Teil II: Zur Systematik der Philosophischen Anthropologie

4. Kapitel: Die anthropologischen Grundstandpunkte

Sie schematisieren sich wie in allen Grunddisziplinen nach Idealismen und Realismen. Hier liegt aber eine besondere Pointe darin, daß die Idealismen selber gewöhnlich anthropologisch induziert sind, d.h. das idealistische Prinzip die anthropologische Annahme der Absolutheit und Selbständigkeit des "Subjekts" enthält. Und dieses Subjekt wiederum ist das absolut andere zum "Objekt", welches die Realismen als Absolutes betrachten. Man überzeugt sich leicht, daß sich hierin die geschichtlich aufgewiesenen Tendenzen spiritualistischer bzw. naturalistischer Menschenbilder verfestigt haben, an deren Beginn das platonisch-spiritualistische und das aristotelisch-organische stehen. Mit anderen Worten: idealistische Anthropologien tendieren dahin, den Menschen als reines Geistwesen zu definieren. Dabei legen sie den Schwerpunkt, d.h. sie sehen das Wesen dieses Geistwesens in einem seiner "Vermögen", aus dem sie die anderen Vermögen oder das Ganze erwachsen lassen. Es versteht sich, daß dabei die klassischen Vermögenslehren einen Vorrang an Plausibilität haben; neue Entdeckungen wie etwa das Tetens-Kantsche "Gefühlsvermögen" - in der Heidegger-Bollnowschen Anthropologie ist es als "Gestimmtheit" bzw. Vermögen der Stimmungen präsent - mögen die Reihe beliebig ergänzen.

Die realistischen Anthropologien sind durchweg naturalistisch, d.h. sie sehen das Wesen des Menschen in einem gemeinsamen Zuge, den er mit der Natur oder einem ihrer Bereiche gemein hat. Hier schlägt gemeinhin die aristotelische Naturhierarchie durch. Das Wesen des Menschen wird in seiner materiellen, pflanzlichen, tierischen oder objektiviert kulturlichen Natur festgemacht. Die meisten modernen anthropologischen Theorien zählen zu dieser Reihe.

Es kann aber auch nicht übersehen werden, daß die beiden Reihen idealistischer und realistischer Standpunkte an demjenigen Punkte zusammentreffen, wo sie beide einen "objektiven" Bereich geistiger Gebilde: Kultur, Überbau, Geschichte, Sinngebilde oder ähnliches anerkennen. Schon der mittelalterliche "Ideenrealismus" war eine solche vermittelnde Position. Heutige Vermittlungen sind demgegenüber unklar und gleichsam gebrochene Versuche. Eine Lösung dieses Problems ist noch nicht in Sicht.

Stellen wir die Reihen schematisch vor:

 

§ 10. Die Idealismen

Sie sind grundsätzlich Spiritualismen und definieren den Menschen als Geistwesen. In strikter Gestalt sind sie Aktualisierungen des Neuplatonismus. Dieser wird heute kaum im akademischen Milieu als vielmehr in religiösen und sektiererischen Subkulturen vertreten. Bedeutendste und vor allem pädagogisch wirksamste Gestalt ist die "Anthroposophie" Rudolf Steiners (1861-1925) und der Waldorf-Schulbewegung (vgl. R. Steiner, Die Aufgabe der Geisteswissenschaft, 1907).

1. Der Rationalismus deutet den Menschen grundsätzlich als Vernunftwesen. Die klassischen Vertreter sind Anaxagoras, Heraklit, Platon und Kant, daran anschließend der Neukantianismus. Doch ist dieser Standpunkt niemals klar entwickelt worden, auch nicht im modernen "kritischen Rationalismus", da man immer Kompromisse mit dem modernen Naturalismus einging. Am nächsten kommen diesem Standpunkt E. Cassirers Lehre vom Menschen als "animal symbolicum" (Was ist der Mensch? 1944, 2. Aufl. 1966) und die Heidegger-Gadamersche Anthropologie, die den Menschen als "verstehend-auslegendes Wesen" deutet. Doch bestehen hier starke Bezüge zum Pragmatismus, insofern Verstehen und Auslegen als Vernunfttätigkeiten ihrerseits in "praktischem Umgang" mit "Zuhandenem" gründen.

2. Der Sensualismus deutet den Menschen grundsätzlich als Sinnenwesen. Berkeley hätte sein Klassiker werden können, wenn er eine eigene Anthropologie entwickelt hätte. Condillac und die französische Ideologie, bes. Maine de Biran (1766-1824), der ihn allerdings mit einem Voluntarismus verschmilzt, haben ihn vertreten. Auch der ursprüngliche Ansatz der E. Husserlschen Phänomenologie steht auf diesem Boden. Nimmt man "Gefühle" als Erweiterungen des Tastsinnes (und rechnet die "Emotionen" insgesamt zu diesem Bereich), so gehört auch die F. Bollnowsche Anthropologie der Stimmungen und des Gestimmtseins hierher. Schließlich ist auch die L. Feuerbachsche "Anthropologie" (so bezeichnet er selber seine Philosophie) wesentlich eine Theorie vom Menschen als Sinnenwesen, nur hat er ihr eine naturalistisch-materialistische Unterlage gegeben.

3. Der Voluntarismus deutet den Menschen grundsätzlich als Willenswesen. Sein Klassiker ist Augustinus (vgl. § 39), auch Descartes hat ihn in seiner Anthropologie vertreten, am nachhaltigsten aber A. Schopenhauer. Seine Züge begegnen auch im Menschenbild von Friedrich Nietzsche, der ihm nur eine naturalistisch-biologistische Unterlage gab. Ausgehend von Maine de Biran, Nietzsche und Bergson vertritt auch der französische Existenzialismus Sartres und Camus‘ ein voluntaristisches Menschenbild, sofern er das Wesen des Menschen in die "Entscheidung" und den grundlosen "Entschluß" legt.

4. Die Trieblehren - man könnte sie Orexismus nennen - deuten den Menschen grundsätzlich als dynamisches Triebwesen, wobei sie gewöhnlich naturalistische Metaphern der physikalischen Dynamik und Energetik verwenden. In der Antike vertraten die Epikureer, Kyniker und Hedoniker ein solches Menschenbild, in der christlichen Zeit überlebte es vor allem poetisch-literarisch: Die großen Gestalten der sog. Weltliteratur sind meist große Liebende und große Esser und Trinker, jedenfalls von Leidenschaften und Süchten getriebene Kreaturen. Mit Leibniz‘ Erfindung des Unbewußten gingen die appetitiones gleichsam in den Untergrund. Dort hat sie die Anthropologie (und die medizinische Wissenschaft) lange nicht wahrgenommen. Vermutlich wäre aber die abendländische Menschheit längst ausgestorben, wenn die - keineswegs unbewußte - Triebstruktur des Menschen nicht immer zum populären oder vulgären Menschenbild hinzugehört hätte, wie es im Volksmund und in populärer Crime- und Sex-Literatur drastischen Ausdruck findet. Die angebliche Freudsche Wiederentdeckung verdient denn auch - jenseits aller Kritik an den Ungereimtheiten des Begriffs vom Unbewußten - jeden Beifall als – bis heute nicht vollständig gelungener - Versuch, das Thema für die Anthropologie zurückzugewinnen.

5. Der Pragmatismus deutet den Menschen grundsätzlich als handelndes Wesen. Aber es 1iegt am Handlungsbegriff, daß dabei zumeist naturalistische Annahmen über die "Naturseite", d.h. die körperlich-materielle Dokumentation der Handlung mitgesetzt sind. Rein idealistisch haben den Pragmatismus nur Fichte und Hegel (Phänomenologie des Geistes, hg. v. J. Hoffmeister, S. 236: "Das wahre Sein des Menschen ist ... seine Tat") in seiner Arbeitstheorie entwickelt. Hegel: "Auch die Tiere sind nicht von dieser Weisheit ausgeschlossen, sondern erweisen sich vielmehr am tiefsten in sie eingeweiht zu sein; denn sie bleiben nicht vor den sinnlichen Dingen als an sich seienden stehen, sondern, verzweifelnd an dieser Realität und in der völligen Gewißheit ihrer Nichtigkeit langen sie ohne weiteres zu und zehren sie auf" (ibid., S. 87). Die Marxsche Arbeitslehre und der angelsächsische Pragmatismus enthalten nur einzelne Züge des idealistischen Pragmatismus, den sie ansonsten mit biologistischen Zutaten amalgamieren. Das gleiche gilt für die Position A. Gehlens, der den Menschen zwar als Handlungswesen definiert, Handlung selber aus biologischer Mängelkompensation ableitet (s.u., § 11).

 

§ 11. Die Realismen

Sie sind grundsätzlich Naturalismen und definieren den Menschen als körperliches Wesen. Auch seine geistig-seelische Konstitution wird aus körperlich-physiologischen Grundlagen abgeleitet und als deren Epiphänomen gedeutet. Die Realismen sind in all ihren Spielformen gegenwärtig herrschende Meinung in der philosophischen Anthropologie. Sie leiten sich letztlich alle vom aristotelischen Organon-Menschenbild her. Dieses Modell übernimmt aber im Prinzip des Nous poetikós (göttliche schaffende Seele) ein zum naturalistischen Ansatz im Widerspruch stehendes platonisches Motiv. Dieses findet sich in der Kulturanthropologie bzw. der Lehre vom objektiven Geist wieder. An dieser Stelle laufen daher, wie gesagt, die beiden Reihen zusammen. Die Schelersche Anthropologie ist sogar ganz neoaristotelisch.

1. Der Materialismus. Er deutet den Menschen grundsätzlich als mechanisch-physikalisch-chemisches Naturwesen von hoher Komplexität. Das klassische Werk ist Lamettries "L‘homme machine" (1748). Über den naturwissenschaftlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts (Carl Vogt, Köhlerglaube und Wissenschaft, 1854 u.ö., behauptet, "daß die Gedanken etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren". Grundbuch: Ludw. Büchner, Kraft und Stoff, 1855, 21. Aufl. 1904) ist dieser Standpunkt auch der modernen Physiologie und Medizin vermittelt, wo er die herrschende Meinung genannt werden kann. Auch der dialektische Materialismus steht grundsätzlich auf diesem Boden, indem er etwa menschliches Bewußtsein als (materielle) Widerspiegelung der materiellen Verhältnisse erklärt. Nicht zuletzt gehört aber auch der heute zu Unrecht weniger bekannte energetische Monismus eines Wilhelm Ostwalds (1853-1932, Nobelpreis für Chemie 1909) hierher, der den Menschen als das höchstentwickelte Ektropiewesen ansieht (vgl. § 13).

2. Die Lebensphilosophie deutet den Menschen grundsätzlich als Tier und ist bemüht, seine Spezifica als Sonderentwicklung tierischer Anlagen zu erklären. Es handelt sich somit in allen Spielformen um Biologismen. Klassischer Ausgangspunkt ist der Darwinismus, in Deutschland am nachhaltigsten vertreten durch Ernst Haeckel (1834-1919; vgl. Über die Entstehung und den Stammbaum des Menschengeschlechts, 1868 u.ö.). Philosophisch höchst wirksam hat Fr. Nietzsche (1844-1900) mit seiner Lehre von der Menschenzüchtung und vom Übermenschen diesen Standpunkt vertreten. Er deutete den Menschen als das "noch nicht festgestellte Tier". Es liegt auf der Hand, daß auch die prominentesten gegenwärtigen Anthropologien solche lebensphilosophisch-biologistischen Theorien sind, nämlich diejenigen von Helmut Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928, 2. Aufl. 1965), Arnold Gehlen (Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1931 u.ö.) und Max Scheler (Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1929 u.ö.). Letzterer analysiert ganz nach aristotelischer Manier im Menschen pflanzliche und tierische Potenzen und trennt davon das Geistige als "echte neue Wesenstatsache" ab.

3. Die Kulturanthropologie deutet den Menschen grundsätzlich als Kulturträger. In ihr verschmelzen einerseits die naturalistisch-völkerkundliche Anthropologie, andererseits die geisteswissenschaftliche Theorie vom objektiven Geist. Erstere hat ihre klassischen Vertreter in Adolf Bastian (1826-1905) mit seiner Theorie vom kulturellen "Elementargedanken" (Zur Lehre vom Menschen in ethnischer Anthropologie, 1895) und Leo Frobenius (1873-1938) mit seiner Lehre vom "Paideuma", dem selbständigen Kulturganzen (Paideuma. Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre, 1921 u.ö.). Auf sie gründet sich auch die amerikanische "cultural anthropology", die in Deutschland von Erich Rothacker (Probleme der Kulturanthropologie, 1942) als Lehre von den völkisch-rassischen Lebens- und Handlungsstilen und von W. E. Mühlmann (Geschichte der Anthropologie, 1948 u.ö.) fortgeführt wird. Die geisteswissenschaftliche Theorie des objektiven Geistes wird vor allem von Michael Landmann (Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961) vertreten, vor ihm von Werner Sombart (Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie, 1938, 2. Aufl. 1956). Diese Theorie ist eine Aktualisierung des mittelalterlichen Ideenrealismus, die den ideellen "Überbau" der Kultur als eigenständige Wirklichkeit betrachtet.

 

§ 12. Vermittelnde Positionen zwischen Idealismen und Realismen

Vermittelnde Positionen zwischen Idealismen und Realismen sind zwar mehrfach angestrebt, aber kaum konsistent entwickelt worden. Sie blenden höchstens durch eine äußerliche Vermittlung zwischen dem bislang unvermittelbar Erscheinenden; sie sind Synkretismen. Das gilt schon für Descartes‘ Versuch, die grundsätzlich verschiedenen geistigen und körperlichen Substanzen über "feine" Bewegungsvorgänge zu vermitteln. Es gilt noch für die vielfachen Versuche in Richtung auf eine "psycho-somatische" oder "ganzheitliche" Medizin (vgl. V. v. Weizsäcker und D. Wyss, Zwischen Medizin und Philosophie, 1957). Auch der neo-aristotelische Versuch Max Schelers bringt Geist und Körperliches nicht zusammen, sondern läßt sie als eigenständige "Wesenstatsachen" nebeneinander stehen. Wir sehen das einzig tragfähige philosophische Fundament für ein solches Unternehmen in Spinozas monistischer Metaphysik, die ihrerseits vorsokratisch-hylozoistische Ansätze aufgriff. Hier käme es darauf an, sowohl Körperliches wie Geistiges am Menschen als Ausdruck und Erscheinung einer tieferliegenden Grundtatsache abzuleiten. Für eine solche monistische Anthropologie fehlen jedoch bislang alle ontologischen und erkenntnistheoretischen kategoriellen Instrumente.

 

5. Kapitel: Die Haupttheorien von den Anthropina

In der Suche nach den "Anthropina" (Wesenstatsachen des Menschen) kulminiert alle anthropologische Forschung; ihr Resultat wäre die Definition des Menschen. Die klassischen Definitionen des Menschen bestehen in der gattungsmäßigen Einreihung in einen Wirklichkeitsbereich und in der Angabe eines spezifischen Unterscheidungsmerkmals des Menschen innerhalb dieses Bereiches gegenüber den sonstigen zugehörigen Wesenheiten. Z.B. animal rationale = Tier, jedoch vernunft-(sprach-)begabt (Aristoteles). Die anthropologischen Grundstandpunkte behaupten nun gerade die wesentliche Zugehörigkeit des Menschen zu einem bestimmten Wirklichkeitsbereich, und sie geben auch die spezifische Differenz darin an. An diesem Leitfaden lassen sich also die Anthropina aufweisen. Unter Beschränkung auf das Wesentliche kann genannt werden:

 

§ 13. Die physikalistisch-energetische (materialistische) Auffassung vom Menschen

Sie stellt den Menschen in den Bereich der physikalisch-energetischen Gebilde hinein und zeichnet ihn gegenüber den energetischen Systemen, die nach einem Grundgesetz der physikalischen Thermodynamik "entropisch" sind (d.h. interne Energieniveauunterschiede tendenziell nivellieren), durch den "unwahrscheinlichen" Charakter des "Ektropismus" aus. D.h. daß der Mensch - wie alle Lebewesen - die "natürliche" Tendenz energetischer Systeme umkehrt, Energie bindet, statt zerstreut, Niveauunterschiede aufbaut, statt sie abzubauen. Unter den Lebewesen wiederum nimmt er nach dieser Auffassung dadurch eine Sonderstellung ein, daß er quantitativ am meisten und im höchsten Maße ektropisch ist. (vgl. G. Hirth, Energetische Epigenesis und epigenetische Energieformen, 1898; F. Auerbach, Ektropismus oder die physikalische Theorie des Lebens, 1910, S. 48: "Im Menschengeschlechte ist ... die ektropische Fähigkeit bis auf den bisher höchsten Punkt gestiegen, und zwar auf einen so hoch aufragenden, daß dieser Umstand allein schon genügt, um einen Strich zu machen zwischen allen übrigen Lebewesen einerseits und dem Menschen andererseits."). Diese Eigenschaft verleiht dem Menschen geradezu die kosmische Sonderstellung: "Wenn auch an Zahl einige andere Spezies, insbesondere Mikroorganismen, ihn übertreffen mögen, so ist er allen weit überlegen durch die Menge der von ihm organisierten, d.h. unter seine Herrschaft gebrachten Energie" (55). Er weiß "sowohl seine eigene Körperenergie viel vorteilhafter oder mit viel größerem Güteverhältnis zu verwerten, als die anderen Lebewesen, als auch sich äußerer oder fremder Energie in weitestem Umfang zu bemächtigen und dadurch sich so unverhältnismäßig wirksamere Waffen im Kampfe ums Dasein zu erwerben, daß er den Wettbewerb jeder anderen Spezies leicht ausschließen konnte" (51/52). "Ektropische Unternehmungen bedürfen, wie wir wissen, fremder Hilfe. Diese Hilfe sucht sich der Mensch, wo er sie finden kann; und das ganze erreichbare Universum muß dazu herhalten. Der Raubbau an der freien Energie ist zum System erhoben. Der subjektive Sinn dieser Tätigkeit ist, vom kosmischen Gesichtspunkt aus genommen, äußerst bösartig; aber das wirkliche Ergebnis ist gar nicht so schlimm. Denn da der Mensch die Welt braucht und auch in künftigen Zeiten brauchen wird, muß er ihre Bindung überall, wo diese ihm nicht direkten Nutzen schafft, aufzuhalten oder zu verhindern suchen. Er muß mit weitem Blick zu entscheiden versuchen, ob der augenblickliche Nutzen groß genug ist, um den zukünftigen Schaden zu rechtfertigen" (Wilhelm Ostwald, Die energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaften, 1909, S. 51).

Der Mensch erscheint in dieser Sicht also als komplexestes ektropisches Energiesystem, das durch seine Fähigkeit zur Bindung und Speicherung von Energie und zur Errichtung von Energieniveaugefällen die kosmische "entropische" Tendenz zum "Wärmetod" (als Zustand des allgemeinen Energieausgleiches) des Weltalls geradezu umkehrt (und damit auch die so "objektiv erscheinende" Zeitrichtung physikalischer Prozesse).

 

§ 14. Die biologistische (lebensphilosophische) Auffassung

Sie reiht den Menschen unter die höchstentwickelten Tiere, speziell die "Primaten" (C. v. Linné). Seit Darwin und E. Haeckel gilt dieser Zusammenhang auch als entwicklungsgeschichtlich gesichert (vgl. H. Walter, Grundriß der Anthropologie, 1970, der die paläontologischen Befunde registriert; G. Heberer, Menschliche Abstammungslehre. Fortschritte der "Anthropogenie" 1863-1964, 1965; dagegen Nielssons "Emikationstheorie" des Lebens, die im Anschluß an Cuviers "Katastrophentheorie" den mehrfachen Ursprung des Lebens behauptet).

Im Mittelpunkt solcher Theorien steht der Vergleich von Mensch und Affe nach somatischen und psychischen (Verhaltens-) Merkmalen. Stehen bei den älteren Theorien noch Domestikations- und Züchtungsgedanken im Vordergrund (Darwin, Nietzsche, auch Fr. Engels, Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, 1869), so in den neueren physiologische und anatomische Überlegungen. Insbesondere die Ähnlichkeit des kindlichen Affen mit relativ großer "intellektueller" und organischer P1astizität, die beim älteren Affen verloren geht, mit dem Menschen war auffälliges Ausgangsdatum. Ludw. Bolk (Das Problem der Menschwerdung, 1926) erklärte so den Menschen als einen "retardierten infantilen Affen", der sich auf Grund innersekretorischer Vorgänge die Plastizität des Jungaffen erhalten habe.

Adolf Portmann (Zoologie und das neue Bild vom Menschen, 1941, 2. Aufl. 1956) nennt ihn eine "physiologische Frühgeburt" und "sekundären Nesthocker", der in einem "extrauterinen Frühjahr" (das er eigentlich noch in der Geborgenheit des Mutterleibes verbringen müßte) ohne Instinktsicherung ganz dem Einfluß der Umweltreize und der elterlichen Konditionierung ausgesetzt ist. Arnold Gehlen (Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1931 u.ö.) sieht ihn in gleicher Perspektive als "Sonderentwurf der Natur": ein organisch minderausgestattetes "Mängelwesen", gekennzeichnet durch Unspezialisiertheit, Plastizität, Instinktentbundenheit und Antriebsüberschuß und einer ständigen Reizüberflutung ausgesetzt, das sich durch die Ausbildung von "Haltungen" bzw. "Institutionen" zur Kanalisierung von Reizen und Antrieben, insbesondere durch Sprache als "symbolische Repräsentanz" derselben, in der Umwelt erhält und seine Mängel mehr als kompensiert. Alle Kulturinstitutionen, voran die Sprache, werden so als Mittel der "Entlastung" und zur Herstellung von "Distanziertheit" gegenüber der Umwelt gedeutet.

Helmut Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928, 2. Aufl. 1965) sieht den Menschen im Gegensatz zum "zentrischen" Tier (das insofern nur in seinem Körper lebt und erlebt) als ein Wesen von "exzentrischer Positionalität" als "charakteristischer Form seiner frontalen Gestelltheit gegenüber dem Umfeld" (S. 292). Gemeint ist die besondere Bewußtseinsform des Menschen, nach der er, wie er unter Berufung auf das Kantische "Paradox der Objektivität und Nichtobjektivierbarkeit des Bewußtseins" behauptet, sich gleichsam von außen betrachten könne. Manches Heideggersche Diktum vorausnehmend, sieht Plessner in solchem "Personcharakter" ein "über sich hinaus" (Transzendenz des Menschen). "Der organische Körper ist, als in ihm gesetzter, ihm selbst vorweg" bzw. "von der Zukunft her bestimmt" (S. 179). Als "anthropologische Grundgesetze" stellt Plessner auf 1. ein "Gesetz der natürlichen Künstlichkeit" ("Der Mensch muß sich zu dem, was er schon ist, erst machen" (S. 309)); 2. ein "Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit" als Grundlage des Verstehens und Abbildens der Welt; 3. ein "Gesetz des utopischen Standorts" bzw. der "Transzendenz" als Grundlage der Ausbildung der Individualität des Einzelnen auf der Folie der "Vertretenheit und Ersetztheit" im solidarischen Fühlen und Verhalten der konkreten Gemeinschaft (S. 341). Die hier betriebene Ableitung auch der "höheren" menschlichen Kulturleistungen aus biologischen Daten der Tiere und insbesondere der Affen setzt sich im Verhaltensvergleich fort.

Ausgangspunkt ist auch hier in erster Linie das Affenbaby. An ihm vor allem sucht der moderne Mensch zu lernen, was das eigentlich menschliche Verhalten ist. Wie weit er dabei durch Konditionierung und Dressur den kleinen Affen zu einem "Nachaffen" des Menschen macht, bleibt noch die Frage.

Überhaupt ist ja bei solchen Forschungen a priori zu erwarten, daß für alle Verhaltensformen des Menschen irgendwo bei Tieren analoge Verhaltensformen oder rudimentäre Vorformen gefunden werden. Paradebeispiel ist das Spiel, das sich beim jungen Tier, beim Menschen aber in jedem Alter finden soll (vgl. F. J. Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels, 1933). Seit alters sucht man auch die Vorformen der Sprache bei den Tieren, wobei heute die Delphine und Wale, vor allem aber wegen ihrer symbolisch-repräsentierenden Sprache die Bienen interessieren (K. v. Frisch, Aus dem Leben der Bienen, 5. Aufl. 1953). Daß Tiere sich sprachlich verständigen und vielfach auch Symbolgebrauch kennen, dürfte heute unbestritten sein. Uns scheint hier der wesentliche Unterschied - den man noch nicht bemerkt hat - darin zu liegen, daß der Mensch ein polyglottes Wesen ist, der alles vielfach ausdrücken und symbolisch repräsentieren kann (auch in einer einzigen Muttersprache etwa mit Hilfe der Synonyme oder grammatischer Variationen) und der daher allein sich selbst und andere täuschen und belügen kann.

Die Sozialformen und Gruppenbildungen, Hierarchien, aggressives und friedliches Verhalten sind vielfach untersucht worden bis hin zu tierischer Homosexualität und lesbischem Verhalten. Es scheint dem Tier nichts Menschliches fremd zu sein. Auch die früher betonte permanente Sexualität des Menschen und besonders der Frau ist nicht einzigartig. Noch weniger sind es das Ausdrucksverhalten und die Kommunikationsformen in Gesten, Imponiergehabe, Mode, Grußritualen u.ä. Auch die Komplexität der Wahrnehmungs- und Wirkwelt ("Umwelt") von Mensch und Tier ist nur quantitativ verschieden (vgl. J. v . Uexküll und C. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, rde 13). Überall wird man also eher nur quantitative als qualitative Unterschiede herausfinden, die der Mensch gegenüber dem Tier zur Perfektion ausarbeitet. Allenfalls scheint im "Weinen und Lachen" (vgl. H. Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen des menschlichen Verhaltens, 1950) noch ein besonderes Anthropinon zu stecken, wovon sich freilich ein Hundefreund nur schwer überzeugen lassen wird.

Zusammengefaßt, sehen wir allenfalls in der polyglotten Sprachlichkeit des Menschen einen Ansatz zu qualitativer Verschiedenheit gegenüber dem Tier. Von dieser (aristotelischen) Feststellung aus (anthropos zoon logon echon), die freilich dann zu modifizieren wäre: anthropos zoon logous echon - Der Mensch ist ein sprachenbegabtes Wesen, läßt sich auch der kulturphilosophische Datenbestand ableiten.

 

§ 15. Die geisteswissenschaftlich (spiritualistische) Auffassung

Hier gilt der Mensch als Träger und Verkörperer von objektivem Geist. Gegenüber den sonstigen Gegebenheiten des objektiven Geistes: den Institutionen, Denkmälern, Dokumenten, kurz Artefakten als Trägern von Sinn und Bedeutung, unterscheidet sich der Mensch spezifisch dadurch, daß er allein Sinngebilde und Bedeutungen, eben die Gebilde des objektiven Geistes, erzeugt und erschafft. Er ist gleichsam die Stelle in der Wirklichkeit, an der Sinn bzw. Geist in die Welt hineinkommt. Umgekehrt ist er auch das Wesen, durch das der in Dokumenten und Artefakten niedergelegte und gleichsam geronnene Sinn "verlebendigt" wird und wirkt. Ohne solche "Verlebendigung" ist er geradezu tot und nichtig, ja er ist das Nichts selber.

Das Hauptmittel dazu ist die sprachliche Organisation des Gedächtnisses. Alle Vergangenheit ist nicht mehr und darum gar nicht, d.h. Nichts. Dieses Nichts wird im individuellen Gedächtnis zu einer ideellen Präsenz, im gesellschaftlich organisierten Gedächtnis durch Artefakte zum idealen Sein des objektiven Geistes einer Kultur, Zivilisation oder der Menschheit (vgl. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 1966, franz. Originalausg. 1925).

So ist es auch verständlich, daß die geisteswissenschaftliche Anthropologie den Menschen wesentlich dadurch charakterisiert, wie er durch die Berührung mit dem objektiven Geist und seinen Institutionen geprägt und gebildet wird. Er ist ein Bildungswesen. Die hermeneutische Aneignung der Bildung, der pädagogische Prozeß steht ganz im Mittelpunkt der Betrachtung. Hegel hat in dieser Perspektive lange vor E. Haeckels "ontogenetischem Grundgesetz" (das für die Biologie der Lebewesen eine Rekapitulation der Stammesentwicklung in der individuellen Embryonalentwicklung behauptet) ein entwicklungsgeschichtliches Gesetz der Enkulturation formuliert, das faktisch in fast alle pädagogischen Programme des abendländischen Bildungswesens Eingang gefunden hat: "Der einzelne muß auch nach dem Inhalte nach die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes durchlaufen, aber als vom Geiste schon abgelegte Gestalten, als Stufen eines Wegs, der ausgearbeitet und geebnet ist; so sehen wir in Ansehung der Kenntnisse das, was in frühern Zeitaltern den reifen Geist der Männer beschäftigte, zu Kenntnissen, Übungen und selbst Spielen des Knabenalters herabgesunken und werden in dem pädagogischen Fortschreiten die wie im Schattenrisse nachgezeichnete Geschichte der Bildung der Welt erkennen" (Die Phänomenologie des Geistes, ed. J. Hoffmeister, S. 27). So bringt man weithin auch heute noch den kleinen Kindern die griechische Mathematik und die klassischen Sagen des Altertums bei, den großen aber die späten Entwicklungen des Integrals, der Axiomatik und die moderne Literatur.

Der Plausibilitätsverlust der neuplatonischen Geisthypostasen des deutschen Idealismus und seiner angeblichen Entwicklungsnotwendigkeiten läßt heute nur die Rede von den pluralistischen Kulturtraditionen übrig. Aber nicht wie er kulturell und sprachlich geprägt ist - und das ist die wichtigste hier interessierende Frage, zu deren Beantwortung noch die meisten Instrumente fehlen -, sondern daß er immer schon so geprägt ist, ist heutzutage die vorläufige letzte Einsicht der geisteswissenschaftlichen Anthropologie.

So bleibt man bei formalen Feststellungen stehen: Der Mensch als "animal symbolicum" (E. Cassirer, Was ist der Mensch? 1944, 2. Aufl. 1960); der Mensch als "Instrument des objektiven Geistes", "das Werkzeug, dessen der objektive Geist sich zu seiner Verwirklichung und zu seinen Zwecken bedient ... zugleich das herstellende Werkzeug, dem der objektive Geist allererst seine Entstehung verdankt" (M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. Geschichts- und Sozialanthropologie, 1961, S. 9); der Mensch im Netzwerk alles mit allem in Verbindung setzender Strukturbeziehungen innerhalb einzelner Kulturen (Claude Lévy-Strauss, Strukturale Anthropologie, 1967, franz. Originalausg. 1958); schließlich der Mensch als "geschichtliches Wesen" (Dilthey, Existenzphilosophie).

Zweifellos hat es Heidegger in der Herausarbeitung von "Existenzialien" (als Kategorien menschlichen Daseins) am weitesten gebracht und am meisten Anklang gefunden. Für ihn ist das Dasein (so nennt er den Menschen) bestimmt durch Geschichtlichkeit, Geworfenheit des "In-der-Welt-Seins", Zukünftigkeit des "Sich-vorweg-Seins" beim Tode, Jemeinigkeit (eine Individualität, auf die sich nachmals eine ganze Generation existenzialistischer Originalgenies höchst konformistisch berief) sowie das Verstehen- und Auslegen-Können (Sein und Zeit, 1927 u.ö.). So überzeugend die Daseinsanalyse auch war, so blieb sie doch ebenfalls formal und zeigte den Menschen eher als abstraktes Gespenst, dessen Fleisch und Knochen erst eine soziologisch-historische Mikroanalyse jeweiliger Populationen und Individuen ins Licht bringen konnte.

Davon aber ist die geisteswissenschaftliche Anthropologie noch weit entfernt, und es scheint, daß Barcley, W. v. Humboldt und Dilthey (Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, 8. Aufl. 1969) schon einmal näher an solchen Einsichten waren als die Gegenwart. Auch hier nämlich muß sich die sprachliche Prägung viel elementarer zur Wirkung bringen als jede einzelne sektorale Beeinflussung. Heidegger hat sie in der Daseinsanalyse übersehen und sie in späteren Schriften zu einem metaphysischen Mysterium hochstilisiert (Brief über den Humanismus, 1947: "Die Sprache ist das Haus des Seins."; Der Weg zur Sprache, 1959: "Sprachwesen als Ur-Kunde des Ereignisses").

Nicht daß der Mensch Sprache hat, ist wichtig und richtig (denn wir sahen, daß dies auch für die Tiere gilt), sondern daß er mehrere Sprachen in der Muttersprache, erst recht in Dialekten, Weltsprachen und Wissenschaftssprachen hat, muß uns als geisteswissenschaftliches Anthropinon gelten. Denn dies Faktum allein läßt ihn am kosmos intelligibilis der Geschichte und der Kulturen partizipieren, eröffnet ihm die Zugänge zu den Gefilden des objektiven Geistes, prägt ihn bis in sein innerstes Wesen und macht ihn so zum Individuum. In diesem Lichte entlarvt sich auch die Barbarei und Inhumanität der Sprachreform-Pädagogen, die den Menschen auf die "reduzierten Codes" vereinfachter und entstellter Zeichen und auf das einsilbige Gestammel des Kneipen- und Popmusikjargons heruntertrimmen, und dies im Zeichen chancengleicher Enkulturation! Vielmehr berauben sie ihn gerade an dem, was ihm den Zugang zum wesentlich Menschlichen eröffnet. Daß der Mensch ein polyglottes Wesen ist, daß er sich also in vielen Sprachen erzeugen und finden, daher auch verfehlen und verirren kann, dies scheint uns seine Größe und Würde, aber auch sein Verhängnis zu sein, das ihn von allen anderen Wesen unterscheidet.

 

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