß gewöhnlich sofort und ohne Orientierungsschwierigkeiten, wo man sich befindet. Und ersichtlich dient das Nichts-Intervall der Schlaferfahrung sofort auch dazu, etwa die Veränderung von der Dunkelheit am Abend zu Helligkeit am Morgen zu erklären. Ob es sich beim "Erwachen" aus einer Ohnmacht ebenso verhält, bliebe genauer zu untersuchen. Vieles scheint dafür zu sprechen, sofern jemand während eines Ohnmachtsanfalls nicht an einen anderen Ort gebracht wird, denn dadurch kommt natürlich eine Desorientierung zustande.

Diese Erfahrungen des Nichts im Schlafe oder in der sog. Bewußtlosigkeit sind nun im Spiel des Bewußtseins wie Joker. Sie haben die Funktion von Platzhaltern für diejenigen Erfahrungen, die jeweils andere Bewußtseine gemacht haben. Man entnimmt aus der Morgenzeitung oder dem Radiobericht, was sich in der Nacht, da man schlief, ereignet hat. Und entsprechend muß man sich von anderen sagen lassen, was geschah, während man ohnmächtig war. Dasselbe aber findet offensichtlich auch statt, wenn man seine jeweils eigenen Erfahrungen mit denjenigen anderer abstimmt. Man weiß ja genau, daß man das, was andere erlebt haben und was "hinter unserem Horizont" in der Ferne liegt und was man daher von anderen lernend übernimmt, gerade nicht selber erfahren hat. Es tritt freilich nicht an die Stelle der Erfahrung des Nichts (des tiefen Schlafes oder der Ohnmacht), sondern es wird mit den eigenen Erfahrungen verschmolzen, und daher erscheint es so, als seien sie durchweg positive eigene Erfahrungen.

 

§ 23. Das sog. Unbewußte und die Erinnerung

Wenn "alles Bewußtsein" ist, so kann es 1ogischer Weise kein Unbewußtes geben. In der Tat ist der Begriff des Unbewußten ein exemplarisch widerspruchsvoller Begriff. Er vereinigt in sich den Begriff des Bewußten und zugleich seine Negation. Wie in allen Widersprüchen liegt freilich auch darin - wie in der Logik gezeigt wurde - eine Wahrheit und eine Falschheit! Der Widerspruch in terminis oder in Urteilen ist keineswegs etwas schlechthin Falsches. Es ist natürlich wahr, daß es Bewußtsein gibt. Und daher muß es falsch sein, daß es Unbewußtes oder Nicht-Bewußtes gibt. Schaut man sich an, was von den Propagatoren des Unbewußten - von Platon über Leibniz bis Herbart, v. Hartmann und Freud - für unbewußt gehalten wird, so ist es auch ganz schlicht alles das, was diese Theoretiker selber ganz gut wissen und als ihr Bewußtsein ausweisen: Es sind die "Ideen" bei Platon in ihrem Zustand des Vergessenseins oder der (Noch-) Nichterinnerung (Aber Platon kannte sie schon!); es sind die dunklen Strebungen, Appetite, Triebe bei Leibniz (als ob nicht jeder wüßte, daß er auch solche hat!); und es ist die ausgewählte griechische Mythologie, die man wohl im Wien seiner Tage im Gegensatz zur purgierten Mythologie ad usum delphini unter der Schulbank las, bei Freud. Bei Herbart war es eine physikalische Dynamik, bei v. Hartmann die ganze Natur. Und alles dies zusammen ist in der neueren Psychoanalyse zusammengefaßt und durcheinandergewürfelt worden. Nur Mangel an Konsequenz und Ausarbeitung hat bisher verhindert, daß man einsähe, daß nach dieser Auffassung das sog. Unbewußte alles das umfaßt, was nicht direkt und unmittelbar in einem individuellen Bewußtsein bewußt ist, sondern je nach der Situation gerade im Bewußtsein eines anderen. Der Begriff des Unbewußten hat seine Pointe nun gerade darin, daß er alles dies, was gerade nicht in einem individuellen Bewußtsein bewußt ist, genau demselben individuellen Bewußtsein ebenfalls zurechnet, es in ihm voraussetzt. Die Lehren vom Unbewußten sind daher in erster Linie Lehren von der Intersubjektivität des Bewußtseins. Sie deuten und erklären die Inhalte eines Einzelbewußtseins aus den Inhalten eines oder aller anderen Bewußtseine. Das sog. Bewußtmachen dessen, was einem individuellen Bewußtsein angeblich unbewußt ist, in den Tiefen des Unbewußten schlummert und nur aktiviert zu werden braucht, ist allemal ein pädagogischer oder didaktischer Prozeß. Platon führte das in seinem Dialog "Menon" vor, als er den ungebildeten Sklaven durch geschickte Fragen zu mathematischen Einsichten gelangen ließ. Dabei sollte es um die angeblich "eingeborenen Ideen" gehen. Diese sind seitdem das Modell aller "unbewußten Bewußtseinsinhalte" geblieben. Die große Alternative zu dieser Ansicht ist die Aristotelisch-nominalistische: daß nichts im Bewußtsein ist, was nicht durch sinnliche Erfahrung hineingekommen ist. Auch die Vermittlung sog. theoretischer Einsichten ist dabei auf die Verwendung und auf das Anknüpfen an sinnliche Bilder der jeweils individuellen Erfahrung angewiesen.

Die Theorien des Unbewußten sind insgesamt moderne Fortschreibungen neuplatonischer Auffassungen von Geistern und Dämonen, die das Seelenleben von innen her regieren und in ihrem normalen Verlauf stören und so Sünde, Laster, Schuld und Geisteskrankheiten mit ihren Denkverwirrungen verursachen sollten. Wissenschaftstheoretisch haben sie den Status von Theorien über unbeobachtbare Parameter: die okkulten Qualitäten der mittelalterlichen Naturwissenschaft, die sich selber in den "unbeobachtbaren Parametern" der modernen Naturwissenschaft fortschreiben. Hierbei wird etwas vorausgesetzt, was es gibt, aber was man niemals erfassen, dingfest machen, beobachten oder messen kann. Und dieses, was nicht erfaßbar, wahrnehmbar, meßbar und somit jede Definition von "Nichts" erfüllend angenommen wird, gilt dann zugleich als das Allerrealste, als das Fundamentale, was alles Beobachtbare erst bestimmen und determinieren soll. Es ist das eigentliche "Ding an sich", von dem manifestes Bewußtsein nur die "Erscheinung" sein soll. Und wiederum ist es zugleich dasjenige, was nur ein denkendes Bewußtsein als Grund und Ursache für manifestes Bewußtsein, also auch das Denken selber, denken kann.

Will man aus diesen Nebeln dialektischer Widersprüche heraustreten, so muß man alles das, was an Wahrheiten in ihnen steckt, zusammenfassen und das, was ihre falsche Seite bildet, beiseite lassen.

Es ist bekannt genug, daß die modernen psychoanalytischen Theorien vom Unbewußten im Bereich der psychiatrischen Forschungen durch den Seelenarzt Freud entwickelt wurden. Hier stand die Aufgabe an, das pathologische Seelenleben und Bewußtsein zu erklären. Zur Diagnose von Pathologien gehört im ärztlichen Bereich die Anamnese ihrer Genesis. Anamnese ist exemplarische Erinnerungsleistung. Gerade diese aber erwies sich bei solchen Pathologien als "gestört", und dies natürlich gemessen im Vergleich mit dem, was der behandelnde Arzt für eine gesunde und normale Erinnerungsleistung hielt.

Pathologien zu erklären setzt nun aber voraus, daß man auch den sog. normalen Ablauf erklären kann. Und davon ist man im Falle der Erinnerung weit entfernt. Hier hindern vor allem jahrhundertealte Vorurteile über das, was Gegenstand von Erinnerungsleistungen sei, die bessere Einsicht. Durchweg geht man davon aus, Gegenstand des Erinnerns sei das Vergangene, und dies sei eine ontologische Konstante. In traditionellen Ontologien wird das Vergangene als besondere Wirklichkeitsart ausgewiesen und als das Notwendige, was so und nicht anders sein kann, erklärt. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Auffassung vom richtigen bzw. wahren oder normalen und vom falschen bzw. pathologischen Erinnern. Man setzt voraus, Erinnern bilde eine für sich bestehende Realität ab und könne nach dem Wahrheitskriterium der adeaquatio rei et intellectus an dieser überprüft werden. Nun kann davon aber in keiner Weise die Rede sein. Was vergangen ist, das mag einmal Realität gewesen sein. Aber sobald und insofern es vergangen ist, ist es nicht mehr, und darum ist es überhaupt nicht. Es kann mithin auch nicht abgebildet werden. Erinnerungen können daher auch nicht Bilder von etwas sein, sondern sie sind selber urphänomenale Gegebenheit.

Hat nun das Erinnern keinen Gegenstand außerhalb von sich selber, an dem es gemessen und mit dem es auf Korrektheit hin verglichen werden könnte, so bleibt dennoch ein Mittel, das als Kriterium für Zuverlässigkeit bzw. Wahrheit und Unzuverlässigkeit bzw. Erinnerungstäuschung gelten kann: Es ist das erkenntnistheoretische Kriterium der Kohärenz der Erinnerungen untereinander. Aber auch hierbei muß man sich vor irreführenden Modellen hüten. Im allgemeinen stellt man sich die Sache so vor, als sei die kontinuierliche sinnliche Erfahrung des Bewußtseins eine Art ständiger Filmaufnahme, bei der der ganze Film bewußt - oder gar unbewußt - aufgenommener Bilder ins Archiv des Unbewußten gespeichert werde. Bewußtes Erinnern sei dann ein beliebiges Rückspulen dieses Films, so daß man ihn von beliebigen Stellen aus oder im Prinzip sogar von Anfang an wieder durchs Bewußtsein laufen lassen könnte. Man setzt hierbei voraus, jedes individuelle Bewußtsein dokumentiere fort und fort seine eigene ganze Lebensgeschichte - und manche Psychoanalytiker (besonders der Schule von C. G. Jung) meinen sogar, diese Dokumentation reiche über den biologisch-genetischen Zusammenhang sogar in die ganze Menschheits- und Tiergeschichte zurück.

Nun ist aber das sinnliche Gegenwartsbewußtsein kein Filmaufnahmegerät, und das Gedächtnis ist kein Dokumentenarchiv. Die Kohärenz "wahrer" Erinnerungen beruht daher auch keineswegs auf so etwas wie einem ungehinderten Ablauf eines Erinnerungsfilmes, bei dessen "Projektion" jeweils ein bestimmter Ausschnitt ins Bewußtsein träte, während der Rest aus dem Unbewußten herausgezogen und wieder in es hinein zurückentlassen würde. Erinnern ist vielmehr in die sinnliche Wahrnehmungstätigkeit integriert: Man weiß gewöhnlich, während man etwas wahrnimmt, ob und daß man dieses auch sonst schon wahrgenommen hat, daß es dasselbe oder etwas anderes ist als dies schon Bekannte und somit Erinnerte; und ebenso weiß man gewöhnlich genau, was in der sinnlichen Wahrnehmung neu und eben noch nicht wahrgenommen worden ist. Dazu aber sind ständig Erinnerungsleistungen nötig. Dasselbe gilt auch für sog. Denken und Phantasieren: Auch hierbei erinnert man sich mitlaufend, was man schon einmal gedacht, was man sich schon einmal phantastisch ausgemalt hat und wo man dabei neue Wege einschlägt. Daraus kann man schließen, daß auch umgekehrt beim Erinnern selbst eine denkende Kontrolle gleichsam mitläuft, die dem Erinnerten eine nicht in ihm selbst liegende Ordnungsstruktur verleiht: Etwa daß die Abfolge eine zeitlich-chronologische Ordnung sei, daß die Schauplätze so und so benannt werden, daß Personen diese und jene Namen tragen und damit dieselben sind, mit denen wir in unserer Umwelt und Gegenwart zu tun haben. Erst auf dieser Grundlage lassen sich die genannten Kohärenzen innerhalb einer persönlichen Erinnerung aufbauen. Erst recht gilt das für die Gemeinschaftsarbeit des Erinnerns. Sicherheit, daß es sich bei Gedächtnisinhalten um Erinnerungen im strengen Sinne des Wortes handelt, gewinnt man erst im intersubjektiven Erinnern, wie besonders Maurice Halbwachs in seinem Buch "Les cadres sociaux de la mémoire" (Paris 1925, dt. Übers. "Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen", Neuwied 1966) eindringlich gezeigt hat. Alle Geschichtswissenschaft ist nichts anderes als die Institution der intersubjektiven Erinnerung (und selbst sie gelangt in den meisten interessanten Fällen nicht zu kohärenten Meinungen über ihren Gegenstand, obwohl ihre Theoriebildung das Ideal solcher Kohärenz anstrebt).

Gehen nun in die Konstitution von Erinnerungen die "Rahmungen" des Gegenwartsbewußtseins ein, so muß dies sowohl für die für wahr gehaltenen wie auch für falsche, täuschende Erinnerungen gelten. Und ebenso muß dieser Mechanismus erklären, warum man sich an mancherlei gelegentlich oder überhaupt nicht erinnern kann, obwohl man selber sehr wohl weiß - oder es nach dem Zeugnis anderer vorauszusetzen ist -, daß man sich eigentlich erinnern können müßte. Die Theorien vom Unbewußten gehen dabei davon aus, hier sei der Zugriff zu den Inhalten des Unbewußten blockiert oder - bei Täuschungen - es käme dieser Inhalt nur in verzerrter Weise wieder zu manifestem Vorschein. Geht man aber davon aus, daß es Unbewußtes gar nicht geben kann, so muß man sagen, daß angeblich im Unbewußten Blockiertes ober Verschlossenes gar nicht im Bewußtsein ist und daß angeblich Verzerrtes eben auf Grund der Struktur des individuellen Bewußtseins verzerrt wird. Wer demonstrieren will, daß etwas angeblich Unbewußtes blockiert oder verschlossen ist, der muß dieses Unbewußte zugleich bewußt machen - dann ist es nicht unbewußt - und es auch unbewußt halten, damit es unbewußt genannt werden kann. Und wer demonstrieren will, daß etwas aus dem Unbewußten Hervorgeholtes verzerrt bewußt geworden sei, der muß ebenso das Unbewußte mit dem Verzerrten vergleichen können: Alles ersichtlich ganz unlösbare Aufgaben, aber nicht wegen der "Schwierigkeit der Sache", sondern wegen der falschen Auffassung von dem, worum es dabei geht.

Will man nun der Rede vom Unbewußten einen guten Sinn verleihen, so geht das offensichtlich nicht so, daß man es als etwas in den Tiefen des Bewußtseins Abgekapseltes ansieht, das sich gelegentlich öffnen und zugänglich machen läßt, gelegentlich aber auch nicht. Auch eine Terminologie, die es als mögliches, potentielles oder virtuelles Bewußtsein zu fassen sucht, fruchtet wenig, denn in solchen Dispositionsbegriffen - die in der Psychologie sehr verbreitet sind - wird auch nur ein Widerspruch benannt: Das Mögliche oder Potentielle ist die Sache selbst und zugleich auch nicht. Es lassen sich damit allenfalls unsere Verlegenheiten bezüglich des Gemeinten beschreiben und benennen. Nimmt man die Sprache und die Logik ernst, so kann eine Negation eines Begriffs nur ein dunkler Hinweis auf alles dasjenige sein, was gerade nicht das positiv Angesprochene ist: Das Unbewußte als Nichtbewußtes kann ersichtlich nur auf ein individuelles Bewußtsein bezogen werden, und damit kann nur das gemeint sein, was diesem individuellen Bewußtsein nicht bewußt ist, also was es nicht kennt, nicht weiß und an was es sich nicht erinnert. Um von diesem aber sinnvoll zu reden, muß es ein anderes Bewußtsein kennen, wissen oder sich daran erinnern. Somit bezeichnet es nicht mehr und nichts anderes als die Differenz, die im intersubjektiven Verkehr der Bewußtseine untereinander auftritt und die Verschiedenheit der individuellen Bewußtseine begründet.

 

§ 24. Notwendigkeit und Freiheit

Ob der Mensch frei oder in Notwendigkeiten eingebunden ist, ist eine Frage, die die Menschheit seit jeher bewegt hat. Die Extrempositionen sind in der Antike von den Epikureern und den Stoikern entwickelt worden. Für Epikur war Freiheit, Spontaneität, Ursachlosigkeit, Indeterminismus der Grundcharakter aller Wirklichkeit und somit auch des Menschen. Für die Stoa galt das Gegenteil: Der Kosmos insgesamt und somit auch der Mensch sollte einem allgemeinen Kausalgesetz, einem durchgängigen Determinismus, der Notwendigkeit (der Göttin Ananke) unterworfen sein, so daß Freiheit, Ungebundenheit nur als Illusion und Täuschung erscheinen konnte. "Volentem fata ducunt, nolentem trahunt" (Den Willigen geleitet das Geschick, den Widerspenstigen zwingt es.) lautete einer ihrer Kernsprüche. Und so deuteten sie – wohl den Epikureern zuliebe - die wahre Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit, was ihnen nachmals immer wieder nachgesprochen wurde: von Spinoza, von Hegel und auch von vielen dialektischen Marxisten.

Zwischen den Positionen vermittelte Kant und bestimmte mit seinem Lösungsvorschlag bis heute die gängigen Vorstellungen. Es gibt sowohl Freiheit wie auch Notwendigkeit. Aber sie sind auf verschiedene Seinsbereiche verteilt. Die sinnlich wahrnehmbare Natur ist das Reich der Notwendigkeit, und hier gibt es nichts, was nicht durch eherne Kausalitäten in Zusammenhang stünde. Das Geistige oder Intelligible aber ist das Reich der Freiheit und der Spontaneität, der Ursachlosigkeit und des Indeterminismus. Im Menschen aber überschneiden sich beide Bereiche: Mit seinem körperlichen Teil und seinen leiblichen Handlungen unterliegt er kausalen Notwendigkeiten, mit seinem geistigen Teil und besonders seinem Willen aber ist er frei. In beide Bereiche hineingestellt, bestimmt er aus freiem Willen Anfangsglieder von Kausalketten in seiner körperlichen und in der ihn umgebenden Natur. Und nur weil er frei ist, Kausalitäten zu inszenieren, sind sie ihm zurechenbar, wird er verantwortlieh dafür. Ebendarum auch muß er für ein soziales Zusammenleben seine Freiheit beschränken, sich Gesetze geben, die seinem freien Willen eine Form und Richtung verleihen.

Soweit jedenfalls die exoterische Gestalt Kantischer Gedanken über Freiheit und Notwendigkeit. Esoterisch deutend wird man freilich sagen, daß Kant auch die Notwendigkeit der Naturkausalität letzten Endes aus der Freiheit begründet hat. Denn die Natur als Gegenstand der Naturwissenschaft galt ihm grundsätzlich als Naturerscheinung, und diese war ihm nicht unabhängig vom Erkennen und somit vom Tätigsein des geistigen Menschen. Über die Natur als "Ding an sich", so meinte er, könne man gar nichts wissen und sagen, also auch nicht, ob sie deterministisch oder indeterministisch strukturiert sei. Die Frage könne sich daher nur auf die Erkenntnis der Naturerscheinungen beziehen, und hierbei sollte es ja gerade die Pointe der "kopernikanischen Wende" sein, daß sich die Erkenntnis nicht nach der Natur, sondern die Natur nach der Erkenntnis richten sollte. Erkenntnis aber, als geistige Tätigkeit, mußte ebenso wie moralisches und rechtliches Handeln unter Gesetze gestellt werden, die sich nur einer sich selbst beschränkenden Freiheit verdanken konnten. Man muß freilich zugeben, daß Kant diesen Gedanken nur für die "praktische Vernunft" (den Willen) deutlich ausgesprochen hat, im Falle der "theoretischen Vernunft" ergibt er sich durch die Begründung der theoretischen in der praktischen Vernunft.

Seit der Jahrhundertwende ist der epikureisch-stoische Schulstreit in der Physik neu entbrannt. Herrschte bis dahin in der klassischen Mechanik allgemein der stoische Determinismus, allenfalls temperiert durch die Kantische apriorische Erkenntnistheorie, so gaben gewisse Quantenphänomene im mikrophysikalischen Bereich Anlaß, das universal-deterministische Konzept zur Diskussion zu stellen. Man konnte trotz angestrengtester Forschung für diese Phänomene - etwa den Strahlungszerfall einzelner radioaktiver Atome - keine Ursachen entdecken. Es ließ sich nur noch statistisch ermitteln, daß 50 Prozent von Teilchen einer bestimmten Menge solcher Atome in bestimmten Zeiträumen (Halbwertszeit genannt) zerfallen. Die Stoiker unter den Physikern neigten dazu, den Determinismus auch in der Mikrophysik zu exhaurieren, und ihre Devise konnte nur lauten: Weiterforschen, um die Einzelursachen des Atomzerfalls zu finden. Für sie gab es auch keinen Anlaß, die Mikrophysik als Sonderbereich der Physik zu behandeln. Die meisten Physiker aber gingen zum Epikureismus über und nahmen einen "spontanen Zerfall" der Atome an. Das führte sie alsbald dazu, für den gesamten mikrophysikalischen Bereich einen Indeterminismus zu postulieren.

Der physikalische Schulstreit brauchte den Anthropologen nicht zu interessieren, wenn nicht aus der Lage sogleich auch Schlüsse auf die deterministische oder indeterministische Struktur der ganzen Welt einschließlich des Menschen gezogen worden wären. Und da im christlichen Abendland immer ein vordringliches Interesse an der Begründung der Freiheit des Menschen bestand, wurden die neuen mikrophysikalischen Argumente für die Freiheit alsbald weit über Kurs gehandelt. Pascual Jordan entwickelte eine "Verstärkertheorie des Lebens", wonach die lebenden Organismen und der Mensch die mikrophysikalische Spontaneität einzelner Atomvorgänge gleichsam auf die makrophysikalische Ebene projizieren sollten, was ihre eigene Spontaneität und Freiheit beweisen und erklären sollte.

Inzwischen dürfte man sich auf einen Waffenstillstand in der Physik geeinigt haben. Die Epikureer haben sich in der Mikrophysik durchgesetzt und behaupten hier ihren Indeterminismus der Einzelergebnisse. Die Stoiker behaupten noch das Feld der Makrophysik, aber nicht ohne Verluste. Sie haben sich (vielleicht zu schnell) mit den Epikureern darauf geeinigt, alle physikalischen Makrogesetze als statistische Regularitäten großer Phänomenmengen anzusehen, in denen über die mikrophysikalischen Einzelphänomene nichts mehr ausgesagt wird. Dadurch sind die Kausalgesetze zu statistischen Wahrscheinlichkeitsaussagen geworden, die dem Einzelfall seine Freiheit und Spontaneität lassen. Damit gehen sie im gleichen Schritt mit den Soziologen, deren soziologische Gesetze - wenn es sie gibt - ebenso als statistische Hypothesen über große Zahlen, nicht aber über einzelnes Verhalten von Menschen gelten.

Es dürfte auf der Hand liegen, daß aus dieser Lage keine Winke auf eine Lösung des Freiheits- und Notwendigkeitsproblems zu entnehmen sind. Sie verdankt sich ja selber alten, aber entgegengesetzten Lösungsvorschlägen der Epikureer und Stoiker, die zu Kompromißformeln zusammengezogen worden sind.

Wir halten es aber immer noch für aussichtsreich, dem Hinweis Kants zu folgen, daß das Problem von Freiheit und Notwendigkeit ganz wesentlich mit dem Wissen und Erkennen des Menschen zu tun hat. Nimmt man das ernst, so läßt sich denken, daß Notwendigkeit mit sicherem Wissen, Freiheit aber mit Nichtwissen oder Unwissenheit nicht nur zu tun hat, sondern wesentlich darauf beruht.

Seit Aristoteles das eigentliche Wissen (episteme) als ein Wissen um das Warum einer Sache definiert und die Warumfrage in den vier Dimensionen seiner Vier-Ursachen-Lehre zu verfolgen gelehrt hat, gilt genaues und sicheres Wissen als ein Wissen um Gründe und Ursachen der Dinge und Erscheinungen. Von den vier Ursachen des Aristoteles wird man sagen können, daß sie in der Entwicklung abendländischer Wissenschaft in zwei Gruppen aufgespalten worden sind: Die Sach-Ursachen und die theoretischen Gründe bzw. Begründungen. Als Sach-Ursachen gelten die alte causa efficiens (Wirkursache) - die heute fast allgemein als Ursache par excellence angesehen wird - und die causa materialis (materielle Ursache), die das faktische Vorliegen einer Erscheinung überhaupt verbürgen soll. Sie sind in der Neuzeit als einzige Erklärungsursachen der Naturwissenschaften ausgezeichnet worden und bestimmen seither die geläufigen Vorstellungen darüber, was überhaupt als Ursache-Wirkungszusammenhang gelten kann. Die causa finalis (Zweckursache) und die causa formalis (Formen, Ideen, Begriffe) sind aus der Naturwissenschaft hinausgedrängt worden und seitdem die Domäne geisteswissenschaftlicher Zusammenhangsstiftung geworden. Daher gelten auch theoretische Begründungen und begriffliche Ableitungen nicht als kausale Begründungen, obwohl natürlich auch Kausalerklärungen aus den beiden ersten Ursachen gewöhnlich in der Form theoretischer Ableitungen formuliert werden. Das macht das Bild der Lage etwas kompliziert. Insbesondere kumulieren sich die Probleme in der Logik, da sie für Ableitungen, Erklärungen und Begründungen nur eine und dieselbe logische Form zur Verfügung stellt, Kausalerklärungen also nicht als solche formal auszeichnet. Bei dem durch den logischen Positivismus und die analytische Philosophie bei Naturwissenschaftlern verbreiteten Vertrauen auf Logik und mathematischen Kalkül werden dann formale und logische Ableitungen oder Kalkülspielereien allzu leicht mit Kausalerklärungen verwechselt.

Die geschilderte Lage und die dahin führenden Traditionen dürften zunächst deutlich machen, daß Wissen wesentlich als "per causas scire" (durch Ursachen wissen, Francis Bacon) verstanden wird. Und zwar nicht nur so, daß echtes und eigentliches Wissen auf Ursachenkenntnis abzielt, sondern gerade so, daß Wissen erst als eigentliches Wissen gilt, wenn es Ursachenkenntnisse enthält. Dies führt wieder auf den stoischen Standpunkt zurück, daß man auch da, wo man nicht weiß, doch voraussetzt, der Gegenstand des Wissensverlangens müsse jedenfalls kausal strukturiert sein. Es ist nun aber nichts anderes als ein schlichter Widerspruch, über etwas, was man nicht weiß, dennoch gerade wissen zu wollen, daß es eine bestimmte Struktur habe, sei es eine kausale oder nichtkausale. Erst die Erkenntnis der Sache zeigt ja, ob sie kausale Gründe hat. Und findet man keine, so wird man weiter voraussetzen, daß man weiter danach suchen müsse, die Sache insofern also ein Problem bleibe. Mit gleichem Recht wird aber ein moderner Epikureer voraussetzen, daß jede aufgefundene angebliche Kausalität nur eine kontingente Regularität sei und daß, wo man nicht einmal dergleichen finde, eben der reine Zufall und damit Freiheit, Spontaneität und Indeterminismus herrsche. Ersichtlich ergeben sich beide Standpunkte aus dem Widerspruch, daß man über Unbekanntes schon zuvor etwas wissen will und damit darüber zugleich weiß und nicht weiß.

Nun haben die extremen Standpunkte die Tendenz, entweder die Freiheit oder die kausale Notwendigkeit zugunsten des jeweiligen Gegenteils wenn nicht zu leugnen, so doch als Epiphänomen, als Schein oder Illusion zu erklären. Und auch der Kantische Vorschlag der Sphärentrennung, der beiden ihr Recht geben will, ist in der Sphäre des Menschlichen, wo sich beide überschneiden sollen, mit allerhand logischen oder sophistischen Schwierigkeiten belastet.

Will man die Frage, ob und wie Freiheit und Kausalität (als Notwendigkeit) nebeneinander oder gar zugleich durcheinander bestehen können, beantworten, so muß man diesen Weg weiterverfolgen. Gehen wir davon aus, daß es so sei. Die alltägliche und die wissenschaftliche Erfahrung lehrt es genügend: Wir bauen Maschinen, und zwar, weil wir wohlbekannte Kausalitäten benutzen und einsetzen. Wenn sie überhaupt funktionieren, so erzeugen sie mit Notwendigkeit die gewünschten und vorausgesehenen Effekte. Und wir empfinden uns als frei, solche Maschinen zu bauen oder nicht zu bauen, sie zu benutzen oder nicht zu benutzen. Wir verlassen uns auch auf die erkannten Kausalitäten der Natur und setzen sie für unsere frei gewählten Zwecke ein.

Nun bauen wir aber auch Maschinen, die so beschaffen sind, daß sie zwar bestimmte, aber im einzelnen unvoraussehbare Effekte produzieren. Das sind etwa Zufallsgeneratoren. Zu ihnen gehören die Glücksspielautomaten, aber auch der Würfel. Niemand wird sinnvollerweise annehmen, daß es bei ihrem Funktionieren, das ja auf der Einsicht der Konstrukteure in ihre kausalen Ingredienzien beruht, nicht nach strengen Kausalgesetzen zugeht. Man sagt, in ihnen werde das Zusammenspiel kausaler Abläufe so komplex, daß man es nicht mehr übersehen könne. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß durch solche Maschinen die Einsicht und das Wissen in den Kausalzusammenhang zwischen den in ihnen wirksamen Faktoren und dem produzierten Effekt verhindert und ausgeschlossen wird. Dies leistet schon jeder Würfel. Hat man Grund zu der Annahme, er falle überproportional auf eine bestimmte Seite und es schlage somit eine bestimmte Kausalität durch, so wird man ihn für einen untauglichen Würfel, mithin eine mißglückte Glücksmaschine halten.

Nebenbei bemerkt, man wird gut daran tun, auch das institutionelle Arrangement demokratischer Wahlen für eine künstlich hergestellte Zufalls- und Freiheitsmaschinerie zu halten. Solange niemand anders als spekulativ voraussagen kann, wie sie ausgehen, erfüllen sie ihren Zweck und sind die Garantie demokratischer Freiheit. Und das selbst dann, wenn hinterher die Soziologen und Politiker recht genau nachrechnen können, warum sie so oder anders ausgegangen sind, mithin Kausalitäten überprüft werden. Gibt es voraussehbare Mehrheiten und Wahlausgänge, so wird man ob der Freiheit auch in Demokratien Besorgnisse hegen müssen.

Nun ist der Schluß vom kausalen und notwendigen Funktionieren der Maschinen, die die Menschen selbst unter Anwendung kausalen Wissens hergestellt haben, auf die kausale Natur des Weltganzen eine schöne und alle Forschung fruchtbar anleitende Hypothese. Sie hat im 17. und 18. Jahrhundert im Deismus des Uhrmachergottes und in der Auffassung vom mechanischen Weltgebäude ihre größte Verbreitung gehabt, und sie wirkt auch heute nach. Sie bleibt deswegen nicht weniger eine Hypothese, d.h. eine Vermutung über ein Ganzes, von dem man nur Teile kennt. Findet man unter ihrer heuristischen Anleitung weitere Kausalitäten, so wird man dies als Bestätigung auffassen, findet man sie nicht, so wird man weiter danach Ausschau halten, keineswegs aber ein Nichtfinden von Kausalitäten als Widerlegung der Kausalitätshypothese ansehen (daher der angenommene Indeterminismus in der Mikrophysik einen revolutionären Paradigmawechsel darstellt). Die faktische Erweiterung unseres kausalen Erkenntnisbereiches in der Wissenschaftsentwicklung hat ersichtlich der Kausalitätsvermutung bezüglich des Ganzen immer wieder einen Vorrang verschafft und die entgegengesetzte Freiheits- bzw. Indeterminismusvermutung (die epikureische Position) in den Hintergrund gedrängt und dafür sprechende Phänomene als Randerscheinungen oder als ungelöste Probleme erscheinen lassen.

Erst recht wird man daher keinen Gedanken darauf verschwenden, ob und wie weit etwa Freiheit und Indeterminismus - wenn sie sich denn auf der Welt finden - ebenfalls durch das menschliche Wissen und darauf beruhendes Handeln in die Welt kommen, und dies nicht nur im gesellschaftlich-kulturellen Bereich. Man sollte jedenfalls auch die Hypothese ins Auge fassen, daß der sog. Indeterminismus der Mikrophysik sich wohl einem Instrumenten- und Maschinenarrangement der beobachtenden und experimentierenden Wissenschaftler verdanken könnte. Sind nämlich gewisse Instrumente und dadurch vermittelte experimentelle Arrangements Zufallsgeneratoren, so wird man erwarten, daß dadurch Freiheit, Indeterminismus und Spontaneität in der Natur produziert wird, mithin daß sich in diesen "Erkenntnissen" unser Wissen und Nichtwissen gleichsam die Waage hält. Und dann wird man auch die Hypothese ins Auge fassen, daß der gesamte Kosmos als ein Zufallsgenerator funktionieren könnte.

Selbst wenn man nun aber die Hypothese des Indeterminismus ernster nimmt, als es gewöhnlich geschieht, so führt doch moderne realistische Einstellung immer wieder darauf zurück, die Hypothesen totalisierend auf das Ganze einer angeblich objektiv und unabhängig vom erkennenden und wissenden - oder nichtwissenden - Subjekt bestehenden Wirklichkeit zu beziehen. Man geht davon aus, das Ganze von Natur und Welt sei "an sich" eben kausal determiniert oder eben auch nicht, und dies unabhängig vom Wissensstand darüber. In idealistischer Perspektive trennt man aber nicht zwischen Gegenstand der Erkenntnis und Erkenntnis selber. Hier kann man nur sagen: Die Natur oder die Welt ist eben dasjenige, was wir als Natur oder Welt kennen und wie wir sie in kausalen Zusammenhängen oder indeterministischen Faktizitäten - konstruieren.

Damit erhält aber die These, daß Notwendigkeit sich dem Wissen, Freiheit aber dem Nichtwissen verdanke, einen ganz anderen Stellenwert als in der realistischen Erkenntnisperspektive. Die gewußte Welt ist eine Welt der Notwendigkeiten, und dasjenige an der Welt, was wir nicht wissen, ist der Bereich der Freiheit in der Welt.

Gewiß bezieht sich das Nichtwissen nicht auf Nichts, sondern immer auf etwas an der bekannten und gewußten Welt. Es bringt sich dort zur Geltung, wo man Probleme sieht oder hat. In Problemen findet sich immer Wissen und Nichtwissen konfrontiert. Gewöhnlich geschieht es in der Weise, daß konkurrierende Wissensansprüche in sich gegenseitig widersprechender Weise zur Verfügung stehen, von denen man nicht weiß, welche die richtig erklärenden und somit wahren Wissensvorgaben sind. Man kann sie in der Regel leicht auf Alternativen bringen: Es ist etwas der Fall oder nicht der Fall, der Fall ist so beschaffen oder nicht so beschaffen, er hat diese Gründe und Ursachen oder nicht diese Gründe und Ursachen, er wird diese Folgen haben oder nicht diese Folgen haben usw. Die Alternative macht zugleich klar, was man tun müßte, um sich das genaue Wissen zu verschaffen und die Alternative zu lösen. Und das wird man dann auch tunlichst tun, sofern es möglich ist. Dann verschwindet das Problem zugunsten wahren Wissens. Aber der interessante Fall ist immer der, wo man sich dieses Wissen gerade nicht verschaffen kann. Das führt im Falle theoretischer Probleme zumeist an die Grenzen der Forschungslage und bleibt immer Anstoß, weiter zu forschen.

Aber wir wiesen schon darauf hin, daß es selbstgemachte Undurchsichtigkeiten gibt, wie etwa im Falle der Zufallsgeneratoren und vielleicht im wohlverstandenen und wohlpraktizierten demokratischen Freiheitssystem. Ganz entscheidend aber ist das weite Feld der persönlichen Umstände der Ausbildung und des Zugangs zu den Informationsmitteln, auf dem sich Undurchsichtigkeiten ergeben. Hat man hier Probleme, so wird man sich tunlichst von Fachleuten beraten lassen. Guter Rat besteht darin, die alternativen Seiten eines Problems klarzumachen und die eine Seite gegenüber der anderen durch Wissensargumente stark zu machen, mithin die andere Seite zu "widerlegen".

Der gute Rat oder das einschlägige Wissen läßt das Problem verschwinden, sie vernichten aber auch die Freiheit. Wer guten Rat erheischt und ihn vielleicht teuer bezahlt, wird ihm auch folgen, denn dann gibt es keine Freiheit mehr, es anders zu halten. Gewiß kann man Zweifel an der Kompetenz des Ratgebers haben und seine Freiheit, ihm zu folgen oder nicht, bewahren. Aber dann ist auch das Problem nicht gelöst. Man kann auch dadurch seine Freiheit retten, daß man grundsätzlich guten Rat und bessere Einsicht verschmäht und es darauf ankommen läßt, was von selbst geschieht. Damit benutzt man die Situation einer Problematik selbst als Zufallsgenerator. Ersichtlich kommen dem die Institutionen in modernen demokratischen Staaten immer mehr entgegen. Sie zeigen immer mehr eine Tendenz, sich als Zufallsgeneratoren zu etablieren: Die Gesetzgebung durch kompromißlerische vage und kontrovers auslegungsfähige Gesetze, die Exekutive durch Ausnützung dieses gesetzlichen Spielraumes, die Justiz durch wetterwendiges politisches Nachbessern der Gesetzgebung oder durch puren Dezisionismus contra, praeter aut secundum legem, zu welchem die traditionelle dogmatische Hermeneutik der Jurisprudenz reiche Möglichkeiten bietet.

Gewiß handelt es sich bei solchen sozialen und politischen Phänomenen um "notwendige" Begleiterscheinungen freier Gesellschaften und Staaten. Bei Diktaturen und totalitären Gesellschaftssystemen weiß man allemal recht genau, woran man ist, wie das System reagiert, welche "notwendigen" Folgen eigenes und fremdes Tun haben, was man tun und lassen muß, um sich diese Folgen einzuhandeln oder sie zu vermeiden. Und ersichtlich beklagt man deshalb in solchen Systemen Zwang und Unfreiheit und hat Angst vor ihren Determinismen. Von der Seite ihrer Utopisten, Planer und Ideologen werden auch mit Fleiß die ehernen Notwendigkeiten von Natur und geschichtlichen Prozessen, darin eingeschlossen die "Notwendigkeiten der menschlichen Natur", ins Spiel gebracht, propagandistisch und auch technisch genutzt. Und Freiheit heißt dann emphatischerweise "Einsicht in die Notwendigkeiten" dieser Planungen und durchgeführten Maßnahmen.

Man sollte erwarten, daß die Chaotik, Anarchie und Undurchschaubarkeit - zumindest von Teilbereichen, denn ohne Notwendigkeitsinstitutionen geht es nicht - freier Systeme auch ein Bewußtsein davon erzeuge und stärke, was Freiheit letztlich sein kann. Aber wenn es Ansätze dazu gibt, so werden sie durch die hier entstehende Angst vor dieser Undurchschaubarkeit überdeckt. Die praktische Seite theoretischer Probleme (als Undurchschaubarkeiten) ist das Risiko. Es ist nicht von ungefähr ein Begriff aus der Sphäre des Glücksspiels und seiner Freiheiten. In freien Gesellschaften muß es zu einer allgemeinen Kategorie der gesellschaftlichen Lagen und Prozesse, ja der individuellen und kollektiven Existenz selbst werden. Damit zu leben, hält aber der moderne Mensch bei seiner jahrhundertelangen Schulung im Notwendigkeits- und Kausaldenken nicht aus. Und so blüht in allen sog. freien Gesellschaften das Versicherungswesen, das mit seinen statistischen Kenntnissen über Allgemeinheiten und große Zahlen auch dem Einzelnen und individuellen eine "Kalkulation", gleichsam eine magische Bannung des Risikos vorspiegelt. Ersichtlich wird der sich in den fortgeschrittensten freien Staaten anbahnende Zusammenbruch des Versicherungswesens (angesichts der auf der Freiheit von Schuld- und Haftungszuweisungen durch das Justizsystem beruhenden Unkalkulierbarkeit der Großrisiken) die Populationen der freien Welt bald eines besseren belehren. Nämlich darüber, daß der Mensch nicht alles wissen kann, die Freiheit deshalb zu seinem Schicksal gehört.

Der alte und recht mythisch klingende Begriff des Schicksals selbst erweist sich bei dieser Betrachtungsweise als eine durchaus undialektische und angemessene Fassung der Einheit und Durchdrungenheit von Notwendigkeit und Freiheit. Denn einerseits ist ja damit die eherne Notwendigkeit eines Universaldeterminismus, des fatums und der anagke gemeint, denen gegenüber es kein Entrinnen geben soll. Andererseits ist zugleich auch die Undurchschaubarkeit und Unerkennbarkeit dieser Instanz eingeräumt, mithin eine Grenze des Wissens wissentlich zugegeben, die es bedingt, daß man dem Schicksal auch die Attribute der Freiheit, des Spontanen, des Indeterminierten zuteilt: Es "schlägt zu", "ereilt", verteilt "Glück oder Unglück, Heil oder Unheil" und wird damit zum Synonym für alle Kontingenzen, Zu-Fälle und Überraschungen, die uns im Dasein ereilen. Aber so genommen, gehört "Schicksal" immer noch zum Vorstellungsarsenal realistischer Einstellungen zur Wirklichkeit. Es "objektiviert" den Zusammenhang von Wissen und Nichtwissen zu einem Ding an sich, von dem man weiß, daß man nichts darüber weiß, und das verleiht ihm seine Dialektik. Es käme aber alles darauf an, ihm seinen genuinen Ort zuzuweisen, nämlich denjenigen, in bezug auf welchen überhaupt sinnvoll von der Entstehung und vom Haben von Wissen und Nichtwissen gesprochen werden kann: Das ist der einzelne Mensch selber.

Das kann nur heißen: Der Mensch ist sein Schicksal. Und nur darum hat jeder sein eigenes, und es ist auch für jeden einzelnen ein anderes und bestimmtes, was für ihn überhaupt Schicksal bedeuten und heißen kann. Dies muß demnach wesentlich von seiner Bildung und seinem Wissen und mithin von den Grenzen seines und des Wissens überhaupt abhängen.

Worüber ein Mensch in seinem Kreise genau bescheidweiß, darin wird er wohl kaum so etwas wie Schicksalsschläge zu vergegenwärtigen haben. Es trifft ihn außerhalb desselben. Und da alle Menschen sich auch außerhalb dessen bewegen, worüber sie bescheidwissen und bescheidwissen können, so ist reichlich Raum für Schicksalsschläge vorhanden. Das reicht bekanntlich vom Unfall an der Straßenecke, die nicht einsichtig war, über die unversehens aufgeschnappte Infektion, die "Liebe auf den ersten Blick" und den Lottogewinn bis zum Wetter und zu Tschernobyl. Merkwürdigerweise trifft dergleichen immer die einen mehr als andere. Da gibt es die ausgesprochenen Pechvögel, die die unangenehmen Schicksalsschläge ebenso anziehen, wie die Glückspilze die angenehmen. Die Besserwisser haben es im nachhinein gewöhnlich "kommen sehen", und ihnen "passiert so etwas" auch gewöhnlich nicht. Dazwischen stehen diejenigen, die da meinen, "da kann man ohnehin nichts machen", und es darauf ankommen lassen, indem sie sich gegen alles Mögliche versichern. Sie zahlen die hohen Prämien, haben ABS im Auto und womöglich noch einen zweiten Wohnsitz fernab von Raketenstützpunkten und Kernkraftwerken.

Die christliche Version des Schicksalsglaubens ist der Glaube an die göttliche Vorsehung und die göttliche Allmacht. Auch dabei gibt es dieselbe Bandbreite der Einstellungen: Den einen ist das ihnen zufallende Glück und Wohlsein Anzeichen der göttlichen Gnade, den anderen das Unglück göttliche Prüfung; noch andere nehmen alles hin als "göttliche Fügung", und wieder andere "versichern sich" des göttlichen Wohlwollens durch mannigfaltige Opfer und Prämien. Die unchristliche Version ist der Glaube an Sterne, in denen angeblich "geschrieben steht", was jedem einzelnen zustößt. Man kann es nur so schlecht lesen und braucht darum die astrologischen Fachleute und Dolmetscher. Ihr Geschäft blüht heute bekanntlich mehr denn je. Es wäre interessant zu wissen, wie weit das Tun und Lassen moderner Menschen schon effektiv durch ihre teils teueren, teils wohlfeilen Ratschläge und Orakel bestimmt und vereinheitlicht wird. Astrologie ordnet strengem astronomischem Wissen standardisierte Lebensschicksale zu. Sie richtet die Aufmerksamkeit der Menschen darauf, ihre vergangenen Schicksale im Lichte dieser Standardformen zu deuten - und Nichtpassendes zu übersehen oder zu vernachlässigen. Da es immer genügend "Passendes" gibt, erhalten die Korrelationen zwischen astronomischen Daten und Konstellationen einerseits und Lebensereignissen andererseits eine scheinbare Plausibilität. Werden nun die Zuordnungen ins Prognostische - auf die Zukunft hin - gewendet, so gehört schon eine gewisse Portion Nonchalance dazu, nicht auf Situationen, Ereignisse, Schicksalsschläge zu achten, die mit den astrologischen Prognosen zusammenpassen, und all dasjenige überhaupt zu beachten, was keineswegs dazu paßt. Da ereilt denn auch schon einmal den abgebrühten Spötter der vorausgesagte Schlag, wenn er sich plötzlich genau in einer Lage findet, wo ihm solches widerfahren soll. Und weniger Nervenstarke sind ohnehin geneigt, das zu tun, was man ihnen mit gehöriger Autorität in prognostischer Terminologie zu tun gebietet. Noch nie aber hat man davon gehört, daß mittels Astrologie eine Spielbank gesprengt oder Vermögen an der Börse erworben worden seien; und das wäre doch gerade die Nagelprobe auf solche Künste. Hier sind - wie auch sonst - diejenigen Prognosen die sichersten, auf deren Verwirklichung man bestimmenden Einfluß hat: die Insiderinformationen und die Absprachen.

Schauen wir uns den Zusammenhang zwischen Wissen und Nichtwissen im menschlichen Bewußtsein etwas näher an, um damit auch dem Zusammenhang von Notwendigkeit und Freiheit näher auf die Spur zu kommen. Es scheint, daß die Entwicklung der sog. Vermögenslehre bei Platon und Aristoteles - also zwischen Stoikern und Epikureern - unter anderem auch dazu gedient hat, das Problem von Freiheit und Notwendigkeit, das die Stoiker und Epikureer so prinzipiell aufgerissen hatten, einer Lösung näherzubringen. Die Vernunft als Erkenntnisvermögen hat es mit dem Wissen zu tun, und Wissen war dabei wesentlich als "per causas scire", also als Notwendigkeitswissen durch Ursachen, verstanden. Der Wille (bei Platon noch das "Muthafte") war als das Vermögen der Entscheidung konzipiert, also als das, wo Freiheit vorausgesetzt und bewußtseinsmäßig verankert ist. Und wichtig bei dieser Vermögensunterscheidung war in erster Linie, daß die Vernunft nicht will und der Wille nicht weiß, sondern immer das eine Vermögen seine Leistung dem anderen zur Verfügung stellen sollte: Die Vernunft gibt durch ihr Wissen dem Willen die Ziele und Zwecke vor, die gewollt werden können. Der Wille gibt seinerseits durch seine Wahlen und Entscheidungen der Vernunft den Stoff und die Gegenstände vor, die gewußt werden können. Aber dieses saubere Modell einer Gleichgewichtslage dieser Vermögen, das Notwendigkeit und Freiheit in die menschliche Seele, das Bewußtsein hineinverlagerte, wurde in der Geschichte immer wieder im Sinne der Stoiker oder der Epikureer modifiziert: Stoischer Rationalismus gab der Vernunft und der Notwendigkeit den Vorrang und ließ den Willen der Einsicht folgen; epikureischer Voluntarismus gab dem Willen die Priorität und setzte die Vernunft in Abhängigkeit von ihm. Man weiß, wie die "Theologisierung" dieser Bewußtseins- und Vermögenslehre die Gottesvorstellungen ebenfalls rationalistisch oder voluntaristisch prägte und mit ihnen auch die grundsätzlichen Ansichten von der ontologischen Beschaffenheit der Schöpfung. War der Gott ein Willenswesen, so war es auch der Mensch, und die ganze Natur als Schöpfung mußte für die (göttliche wie menschliche) Vernunft letztlich undurchschaubar, unwißbar bleiben. Das bedeutete, daß Freiheit, Spontaneität, Indeterminismus Grundcharakter aller Dinge war - die epikureische These. War der Gott aber ein Vernunftwesen, so auch der Mensch und mit ihm die Schöpfung. Gott und Schöpfung mußten grundsätzlich durchschaubar, wißbar, berechenbar und in alledem notwendig sein - die stoische These. Das christliche Abendland aber hat diese seine großen Gedankentraditionen nicht in der Sprache der Stoa oder der Epikureer reflektiert, sondern in derjenigen Platons und Aristoteles‘. Im Protestantismus wurde augustinisch-neuplatonischer Voluntarismus zur populären Weltanschauung, im Katholizismus nach Thomas von Aquin der aristotelische Rationalismus.

Dies macht fürs erste aber nur erklärlich, warum der Rationalismus und der Voluntarismus - als Irrationalismus - im christlichen Abendland noch immer ideologische Großmächte sind und warum das Problem von Freiheit und Notwendigkeit noch immer in den Begriffen Vernunft und Wille diskutiert wird. Bei dieser Ausgangslage wird das Problem immer Problem bleiben, nämlich eine offene Frage, ob nun Vernunft oder Wille, damit Notwendigkeit oder Freiheit der Grundzug aller Wirklichkeit ist. Die "Zwischenlösung", daß beides ist, aber muß dann als Paradox erscheinen, obwohl sie doch alle Vernunftgründe und jeden guten Willen für sich hat.

Es ist in der Tat auch logisch recht unbefriedigend sich vorzustellen, daß der Wille dadurch frei sein soll, daß er zwischen von der Vernunft vorgegebenen Erkenntnisinhalten wählt. Denn einerseits kommt man dann nicht umhin, auch dem Willen selber wieder ein besonderes Erkenntnisvermögen zu vindizieren, welches das Gewollte abwägt und beurteilt. Kant hat wohl dieser Meinung Vorschub geleistet, als er statt vom Willen von der praktischen Vernunft redete. Andererseits gerät man dadurch in die Lage, die Willenstätigkeit ihrerseits nach Gründen und Motiven zu befragen. Kommt man dabei zu Ergebnissen - und diese können wiederum nur ein Wissen sein -, so wird dadurch in aller Regel die Freiheit des Willens aufgehoben: Sie muß sich als Schein erweisen, denn die vermeintliche Freiheit eines Entschlusses oder einer Wahl erscheint dann als durchaus determiniert durch Gründe. Diesem notwendigen Ergebnis der Willenserforschung zu entgehen, hat sich bekanntlich schon Buridan mit seinem Esel bemüht: Er sah die Freiheit des Willens nur dort gewährleistet, wo sich gleichstarke Gründe und Determinanten gleichsam die Waage halten. Aber dies lief darauf hinaus, den Willen selbst als einen Zufallsgenerator zu behandeln: Ob sein Esel zwischen den gleich großen Heuhaufen verhungert ist oder ob er sich "zufällig" vom einen oder anderen ernährte, ist nicht überliefert.

Sehen wir also lieber zu, was in der Vernunft, im Denken selber vorgeht, wenn Wissen und Nichtwissen zusammen bestehen sollen. Daß dies vorkommt, darüber dürfte kein Zweifel bestehen. Es kommt vor beim Irren, beim Zweifeln, beim Vermuten, Glauben, Wünschen und wohl noch vielen anderen intellektuellen Einstellungen. Der Irrtum z.B. ist zwar immer erst post festum als Nichtwissen zu wissen, aber während man einem Irrtum oder einer Täuschung unterliegt, glaubt man zu wissen und weiß in der Tat doch nicht. Daß man zu wissen glauben kann, aber beruht darauf, daß die Inhalte der Irrtümer eben so sind, wie das Wissen selber. Beim Vermuten weiß man immer nur zum Teil, zum anderen Teil weiß man, daß man nicht weiß. Statistisches Wissen, das in den Wissenschaften eine große Rolle spielt, ist eigentlich Vermuten (deshalb sprechen viele Wissenschaftstheoretiker davon, daß alles wissenschaftliche Wissen nur statistisches "Vermutungswissen" sei - sicher eine falsche These). Man weiß hier in den Extremformen entweder alles über Einzelnes und nichts über das Gesamt, zu dem das Einzelne gehören soll, oder man weiß alles über ein Gesamt, aber nichts über das Einzelne, das zu ihm gehört. Logisch gesehen bedeutet das, daß man bezüglich des Einzelnen alle spezifischen Differenzen kennt, aber nicht weiß, welche Spezifika zugleich generische Merkmale eines zugehörigen Allgemeinen sind; oder daß man zwar die generischen Merkmale eines Allgemeinen kennt, nicht aber die spezifischen Differenzen eines zugehörigen Einzelnen. Beides zusammengezogen oder verschmolzen, führt zur Klasse der Möglichkeitsbegriffe oder sog. Dispositionsbegriffe. Und diese sind wiederum die Grundlage für den Glauben, den Zweifel und das Wünschen.

Dies erklärt von der logischen Seite her, warum wir uns bei allem Umgang mit der Freiheit in sog. Möglichkeiten ergehen. Freiheit und ihre Spielräume werden als Möglichkeiten, als Möglichkeitsräume gedacht und vorgestellt. In der Statistik nennt man sie gewöhnlich direkt Freiheitsgrade eines Phänomens. Man vermutet, glaubt, wünscht gewöhnlich das, was man für möglich hält - denn zu vermuten, zu glauben oder zu wünschen, was man zugleich für unmöglich hält, würde bedeuten, daß man wieder besseres Wissen vermutet, glaubt und wünscht, und das bezeichnet den Bereich der reinen Phantasietätigkeit, die ihrerseits Mögliches mit Unmöglichem vermischt.

Möglichkeiten sind - ontologisch gesprochen - aus Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit gemischt. Dies gilt z.B. für alles Zukünftige. Jedermann hat ein gewisses Wissen über seine ihm gegenwärtige Wirklichkeit. Von der Zukunft weiß man, daß sie in gewisser Hinsicht so ist, wie die Gegenwartswirklichkeit (denn diese bleibt ja auch in Zukunft mit einem gewissen Anteil bestehen), aber zugleich weiß man vom Zukünftigen auch, daß es nicht Gegenwartswirklichkeit ist. Vor allem aber kann man von der Zukunft sagen, daß sie dadurch, daß man über sie gedanklich verfügt, zugleich ist (nämlich gegenwärtiger Gedanke) und auch nicht ist (nämlich erfahrbare Wirklichkeit). Das Zukünftige hat den alten Ontologen immer explizit als der Bereich der Möglichkeiten gegolten (das Vergangene als der Bereich der Notwendigkeiten, das Gegenwärtige als der Bereich der Wirklichkeit i.e.S.). Wenn die Freiheit nun wesentlich mit unseren Möglichkeiten zusammenhängt, so sieht man daran auch zugleich, warum sie auch wesentlich in die Zukunft gerichtet ist: Unsere Freiheitsräume erstrecken sich, wie man sagt, in die Zukunft hinein. Wenn wir von unserer Freiheit Gebrauch machen, wenn wir handeln, planen, etwas wünschen, befehlen, gesetzliche Regelungen treffen oder Normen setzen, so tun wir das wesentlich in die Zukunft hinein und für die Zukunft. Es wäre ja auch geradezu widersinnig, das was schon gegenwärtig ist, durch Handeln, Planen, Wünschen, Befehlen oder gesetzliche Normen herbeiführen zu wollen (obwohl es Versuche zu solchem Widersinn natürlich auch gibt).

Wo steckt nun der Anteil des Nichtwissens in unserem Umgang mit den Möglichkeiten, die unsere Freiheitsspielräume ausmachen? Der Anteil des Wissens besteht darin, daß wir in Möglichkeitsbegriffen etwas denken und vorstellen, was so ist wie erfahrene Wirklichkeit. Zugleich wissen wir, daß das Mögliche nicht diese Wirklichkeit, die wir erfahren haben oder noch erfahren, ist. Wenn wir uns z.B. etwas Bestimmtes wünschen, so können wir das nur mit Bestimmtheit und Klarheit, wenn wir wissen, daß es das Gewünschte gibt, wie es beschaffen ist usw. Und wir wissen insbesondere, daß wir es nicht besitzen bzw. darüber verfügen. Wenn wir etwas Neues planen, so müssen wir es aus Bekanntem (und insofern erprobtem Wirklichen) zusammensetzen. Wenn wir eine Norm setzen, so verallgemeinern wir etwas, was bis dahin nur vereinzelt vorkommt (soll die Norm überhaupt "konkret" und verständlich sein). Was wir dann aber nicht wissen und wissen können, das ist die dann entstehende Konstellation in der Wirklichkeit - und dies zu sagen, ist natürlich trivial, denn wir könnten diese Konstellation nur in der Wirklichkeit selbst erfahren und daher wissen. Solange es sich aber um die Möglichkeiten handelt, handelt es sich insofern nicht um Wirklichkeiten.

Das zeigt, daß der Bereich der Freiheit wesentlich gedanklicher Natur ist, wie auch ein berühmtes Lied zum Ausdruck bringt und wie auch Kant mit Recht betonte. Und unsere Erörterung über den Zusammenhang der Freiheit mit Wissen und Nichtwissen zeigt näher auf, wie seine Topologie beschaffen ist.

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