Vorbemerkung

Das vorliegende Kompendium der Philosophischen Anthropologie gibt in Grundzügen eine Vorlesung wieder, die der Verfasser mehrmals an der Universität Düsseldorf gehalten hat, so im Sommersemester 1979, im Sommersemester 1983 und im Wintersemester 1985/86.

Die Philosophische Anthropologie gehört zusammen mit der Metaphysik, Logik und Erkenntnistheorie, Ontologie und Philosophie der Praxis zu den philosophischen Grunddisziplinen, die an der Universität Düsseldorf im Fache Philosophie im Grundstudium angeboten und im Hauptstudium zur Rekapitulation und Vertiefung studiert werden können.

Gemäß dem architektonischen Zusammenhang der philosophischen Disziplinen untereinander und mit den Einzelwissenschaften gehen anthropologische Voraussetzungen in die Grundlagen der Bereichsdisziplinen der Philosophie und der Einzelwissenschaften ein. Sie sind dort nicht immer leicht erkennbar. Einer weit verbreiteten Meinung über angebliche "Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaften" entsprechend, welche durch den anhaltenden Hang zur Überspezialisierung nur verstärkt wird, werden die tatsächlichen Denkmodelle und heuristischen Leitbilder traditioneller Menschenbilder in Forschung und Lehre allzu leicht übersehen, als "Selbstverständlichkeiten" behandelt oder gar mit mühsamem Aufwand neu formuliert, so daß als Resultat erscheint, was Voraussetzung gewesen ist. Dies dürfte in besonderem Maße für die Humanwissenschaften selber gelten, von denen sich einige ja erst in allerjüngster Zeit von der Philosophie gleichsam abgenabelt haben. In ihnen ist die vermeintliche Autonomie nur allzu oft durch philosophiegeschichtliche Unbildung teuer erkauft worden, die die zahlreich ins Kraut schießenden Spezialanthropologien wie pädagogische, soziologische, politologische, wirtschaftswissenschaftliche und andere nicht mehr als Schößlinge vom gleichen philosophischen Stamme erkennbar werden läßt.

Dieser Tendenz ein wenig entgegenzuwirken, liegt eines der Gewichte der vorliegenden Darstellung der Philosophischen Anthropologie in der Darstellung der Hauptmomente ihrer Geschichte. Wie die Geschichte der Disziplinen allgemein, so bietet auch die Geschichte der Philosophischen Anthropologie einen Königsweg zu den Fakten, Denkformen, Modellen, Haupttheorien und perennen Problemstellungen in diesem Felde an. Sie ist für Lehre und Studium eine viel zu wenig beachtete und genutzte Heuristik.

Neben dem geschichtlichen Aspekt wurde besonderer Wert darauf gelegt, im zweiten Teil der Darstellung die metaphysischen Voraussetzungen anthropologischer Theorienbildung ihrerseits aufzuhellen. Das mag als Beispiel für den Versuch gelten, den wir auch in den Kompendien der übrigen Grunddisziplinen unternehmen, die Metaphysik als eine Disziplin von den ersten (oder letzten) Voraussetzungen aller Disziplinen und Wissenschaften überhaupt darzustellen und den Schematismus ihrer Grundpositionen für die Konstitution grunddisziplinärer Ausgangsargumente zu benutzen. Die Beachtung dieser metaphysischen Voraussetzungen führt zu einer Klassifikation möglicher anthropologischer Theorieansätze, die ebensowohl historisch ausgeführte Theorien besser verstehen als auch auf mehr oder weniger unausgeführte Leerstellen der Theoriebildung aufmerksam werden läßt.

In einem dritten Teil werden - zugegebenermaßen in mehr apercuhafter Weise - einige gegenwärtig im Vordergrund des öffentlichen Interesses stehende Probleme der Philosophischen Anthropologie behandelt.

Für das weiterführende Studium fügen wir zum Schluß eine Liste ausgewählter Literatur aus verschiedenen Gattungen bei.

 

Düsseldorf, im Februar 1986

Lutz Geldsetzer

 


 

Einführung

§ 1. Die Bestimmung der Disziplin Philosophische Anthropologie

Die Thematik der Philosophischen Anthropologie gehört zum Grundbestand abendländischer Philosophie. Sie wurde in mehreren "Wenden zum Subjekt" (sokratische, augustinische, cartesianische, existenzphilosophische) erarbeitet. Es geht um die Erstellung und Tradierung "philosophischer Menschenbilder" in Theorien über den Menschen. Ihre Bedeutung für die übrigen Grund- und Bereichsdisziplinen sowie alle Human-Wissenschaften liegt auf der Hand. Die klassischen Menschenbilder sind Grundlagen des Selbstverständnisses und heuristische Leitfäden für die Forschung über den Menschen. Insbesondere präjudizieren sie die Denkformen, in denen das Subjekthafte (erkenntnistheoretisch, praxeologisch und metaphysisch) artikuliert wird.

Als Disziplin verdankt sie sich den enzyklopädischen Architektoniken des 16. Jahrhunderts: Magnus Hundt, Anthropologium, 1501, und Otto Casmann, Psychologia anthropologica et fabrica humani corporis, 2 Bde. 1594-96. Letzterer definiert: "Anthropologia est doctrina humanae naturae. Humana natura est geminae naturae mundanae, spiritualis et carpareae, in unum hyphistamenon unitae particeps essentia" (A. ist die Lehre von der menschlichen Natur. Menschliche Natur ist ein Wesen, das der doppelten Welt-Natur, der geistigen und der körperlichen, die zu einem Grundbestand vereinigt sind, teilhaftig ist.). Dies gilt bis heute, so daß wir definieren können: Anthropologie ist die Disziplin vom Wesen des Menschen, seinen Vermögen (geistigen und körperlichen Fähigkeiten) und seiner Stellung in der Wirklichkeit.

Gleichwohl ist sie auch als Disziplin nicht unumstritten. Zwei extreme Einstellungen leugnen ihre Existenz: 1. "Naturalistische" Einstellungen tendieren dahin, ihre Thematik den positiven Einzelwissenschaften vom Menschen (Biologie der Primaten, Psychologie, Soziologie) zuzuweisen. 2. Existenzphilosophisches Denken macht sie zur Metaphysik.


 

Teil I: Zur Geschichte der Philosophischen Anthropologie

1. Kapitel: Die Philosophische Anthropologie in der Antike

Sie zeigt die Entwicklung der klassischen Menschenbilder und ihre Variationen. Die Grundtypen sind das platonische, das aristotelische und das stoische Menschenbild. Diese werden bis heute in mannigfachen Variationen repristiniert. Betrachten wir zunächst die Antike:

§ 2. Das platonische Menschenbild

Das platonische Menschenbild zeichnet den Menschen als individuelles, unsterbliches Geisteswesen, das (zufällig) in einen (tierischen) Körper eingeschlossen wird. Dies Geisteswesen ist als "Seele" "das den Körper Beherrschende". Es beherrscht ihn und seine Teile durch die "Seelenteile". In ihrer Unterscheidung gründen alle sog. psychologischen Vermögenslehren. Als Modell gilt das Bild vom "Wagenlenker" (Phaidros 246 a3): Der Vernunftteil, als Gespannlenker, setzt die Kraft des gehorsamen Pferdes, das das "Muthafte" (Willen) symbolisiert, gegen die Kraft des ungebärdigen Pferdes, das die Triebe und Begierden repräsentiert, ein und lenkt so das Ganze zu seinem Ziel. Die Ausführung im "Staat" (Buch IX, 581 c ff.) stellt zugleich den Zusammenhang der Seelenteile mit Tugenden, Körperteilen sowie mit dem Staatsaufbau, seinen Ständen und deren Tugenden dar. Wir geben sie als Schema:

MENSCH Seelenteil
(Vermögen)
Charakter Tugend
1. Kopf Vernuft weisheitsliebend Weisheit (Sophia) u.
  (Logistikón, Nous) (philomathés, philosophón) Gerechtigkeit (Diakýosyne)
  "Muthaftes", kampf-, und ehrliebend Mannhaftigkeit, Mut (andreía) u.
2. Brust
  Oberleib
Wille (Thymoeidés) (philonikón, philotimón) Gerechtigkeit
       
3. Unterleib Triebhaftes, Begierden sachliebend, materiell (gerechter gehorsam
("zwischen Brust und Nabel") (Epithymetikón) (philochrematón, philokerdés) gegenüber Vernunft)

 

STAAT Aufgabe Tugend Volkstyp
1. Regierende (Archonten) Beratschlagung
(Bouleutikón)
Weisheit u. Gerechtigkeit Griechen
2. Wächter, Beamte, Soldaten,
Polizei (Phýlakes)
Beistand, Hilfe
(Epikourikón)
Tapferkeit, Mut (Andreía),
u. Gerechtigkeit
Thraker u. Skythen
3. Bauern, Handwerker u. Gewerbe (Georgói, Demiourgói) Sachleistung, materielle Basis (Chrematikón) gerechter Gehorsam
Phönizier u.
Ägypter

 

1. Der Mensch ist Geistwesen. 2. Der Mensch als Geistwesen ist bestimmt durch die Unterscheidung und Dominanz der Seelenvermögen. D.h. das Vorherrschen eines bestimmten Seelenteils macht den Einzelmenschen zu einem bestimmten Charakter. 3. Das Körperliche am Menschen ist zufällig und unerheblich, somit auch der Geschlechtsunterschied: "Die natürlichen Anlagen sind auf ähnliche Weise in beiden (Mann und Frau) verteilt, und an allen Geschäften kann die Frau teilnehmen ihrer Natur nach wie der Mann an allem; in allem aber ist die Frau schwächer als der Mann" (Staat 454 c). 4. Es gibt eine Hierarchie oder Wertordnung mit Vernunft an der Spitze, Trieben an der Basis derart, daß Vernunft leitet, Triebe unterworfen (unterdrückt!) werden sollen. 5. Der Staats- bzw. Gesellschaftsaufbau beruht auf denselben anthropologischen Bedingungen: Die Vermögenshierarchie ist Standeshierarchie. In den Ständen sind jeweils gleiche Charaktertypen versammelt, die streng ausgelesen werden (je nachdem sie "Gold", "Silber" oder "Eisen" in der Seele haben). Diese Veranlagung bestimmt auch ihre arbeitsteilige Aufgabe und Tugend. 6. Harmonie, Übereinstimmung der Seelenteile unter der Leitung der Vernunft ist Gerechtigkeit (Dikaiosýne) und erzeugt ein glückliches Leben; Gerechtigkeit im Staat verleiht ihm unüberwindliche Stärke und Beständigkeit.

Das platonische Menschenbild wird zur Grundlage des abendländisch-christlichen Menschenbildes, das die Individualität, Unsterblichkeit und Geistigkeit der grundsätzlichen Menschennatur betont, die Körperlichkeit - das "Fleisch" - (sarx) hintanstellt oder gar diskriminiert. Der Neuplatonismus der Spätantike betont gerade diese Züge. Das aristotelische Menschenbild bringt dagegen wesentlich die Rehabilitation des Körperlichen.

 

§ 3. Das aristotelische Menschenbild

Es zeichnet den Menschen grundsätzlich als Geist-Körperwesen. Der Körper ist wesentlich dem Geist zugeordnet, er ist "Werkzeug" (Organon) der Seele, die ihn beherrscht und bewegt, und die "in gewisser Weise alles" ist (De anima III, 8, 431 b 21). Die platonische Seelen-Vermögen-Lehre wird im Prinzip übernommen, jedoch modifiziert und vom Körperlichen her legitimiert: sie korrespondiert der Einbettung des Menschen ins Naturreich.

Schema:

MENSCH     NATUR
Seelenvermögen Körperteil ("Seelensitz") Funktion Wirklichkeits-Bereich
1a. Schaffende Vernunft
(nous poetikós)
(Blut, Atem, ganzer Körper, in den er "von außen" eintritt) Denken, Theorie das Göttliche
1b. Passive Vernunft
(nous pathetikós)
Herz
Empfinden, Erinnerung,
Vorstellung
das eigentlich Menschliche
2. Sinnes- (Wahrnehmnungs-)
u. Bewegungsvermögen
(aisthetikón u. kinetikón)
Sinnesorgane (Haut u. Kopf), Bewegungsapparat
Wahrnehmung u. Bewegung
das Tierische, "Animalische"
3. Ernährungs- und Triebvermögen
(threptikón u. orektikón)
Magern, Darm u. geschlechtsorgane
Ernährung u. Fortpflanzung

das Pflanzliche, "Vegetative"
4. Körpermaterie (Leiche) Individualisierung anorganische Materie

 

Die "organische" Auffassung und die Einbettung in das Naturreich bestimmt die klassisch gewordene Definition des Menschen als "vernunft- bzw. sprachbegabtes Tier" (zóon lógon echón, animal rationale), d.h. er gehört zur Gattung der Tiere und hat ihnen gegenüber das spezifische Unterscheidungsmerkmal der Vernünftigkeit (Sprachbesitz).

Umstritten bleibt die Frage der Individualität und Unsterblichkeit. Gemäß aristotelischer Substanzlehre bestimmt die Materie - hier der Körper - die Individualität einer Substanz, die Form ist allgemein und bestimmt den Gattungscharakter. Als unsterblich aber gilt für Aristoteles nur das Göttliche. Die historische Rezeption und Verschmelzung mit dem christlichen (grundsätzlich platonischen) Menschenbild führt daher zum Dogma von der "Auferstehung des Fleisches" (da der Körper individualisiert) und zur "alexandrinischen" Interpretation der "individuellen" Unsterblichkeit des Nous poetikós. Demgegenüber behauptet der "averroistische" Aristotelismus den Verlust der Individualität des Nous beim Verlassen des Körpers und seine Verschmelzung mit der göttlichen Allseele.

Die wesentliche Beachtung des Körperlichen führt Aristoteles zur Entdeckung und Bestimmung vieler somatischer Eigentümlichkeiten des Menschen im Unterschied zu den Tieren.

Körperliche Merkmale des Menschen (vgl. De generatione animalum, De partibus animalum, De anima): 1. Sprachbesitz, 2. Händigkeit, insbesondere Unsymmetrie der Leistungsfähigkeit rechter und linker Hand und der Körperhälften, 3. aufrechter Gang, 4. Gehirngröße (das Gehirn gilt als Kühlungsorgan für das Blut), 5. Sensibilität des Tastsinnes über die ganze Haut, Nacktheit, 6. Lebensdauer( gilt neben Elefant als 1ängste).

Aus der wesensmäßigen Verbindung von Göttlichem (Geist) und Natur (Körper) im Menschen ergibt sich seine Bestimmung im Leben: "Was einem jeden wesenseigen ist, das ist von Natur für ihn auch das Höchste und Lustvollste. Für den Menschen aber ist es das Leben gemäß dem Geiste. Denn der Geist ist am meisten der Mensch. Mithin ist dieses Leben auch das glücklichste" (Nik. Ethik X, 7, 1177 b 26). Damit wird die schon bei Platon angelegte Auszeichnung des "theoretischen Lebens" (bios theoretikós, vita contemplativa, "Beschaulichkeit") und die Diskriminierung des "tätigen" Lebens (als banausisch) anthropologisch unterbaut.

Ebenso wird der Geschlechtsunterschied belangvoll, nicht minder der organische Entwicklungszustand des Menschen nach Lebensalter: Nur der erwachsene, zeugungsfähige Mann gilt als voller Mensch; die Frau, das Kind, der Alte (auch der Krüppel, der Kranke) sind es nur "potentiell". Daran knüpft die abendländische Privilegierung des ersteren und Diskriminierung der letzteren an!

Wir fassen die Züge des aristotelischen Menschenbildes zusammen: 1. Der Mensch ist körperlich-geistiges Wesen ("organische Auffassung"). Sein geistiger Anteil verbindet ihn mit dem Göttlichen (Platonismus), sein körperlicher mit der Natur. 2. Der Körper ist dem Geiste "zugeordnet" (nicht zufällig sein "Gefängnis" wie bei Platon); der Geist "regiert" als Seele oder "Entelechie" den Körper. 3. Die Seelenvermögen bilden eine Hierarchie in Übereinstimmung mit der Hierarchie der Natur: Denken, Sinnlichkeit und Triebstruktur repräsentieren das Göttliche, Tierische und Pflanzliche im Menschen und binden ihn in die Realität ein. 4. Die Vernunftstruktur und ihre Kultur bestimmt das Schicksal der Menschheit als Gattung; die körperlich-organische Struktur bestimmt das Geschick des einzelnen konkreten Menschen im Leben.

 

§ 4. Das stoische Menschenbild

Es ist eine Synthese des platonischen und aristotelischen Menschenbildes, dessen Züge es in verschiedener Hinsicht verschärft. Da es auf verschiedene Autoren zurückgeht und über Jahrhunderte hin diskutierend entwickelt wird, ist auch manches kontrovers geblieben. Die aristotelische Einbettung in die Natur wird verstärkt und alle Natur teleologisch auf den Menschen bezogen. Sie ist für ihn da. Umgekehrt wird "naturgemäßes Leben" (te phýsei zen) zum höchsten Ideal. Die materialistische Ontologie der Stoa stellt auch die Seele (und das Göttliche) als feinste feurige Materie dar. Aber wie bei Platon und Aristoteles ist sie göttlichen Ursprungs, wenn sie auch durch Zeugung gleichzeitig mit dem übrigen Körper entsteht. Die übliche Benennung als "Pneuma" (Luft, vgl. lat. spiritus) unterstreicht die grundsätzlich materialistische Auffassung. Den ganzen Körper durchdringend und regierend, ist es doch im Herzen zentriert, von dem die warmen Blutströme und die Stimme ausgehen. Doch votieren spätere Stoiker nach der Entdeckung des Nervensystems und der Gehirnfunktionen durch den alexandrinischen Arzt Herophilos auch für den Kopf als "Seelensitz". Die platonische Unterscheidung von Seelenteilen wird bis zu acht (5 Sinne, Zeugungspneuma, Sprachpneuma und zentrales Führungspneuma = Hegemonikón) erweitert, andererseits unter dem Hegemonikón wieder vereinheitlicht und dynamisiert. "Wie die Spinne in der Mitte des Netzes sitzt und mit Hilfe der Fäden merkt, wenn in dieses eine Fliege gerät, so sitzt das Hegemonikón im Herzen und vernimmt dort, was die Sinne übermitteln" (Chrysipp). Die Einheitstendenz läßt auch keinen echten Gegensatz zwischen Trieb und Hegemonikón mehr aufkommen, vielmehr fügen sich Triebe und die anderen Seelenteile normalerweise und von Natur dem leitenden Geist, auch Nous oder Logos genannt. Tun sie es nicht, so ist das anormal, Zeichen einer Krankheit. So ist auch der "vernünftige" Mensch der normale, gesunde und allgemeine, derjenige aber, der mit seinen Trieben und Affekten nicht zurechtkommt, ist krank und "eigen". Der "Idiot" (idiótes = einzelner) oder "Privatmann" (aus dem Epikur ein Ideal machte) erscheint als der, welcher gemeinsamer Vernunft und der Teilnahme am Allgemeinen und Öffentlichen "beraubt" ist. Er ist wie ein Tier, das nur Anlagen zur Vernunft (Instinkte) hat, und dies gilt auch für den unreifen Menschen bis etwa zur Pubertät. Die Materialisierung der Weltvernunft in den "Vernunftsamen" (lógoi spermatikói) und der Determinismus des Weltablaufes nach dem Geschick (Anángke) verbürgt auch die inhaltliche Gleichheit des Denkens und vernünftigen Wollens der Menschen: Indem die Weltvernunft gleichsam in jeder Seele Wurzeln zieht (emphytoi logoi, daher die Lehre von den "eingewurzelten Ideen", die neben der platonischen Anamnesistheorie einhergeht), erzeugt sie "gemeinsame Meinung" (opinio communis) über die wesentlichen Dinge, zugleich die Grundlage aller Wahrheit und ihrer Erkenntnis. Idealbild des Menschen ist der Weise (der Philosoph), der "unerschütterlich" (ataraxia) durch äußere Schicksale ganz der Vernunft lebt - der Sklave Epiktet und der Kaiser Mark Aurel sind die klassischen Beispiele! -, seinen Platz in der Welt kennt (oikeiosis), Körper und Seele durch "Natürlichkeit" (s.o.: te phýsei zen) gesund erhält und mit Seinesgleichen und den übrigen Geschöpfen im guten Einvernehmen, in "Solidarität" steht.

Der Tod bedeutet die Trennung des Pneuma von der übrigen Körpermaterie. Es kehrt in den sublunarischen Luftraum zurück, wo es, nach einigen, bis zum Weltuntergang (Ekpyrosis) und neuer "Wiedergeburt" verweilt, nach anderen sich mit dem All vermischt.

Zusammengefaßt kann man sagen: 1. Das stoische Menschenbild ist grundsätzlieh materialistisch. 2. Der Mensch ist als kleiner Kosmos (Mikrokosmos) in den Gesamtkosmos (Makrokosmos) eingebettet und spiegelt ihn in Erkenntnis und Sein wieder. 3. Seine Vernunftstruktur macht ihn zum Gattungswesen, Verselbständigung der Triebe als Krankheit zum Vereinzelten, zum Tier. Hierin liegt der Anknüpfungspunkt für die besondere Eignung und Verwendung des Stoizismus in der abendländischen Rechtsideologie.

 

2. Kapitel: Die Philosophische Anthropologie der Patristik und Scholastik

Die antiken Menschenbilder bleiben auch in dieser Epoche lebendig. Zunächst dominiert das platonisch-neuplatonische bei Augustinus. In der Rezeption des Aristotelismus bei Thomas von Aquin tritt das aristotelische in den Vordergrund. Im Übergang zur Renaissance geht es eine Amalgamierung mit dem neuplatonischen und stoischen ein, wofür das Werk des Nikolaus von Kues steht.

§ 5. Das neuplatonische Menschenbild des Augustinus (353-430)

Die von Augustinus eingeleitete "zweite Wende zum Subjekt" ("Noli foras ire. In te ipsum reddi. In interiori homine habitat veritas." - Gehe nicht nach außen. Kehre in dich selbst zurück. Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.) macht das Seelenleben und Bewußtsein des Menschen zur eigentlichen Realität. Die Seele ist, wie bei Platon, unsterblich und individuell, von Gott "nach seinem Bilde" geschaffen und selber göttlich. Die platonische Lehre von den Seelenteilen wird noch mehr "dynamisiert" (griech. dynamis = Kraft, Vermögen, lat. potentia), wobei aber als Einheitsmoment (vgl. das stoische Hegemonikón) der Wille in den Vordergrund tritt. Mit Augustins Menschen- und Gottesbild beginnt der Voluntarismus (damit verbunden der ontologische Indeterminismus und die Freiheitslehre) seinen Siegeszug. Die platonischen Ideen werden "Ideen im Geiste Gottes" und Schöpfungspläne, an denen der Mensch durch Einkehr in sich selbst partizipiert (vgl. Malebranches (1638-1715) "Schau aller Dinge in Gott" und Berkeleys (1685-1753) Spiritualismus). Das biblische Gottesbild der "Dreieinigkeit der göttlichen Personen" erhält also hier seine wissenschaftlich-psychologische Unterlage: Wie die Seele ihre drei Grundkräfte: Gedächtnis, Denkkraft und Wille in ihrer Einheit und Geschiedenheit umfaßt, so sind auch "Vater" (Gedächtnis als Ort der Ideen), "Sohn" (Denkkraft, intellectus) und "hl. Geist" (Wille, voluntas) zugleich eines in der Dreifaltigkeit. Dieser Trinität werden auch die Charakteristika Sein – Wissen - Liebe zugeschrieben. Die Mikrokosmosidee der Stoa hierher übertragen, macht den Menschen zum "kleinen Gott", der ersichtlich seit der Renaissance immer größer wird. Und wie der hl. Geist alles durchwebt, so auch sein menschliches Pendant: der Wille: "Voluntas est quippe in omnibus, immo omnes nihil aliud quam voluntates sunt" (Der Wille ist gewissermaßen in allem, daher ist alles nichts anderes als Willen.).

Bei Descartes wird er sich - trotz seinem angeblichen Rationalismus – auf alles erstrecken, denn im Willen ist der Mensch "gottgleich", in der Ratio jedoch fehlbar.

Da Augustin gleichsam die Triebe in den Willen aufgenommen hat, muß er dem gelegentlich durch die Rede von zwei Willen, ja einer Selbstzerfleischung des Willens (dies gibt das Modell der Böhme-Schellingschen Theorie von der Selbstentäußerung des Absoluten in der Schöpfung ab!) Rechnung tragen: "Es ist ein und dieselbe Seele, nur nicht mit ganzem Willen zu dem einen oder anderen gewillt, und so zerspannt sie sich zu ihrer schweren Pein ... Und deshalb sind zwei Willen da, weil der eine nicht ganzer Wille ist und das, was dem einen fehlt, der andere hat" (Confessiones VIII). So ringen Gott und Teufel, guter und böser Wille in der menschlichen Seele, und der Ausgang des Kampfes bestimmt die eine zu ewiger Seligkeit, die andere zu ewiger Verdammnis. Augustins Neuplatonismus versetzt alle Realität in die Seele. Sie wird als Gedächtnis (memoria) zum Raume, in dem das Sein sich zeitlich entfaltet: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden zu innerlichen Dimensionen, in denen sich Erinnerung, sinnliche Erkenntnis und Wollen ereignen, wie - theologisch gesprochen - auch der Sohn und der hl. Geist beim Vater sind. Sein Grund aber ist unauslotbar: "Im Gedächtnis bleibt auch das Vergessen(e)". Wiedererinnerung (Platons Anamnesis): Ergänzung des Teils aus der Kenntnis des Ganzen. In Augustins Seelenlehre hat man das Grundmodell aller neuzeitlichen Idealismen.

Zusammengefaßt: 1. Augustins Menschenbild ist neuplatonisch: der Mensch ist wesentlich Seele. 2. Der Wille (Platons Triebe in sich aufnehmend) tritt in den Vordergrund: der Mensch wird wesentlich Willenswesen. 3. Die (platonischen) Seelenteile werden zu Seelenkräften, die die Realität in ihren zeitlichen Ekstasen erzeugen. 4. Der Parallelismus von Gottes- und Seelenbegriff ist gleichzeitig "wissenschaftliche" Erklärung des abendländisch-christlichen Dreieinigkeitsgottes und theologische Weihe des augustinischen Menschenbildes, die ihm bis heute dominierende Wirksamkeit verleiht. Es wird zum "protestantischen" Menschenbild par excellence.

 

§ 6. Das aristotelische Menschenbild des Thomas von Aquin (1225-1274)

Es betont wieder den "organischen", aus Leib und Seele zusammengesetzten Charakter des Menschen. Er ist "animal rationale", durch seine Vernunft gegenüber den anderen Tieren ausgezeichnetes Lebewesen. Der Leib ist "organon" (Werkzeug) der Vernunft, wie die Hände wiederum "Werkzeug der Werkzeuge" sind. Über Aristoteles hinaus wird die Vernunft ein einheitliches Vermögen (intellectus), innerhalb dessen das diskursive Erkenntnisvermögen (ratio) gleichwohl etwas Niedrigeres (inferior intellectus) bleibt. "Es enthält die Vernunftseele potentiell (virtute) alles, was die sinnliche Seele der Tiere und die nährende Pflanze hat" (Summa theologica I q.76 a 3c). Aristotelisch und stoisch zugleich ist der Gedanke der Einbettung des Menschen in die Naturreiche und der Ausrichtung der ganzen Schöpfung auf den Menschen hin: "Die höchste Stufe der gesamten Schöpfung ist die menschliche Seele, und zu ihr hin strebt die Materie wie in ihre äußerste Form ... Der Mensch nämlich ist das Ziel der gesamten Schöpfung." Als oberstes Körperwesen ist der Mensch zugleich niederstes Geistwesen unter den Engeln und abgeschiedenen Seelen, zu denen er nach dem Tode eingeht. Er steht im Schnittpunkt der körperlichen und der geistigen Welt. Er ist "quasi horizon et confinium spiritualis et corporalis naturae, ut quasi medium inter utrasque bonitates participet et corporales et spirituales" (gleichsam Horizont und gemeinsame Grenze der geistigen und körperlichen Natur, damit er gleichsam als Mittleres zwischen beiden an beiden Gütern, den körperlichen und den geistigen, teilnehme; Prol. in III. sententiarum). Wille und Triebe folgen der dominierenden Vernunft, die ihnen durch die Erkenntnis des Wahren und Guten die Ziele vorgibt. Sünde und Übel sind nur Täuschungen über das Wahre und Beraubungen am Guten. Da auch der thomistische Gottesbegriff dem entspricht, haben wir in Thomas‘ Lehre den wirkungsvollsten Typus des abendländischen Rationalismus. Gott, Mensch und Natur als rationale Wesen sind grundsätzlich auch erkennbar, berechenbar, ja verwaltbar. Gott ist nur "verhältnismäßig" (per analogiam) höheres Sein und höhere Vernunft als der Mensch, der sich entsprechend durch Ausbildung seiner Vernunft und "theoretisches" Leben gleichsam vergöttlicht. Hier haben wir das "katholische" Menschenbild kat‘ exochen.

 

§ 7. Das Menschenbild des Nikolaus von Kues (1401-1464)

Dieses ist wiederum eine Synthese des neuplatonisch-augustinischen und des aristotelisch-thomistischen. Von ersterem stammt der Zug: "Der Mensch ist Gott, wenn auch nicht abolut, da er Mensch ist. Er ist also ein menschlicher Gott ... Gott auf menschliche Weise. Er kann ein menschlicher Engel, ein menschliches Tier, ein menschlicher Löwe oder Bär oder was immer sonst sein. Denn in der Potenz des Menschlichen existiert alles auf seine Weise" (De coniecturis II, 14). Von letzterem nimmt es die Zwischenstellung zwischen geistiger und körperlicher Welt an. Der Mensch ist Bürger zweier Welten, er steht "in horizonte duorum mundorum" und ist gleichsam das Band der Gesamtheit des Seienden ("quasi nexus universitatis entium", De mente). Aber der strikte Gegensatz von geistiger und körperlicher Welt wird aufgehoben und im Sinne der neuplatonischen Seinshierarchie in eine triadische Periodik der Seinsstufen hineingespannt: "Begreife das Wesen des Menschen aus der Einheit der Lichter der menschlichen Natur und aus der Andersheit der körperlichen Finsternis ... Du wirst in ihm deutlich drei Sphären wahrnehmen: eine untere, eine mittlere und eine obere, und diese wiederum dreimal dreifach abgestuft, unedle Körperteile, welche in ständigem Flusse befindlich sind, fester gefügte und geformte und sehr edle wirst du stufenweise erkennen. Nach diesen nimmst du in gleichem Aufstiege geistigere Organe des Körpers wahr, welchen Wahrnehmungsvermögen eigen ist; auch diese teile stufenweise ein, um von den stumpferen zu den feinfühligeren zu gelangen" (De coniecturis II, 14). Hinzu tritt die stoische Idee des Mikro-Makro-Kosmos-Verhältnisses des Menschen zur Welt. Wie der Mensch in seiner leiblich-geistigen Konstitution alle Sphären des Seins repräsentiert, so ist er auch in der Lage, mit seinem göttlichen, d.h. vernünftigen Teil dieses Sein selbst nachzuschaffen. Als "menschlicher Gott" verbleibt er aber im Endlichen. Das Unendliche ist die Grenze seiner Einsichtsfähigkeit, der er sich im Durchgang durch das Wissen, im "wissenden Nichtwissen" (docta ignorantia) nur annähern kann. Die strengste Erkenntnismethodologie, die mathematisch-geometrische, demonstriert diese Grenzen im Zusammenfall alles Diskreten im Unendlichen (coincidentia oppositorum): Das unendliche Vieleck wird Kreis, der unendliche Kreis wird Linie usw. Und wie das Dreieck im Grenzübergang zum Unendlichen Modell für die Einheit und Ununterscheidbarkeit von Linie, Kreis und Kugel ist, so gilt es auch für die Koinzidenz der drei göttlichen Personen in Gott oder "für alles, was dreiheitlich existiert" (De docta ignorantia I, 20). Indem der Mensch so mit höchster Wissenschaft (mathematisch) die Welt (re)konstruiert und zugleich im Wissen die absolute Grenze des Wissens gegenüber dem Unendlichen, d.h. Göttlichen, erfährt, ist er nur "schaffender Spiegel" (De Beryllo 6), der auf das gött1iche Licht angewiesen bleibt.

Wir haben es beim Menschenbild des Kusaners mit einer Konkordienformel zu tun, die selber wie ein "schaffender Spiegel" die dominierenden abendländischen Menschenbilder vereinigt.

 

 

3. Kapitel: Die Philosophische Anthropologie der Neuzeit

 

Die Neuzeit bricht dieses Menschenbild wieder auseinander. In überheblichem Modernitätsbewußtsein beginnt sie die Analyse des Menschen von neuem und bewegt sich doch in den vorgebahnten Wegen der klassischen Menschenbilder. Unverbunden gehen die Tendenzen einerseits auf die erschöpfende Erforschung der körperlichen Natur des Menschen, aus der auch seine "geistige" Seite miterklärt werden soll - wir nennen das Naturalismus; andererseits auf die Erhellung seines geistigen Wesens, in welchem selbst alle Materialität sich erst konstituiert - wir nennen das Spiritualismus. In der "dritten Wende zum Subjekt" von der cartesianischen Cogito-Philosophie an bis zum Kulminationspunkt im deutschen Idealismus dominiert das naturalistische Paradigma, welches heute in der akademischen Philosophie und Wissenschaft vom Menschen fast ausnahmslos das Feld behauptet. Gleichsam nur Fragmente des spiritualistischen Menschenbildes werden allenthalben zum Idol neuplatonischer Kulte außerakademischer Sekten und Sektierer. Eine neue Konkordienformel ist nicht in Sicht.

Gemeinsamer Ausgangspunkt beider Tendenzen ist (neben dem Menschenbild des Kusaners) der mondäne Neuplatonismus der Renaissance. In Pico della Mirandolas berühmter Rede "De dignitate hominis" (Über die Würde des Menschen, 1486) wird der Mensch "sein eigener Werkmeister und Bildner" (arbitrarius plastes et fictor), der - fast in cusanischen Worten wird es gerühmt - frei ist, sich zum Tier zu machen wie "sich zu erheben zu den höchsten Sphären der Gottheit", ja "mit Gott selbst eins werden ein Geist, und er wird, emporgehoben in die einsame Höhe, in welcher der Vater über allem thront, selbst über alles, was ist, seinen Thron errichten". Der Naturalismus macht den Gott zu etwas Menschlichem, zuletzt zu einer Metapher (s. Feuerbach); der Spiritualismus nimmt die Rede wörtlich.

 

§ 8. Die naturalistische Auffassung vom Menschen

Sie erklärt den Menschen aus seiner körperlich-leiblichen Natur. Die Entwicklung und Spezialisierung der Naturwissenschaften und positiven Wissenschaften vom Menschen bringt dazu immer neue und mehr Gesichtspunkte, die ihn in die verschiedenen Reihen der Naturwesen eingliedern und mit ihnen vergleichen lassen. Geben wir Beispiele:

1. Anatomie und Physiologie: Von Harveys Entdeckung des Blutkreislaufes (De motu cordis et sanguinis, 1628; De circulatione sanguinis ad Riolanum, 1649) über Lamettries Maschinen- und Pflanzenmenschen (L‘homme machine, 1748; L‘homme plante, 1748), den naturwissenschaftlichen Materialismus eines Büchner und Moleschott und den Energetismus eines Wilh. Ostwald und Felix Auerbach reicht die Linie der mechanischen Betrachtung des Menschen bis zur modernen Gen-Manipulation und Ersatzteil-Chirurgie. Es eröffnet sich die Aussicht auf den vollständigen Ersatz des körperlichen Menschen durch sein "geklontes" Double oder den technischen Roboter.

2. Biologie: Während Hobbes den Wolf, B. de Mandeville den Bienenstaat bemühen, um die wahre "Natur" des Menschen zu demonstrieren, ordnet ihn C. v. Linné im "natürlichen System" der Tiere (Systema naturae, sive regna tria naturae systematice proposita, 1735) unter die "Primaten" (Menschenaffen) ein, Ch. R. Darwin knüpft ihn entwicklungsgeschichtlich an den Stammbaum der Lebewesen an (The descent of man and on selection in relation to sex, 1871). Von hier geht die Linie weiter zu L. Bolks "infantilem Affen" und Portmanns "physiologischer Frühgeburt" und "sekundärem Nesthocker". Auch H. Plessners Exzentrizitätstheorie des Menschen und A. Gehlens Auffassung vom Organ-Mangel kompensierenden Tier stehen grundsätzlich auf diesem Boden. Das gilt auch für die vergleichende Verhaltensforschung, ausgehend von I. P. Pawlows Entdeckung des "bedingten Reflexes" beim Hunde (Nobelpreis 1904) bis J. v. Uexküll, F. J. Buytendijk und K. Lorenz, die uns den Menschen so "tierisch" verstehen lehren, getreu noch immer der Forschungsfrage F. Bacons: "si anima humana gradu potius quam specie discriminata esset ab anima brutorum".

3. Ethnologie (engl. "cultural anthropology"): In ihr verwandeln sich die alten Mythen vom "ursprünglichen" und "vorgesellschaftlichen" Menschen zum Ideal des "Naturmenschen", den sie in den Lücken der zivilisierten Welt aufspürt. Von Lafiteaus "Moeurs des sauvages ameriquains comparées aux moeurs des premiers temps" (1724), Voltaires edlen Huronen, Rousseaus Karaiben, Robinson Crusoes (Daniel Defoes) "Freitag" geht die Linie über Herders "Naturvölker" zu den Forschungen F. Boas‘, Br. Malinowskis, M. Meads und R. Benedicts sowie zur "strukturalen Anthropologie" von C. Lévi-Strauss, die - ganz nach dem Vorbild des Tacitus - dem Zivilisationsspätling den wahren Menschen im primitiven enthüllen.

4. Die Pädagogik hat aus diesen Entwicklungen ihre Schlüsse gezogen. Im 18. Jahrhundert entdeckt man das Kind als den "natürlichen" Menschen (J. J. Rousseau) und verbannt es sogleich in die "pädagogische Provinz", um ihm seine Natürlichkeit inmitten der perversen Gesellschaft zu erhalten. Für Rousseau war ein "Mensch, der denkt, ein entartetes Tier". Glücklicherweise nahm man die Sache damals nicht so ernst. Aber heute kommen die pädagogischen Natur-Ideale des Kindischseins und der Hirnlosigkeit voll zum Tragen.

Wie die Beispiele zeigen, ist recht Beliebiges zur "Natur des Menschen" zu erklären. Und doch läßt uns dies unbefriedigt. Dies Faktum selbst ist bedeutsam. Schon Pascal wußte es: "Die wahre Natur des Menschen ist verloren, so wird ihm alles zur Natur" - auch die aus zweiter Hand.

 

§ 9. Die spiritualistische Auffassung vom Menschen

Die spiritualistische Auffassung vom Menschen ist die Gestalt, in welcher der Neuplatonismus in der Neuzeit existiert. Hier ist der Geist die unhinterfragbare Realität, die auch das Körperliche - als Phänomen, Erscheinung, Schein - umfaßt und miterklärt. Aber in reiner Form finden wir ihn nur in Leibnizens Monadenlehre, in Berkeleys eigentlich sog. Spiritualismus und in den nachkantischen idealistischen Systemen, die ihrerseits wesentlich zur Modernisierung der neuplatonisch-christlichen Menschenbilder der Theologien beigetragen haben. Danach wandert er in außerakademische Ideologien wie mannigfache "Geheimlehren" (Blavatsky, Od-Lehre Reichenbachs), religiöse Strömungen (bes. Rudolf Steiners "Anthroposophie") ab, um in unseren Tagen von daher einen neuen Siegeszug in der akademischen Randszene zu beginnen (Scientology, Para- und Psi-Psychologie, Tiefenpsychologie Freuds und Jungs). Unter dem Eindruck der positiven Naturwissenschaften und ihres Realitätsbegriffs neigen die Spiritualismen (sie sind metaphysisch Gestalten des Idealismus) zu Kompromissen mit dem Realismus, die sich in Brüchen und Widersprüchen im idealistischen Denken darstellen: Materie, Körperliches, "Realgrund" wird kaum mehr aus dem geistigen Prinzip deduziert, sondern in angeblicher "Faktizität" gleichsam stehengelassen. Die Geschichte der "primären Qualitäten" seit Locke, des "Dings an sich" bei Kant und seit Kant, das Problem der Leiblichkeit bei Schelling und nicht zuletzt die Tragödie des "Sinnkriteriums" im modernen Empirismus (der hierin seinen idealistisch-sensualistischen Ansatz, d.h. seinen Berkeleyanismus verleugnete) legen beredtes Zeugnis davon ab.

Und dennoch war er die ideologische Grundlage für die Entwicklung der "Geisteswissenschaften". Wir behaupten, daß ihr Name auch jetzt noch mehr ist als ein abgeblaßtes Etikett. Sie waren und sind - wie man in anderen Ländern lieber und ebenfalls richtig sagt – "Wissenschaften vom Menschen" (sciences humaines, humanities etc.). Ihre Leitwissenschaft ist die Psychologie, neben ihr sind es Philologie (Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften) und Geschichte, die in disziplinärer Entfaltung ihren Bestand bilden (vgl. § 28). In ihren Forschungsbeiträgen liegt daher die "geisteswissenschaftliche Anthropologie", die den Menschen grundsätzlich als Geistwesen, Sinnwesen, Träger und Exekutor des "objektiven Geistes" (mit schlechtem Gewissen sagt man auch "objektivierter Geist" mit Nicolai Hartmann) versteht. Skizzieren wir die Beiträge dieser Disziplinen:

1. Die Psychologie

Sie wird durch die cartesianische Wende zum Subjekt auf neuplatonisch-augustinische Grundlagen gestellt. In den Akten des Cogito konstituiert sich alle Realität: das Ich, Gott, die ausgedehnte Materie (Körperlichkeit). Der augustinische Zug dieser Theorie zeigt sich in der unausgewiesenen Mitsetzung der "Ichlichkeit" (die sich im Bewußtsein keineswegs urphänomenal ausweist, wie Hume und Kant mit recht gezeigt haben) sowie im Voluntarismus (speziell der Urteilslehre: Meditationen IV). Die Gleichrangigkeit von ausgedehnt körperlicher Substanz mit der denkenden Substanz ist ein Widerspruch im System, gleichsam der Sündenfall des Stammvaters aller neuzeitlichen Bewußtseinsphilosophie. Er führt Descartes in der Ausarbeitung seines Menschenbildes (Les passions de l'âme, 1649) zum dualistischen aristotelischen Menschenbild zurück. Das Verhältnis von Seele und Körper (mechanisch vermittelt über Bewegungen der Zirbeldrüse) kann auf dieser Basis nicht erklärt werden, wie die Geschichte des Occasionalismus zeigt. Die spinozistische (monistische) Lösung ist historisch nicht zum Tragen gekommen und harrt auch heute noch der Aktualisierung.

Die Lockesche und Humesche Erkenntnisanalyse bereichert die Psychologie um wesentliche und richtige empirische Einsichten. Wir sehen diese besonders im "sensualistischen" Reduktionismus aller Bewußtseinsgegebenheiten auf Sinnesleistungen. Sie werden durch Vermittlung Condillacs in Frankreich Grundlage der Psychologie der "Ideologie" am Institut de France, von wo sie Einfluß auf das Gesamt der "sciences humaines" gewinnen. In Deutschland verbindet sich ihr Einfluß mit demjenigen Leibnizens in der Erzeugung einer ausgebreiteten "deutschen Schulpsychologie". Leibniz zieht - ebenso wie Berkeley, der aber keine Anthropologie oder Psychologie entwickelte und daher für diese Disziplin wirkungslos blieb - die Konsequenz aus dem neuplatonischen Ansatz des Descartes. Er vermeidet dessen Fehler und Widersprüche, indem er das Körperliche, die ganze sog. Außenwelt, zum Bewußtseinsphänomen macht. Sein Augustinismus erweist sich wiederum in der axiomatischen Übernahme der Ichlichkeit für die Monade (damit verbunden der Pluralismus der Monadenwelt als des Gesamts der unsterblichen Seelen). Das voluntaristische Motiv wird in das Definitionsmerkmal "Kraftwesen" der Monade transformiert. Das Merkmal der "Fensterlosigkeit" der Monade unterstreicht den spiritualistischen Zug dieser Monadenanthropologie; es steht jedoch im Widerspruch zum Monadenpluralismus und erweist sich als schwere Hypothek dieses Ansatzes (die auch alle späteren Solipismen und Intersubjektivitätstheorien nicht abgetragen haben). Als höchst folgenreich erwies sich Leibnizens Entdeckung (oder Erfindung) des Unbewußten. Es ergibt sich als logisches Konstrukt aus der Definition der Monade als "immer tätigem Kraftwesen" und dem Prinzip der Kontinuität ("lex continui"), bleibt aber widerspruchsvoll: Die cogitatio der Monade ist ein ununterbrochener "Kraftakt", der auch im Schlaf, im Vergessen, im Tode stattfindet. Als "unbeobachtbarer Parameter" (die moderne Gestalt der "okkulten Qualitäten") geht er als contradictio in adiecto in die Definition des Bewußtseins ein. Bewußtsein ist zugleich Bewußtsein und Nicht-(Un-) Bewußtsein! Nach dem "Grade des Bewußtseins": ausgehend von klaren und deutlichen Vorstellungen über Sinneseindrücke bis hinunter in die unbewußten Regungen der Seele, teilt Leibniz in ein Skalenkontinuum ein: 1. die "apperceptionen" als bewußte Wahrnehmungen bzw. "Bewußtsein" im eigentlichen Sinne (das deutsche Wort ist die neue Übersetzung des lateinischen apperceptio); 2. die Perzeptionen als einfache Sinneswahrnehmungen (ohne besondere Aufmerksamkeit); 3. die "kleinen Perzeptionen" (petits perceptions) als "unbewußte Wahrnehmungen" etwa im Schlaf (wobei hier wieder die contradictio in adiecto zutage tritt!); 4. unter ihnen gibt es noch die "Strebungen" (appetitions), die demnach ganz im Unbewußten wirken.

Es ist von höchster Wichtigkeit für das Verständnis moderner Entwicklungen, sich die Umgestaltung des neuplatonischen Seelenmodells bei Leibniz klar zu machen: Die anthropologische Hierarchie der Seelenvermögen gerät in umgekehrte Proportionalität zur ontologischen Hierarchie der Wesenheiten, während sie bisher direkt proportional war. Vernunft und Denken galt als das Göttliche im Menschen, Trieb- und (Willens-)Strömung als niederste Lebensform (vegetativ). Das Göttliche aber galt als "unsichtbar", "verborgen"; das pflanzliche Leben wie die Natur als das Sinnenfällige. Bei Leibniz wird umgekehrt das Unbewußte (damit auch Unsichtbare, Unkennbare) als Ort der Triebe in die ontologische Position des Göttlichen versetzt, während das Denken und die Sinnlichkeit zum Organ der Welterkenntnis und damit der Natur zugeordnet wird. Nur so ist die Aszendenz des Unbewußten in neuzeitlicher Philosophie (Schelling, Fries, Herbart, Ed. v. Hartmann, Freud) verständlich: Sie ist die säkularisierte Theologie eines säkularisierten Neuplatonismus.

Durch Christian Wolffs "empirische" und "theoretische" Psychologie (Psychologia empirica, 1732; Psychologia rationalis, 1734) wird dieses Seelenmodell verbreitet. Die Kontinuität der Bewußtseins gerade aber wird zugunsten der Unterscheidung zwischen niederer Sinnlichkeit, die "undeutliche Vorstellungen" produzieren soll, und höherer Denktätigkeit bzw. eigentlichem "Bewußtsein", aus dem "deutliche Vorstellungen" entspringen sollen, wieder aufgegeben. Buchtitel wie der eines Anonymus: "Neues System der Kräfte des menschlichen Verstandes nach dem Unterschiede der untern und obern Erkenntniskräfte" (Berlin 1770) sind zahlreich. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts tritt an die Stelle der Zweiteilung eine Dreiteilung der Seelenvermögen. Moses Mendelssohn kommt mit der Dreiteilung von Denken – Wollen - .Empfinden bzw. Erkenntnis-, Billigungs- und Begehrungsvermögen (Morgenstunden oder über das Dasein Gottes, 1785) geradezu auf den Platonismus zurück. Johann Nikolaus Tetens macht das "Gefühl" zum mittleren Vermögen (Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, 2 Bde. 1776/77, Neudr. 1913) und gibt damit romantischer "Gefühligkeit" ihre philosophische Grundlage.

Kant versucht zwar seine Transzendentalphilosophie von aller Psychologie abzuheben, er entwickelt aber in der Tat nur die Wolffsche rationale Psychologie zu einer Theorie des "transzendentalen Bewußtseins" ("transzendentale Apperzeption"), neben der seine "pragmatische Anthropologie" einen "naturalistisch-völkerkundlichen" Fremdkörper bildet. Seine drei "Kritiken" , nämlich der "reinen Vernunft" (1781, 2. Aufl. 1787 ), der "praktischen Vernunft" (1788) (eigentlich eine Kritik des Willensvermögens) und der "Urteilskraft" (1790, 2. Aufl. 1793) (eigentlich eine Kritik der schöpferischen Phantasie) demonstrieren die neuplatonische Welt- und Wirklichkeitskonstitution aus diesen Kräften der Seele. Die Totalisierung der psychischen Realität zur einzigen Realität überhaupt bleibt dann das Kennzeichen des deutschen Idealismus: bei Fichte die Hypostasierung des Ich, das sich in Ur-Tathandlungen entfaltet (Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 1794 u.ö.); bei Schelling die absolute Vernunft, die den Lebenstrieb und Drang in sich aufgenommen hat (Von der Weltseele, 1798; System des transzendentalen Idealismus, 1800); bei Hegel der absolute Geist, der evolutiv seine Vermögen - immer noch Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft, aber transformiert in Gedächtnisleistungen (seine Philosophie kann als ein "Memorialismus" angesprochen werden) - zur Wirkung bringt und so die geschichtlichen und ontischen Seinssphären aus sich entläßt (Die Phänomenologie des Geistes, 1807); bei Schopenhauer endlich der Weltwille, der sich in der Spezies Mensch die Intelligenz erzeugt, durch die er die Nichtigkeit seines dumpfen Strebens und Dranges erkennen kann (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1819). Und es entspricht solchem metaphysischen Psychologismus und Spiritualismus, daß keiner dieser Autoren daneben noch eine disziplinäre Psychologie vorgelegt hat, für die es in ihren Systemen auch keinen Platz mehr gibt.

Daneben sind die "realistischen" Kant-Nachfolger und Kant-Interpreten sogar die eigentlichen Begründer der modernen einzelwissenschaftlichen Psychologie und Anthropologie in Deutschland. Dies gilt vor allem für Jakob Friedrich Fries und Johann Friedrich Herbart. Sie können zwar nicht Spiritualisten genannt werden, doch bewegen sie sich so sehr im Milieu idealistischer Vorstellungen, daß ihnen auch die vorgebliche Realität der körperlichen Außenwelt durchaus problematisch bleibt. Beide nehmen sie die Leibnizsche Theorie des Unbewußten wieder auf und ziehen daraus schwerwiegende Folgerungen für den Mechanismus und Dynamismus des Bewußtseins, ohne jedoch den Grundwiderspruch in dieser Theorie zu beseitigen. Fries gibt in seinem "Handbuch der psychischen Anthropologie" (2 Bde. 1820/21) einerseits eine vielbeachtete Theorie des "unteren Gedankenlaufes", in der er wesentliche Einsichten späterer Psychiatrie über Geisteskrankheiten vorausnimmt, andererseits "deduziert" er alle metaphysischen Wahrheiten aus dem Unbewußten, wo sie in der "Ahndung" aufschimmern. Herbart bemüht sich geradezu um eine mathematisch-dynamische Theorie der Assoziation, Verdrängung und Komplexbildung von Vorstellungen im Unbewußten (Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, 2 Bde. 1824/25). Von diesen modernen Begründern einer Psychologie des Unbewußten führt die Linie über G. Theodor Fechner (1801-1887), den Begründer der Psychophysik (Elemente der Psychophysik, 1860, 3. Aufl. 1907; Über die Seelenfrage. Ein Gang durch die sichtbare Welt, um die unsichtbare zu finden, 1861, 2. Aufl. 1907) und Eduard v. Hartmanns (1842-1906) Philosophie des Unbewußten (1869, 12. Aufl. 1923) zur Psychoanalyse Sigmund Freuds (1856-1939) (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 4. Aufl. 1922) und Carl Gustav Jungs (1875-1961) (Das Unbewußte im normalen und kranken Seelenleben, 1916 u.ö.) Lehre vom kollektiven Unbewußten. Hier eröffnet sich dem modernen Neuplatonismus ein weiter Tummelplatz willkürlicher Spekulationen und Konstruktionen angeblicher Triebdynamismen, die als unbeobachtbare Parameter die manifesten Bewußtseinserscheinungen hervorbringen und erklären sollen, so wie man im klassischen Neuplatonismus der Spätantike alles sichtbare Naturgeschehen auf die geheime Wirkung von Geistern, Engeln und Dämonen zurückgeführt hatte.

Daneben bemühte und bemüht sich die sog. geisteswissenschaftliche Psychologie um die empirische Erforschung der einzelnen Vermögen - oder in der Ganzheitspsychologie - um den "personalen" Menschen in der Totalität aller seiner Aspekte. Sie befindet sich jedoch zwischen den modischen imperialistischen Ansprüchen des psychologischen Naturalismus (bes. Behaviorismus Skinnerscher Provenienz) und der Tiefenpsychologie in verzweifelter Defensivlage.

2. Die philologisch-historischen Wissenschaften (Kulturwissenschaften)

Die philologischen Bewegungen der Renaissance und die sie begleitende Geschichtsschreibung verlangten von vornherein nach einem Begriffe von einem Träger aller der hier thematisierten Zeugnisse und Dokumente sprachlicher und materieller Kultur. Der Individualismus der Renaissance begnügte sich dafür mit den "Autoren" selber, die er mit klassischer "Autorität" ausstattete und zu bis heute wirksamen Vorbildern menschlichen Seins hochstilisierte. Der Denker, der Dichter, der Staatsmann, der Künstler verkörpern jeweils in den "großen Männern" (selten in großen Frauen) ihres Genres die großen Vorbilder "beruflichen" Lebens. Der Erstellung des Werkes in der "kritisch-historischen Gesamtausgabe" und der biographischen Nachzeichnung aller, gar auch intimster Lebensäußerungen gilt bis heute andächtige Gelehrtenarbeit ganzer Generationen. Solch gelehrter Personenkult, der ersichtlich dem Menschlich-Allzumenschlichen den Heiligenschein mittelalterlicher Heiligenlegenden verleiht, hat sicher mehr für das Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen beigetragen, als es je psychologische Einsicht und anthropologische Theoriebildung vermochte.

Da sich aber nicht alles literarisch-historische Dokumentenmaterial solchen Sternen erster Ordnung zuordnen läßt, mußte man sich alsbald nach weiteren Trägern umsehen. Das war dann der Schul- und Parteigeist, zu dem man die Sterne zweiter Ordnung um die erstrangigen versammelte. Von da ging man zu den Nebelgebilden der Volks- und Nationalgeister über, die sich noch einmal in großflächige Kulturgeister einschmelzen ließen. In zeitlicher Erstreckung wurde das ganze dann in Strömungen, Stilformen, Epochengeister und mannigfache "-Ismen" eingeteilt. In mehreren "humanistischen" Wellen stilisierte die Altphilologie erst das Menschenbild des stolzen Römertums, dann dasjenige des feinsinnigen Griechentums, das mit Hilfe des Humboldtschen Gymnasiums und des deutschen Gymnasialprofessors ganze Generationen prägte, bis dann die neusprachlichen Philologien ebenso epochal wirksam den christlich-germanischen, den gallischen, angelsächsischen oder slavischen Menschentyp entdeckten.

Der erste, der mit der Sondierung der Nationalcharaktere begann, war wohl John Barclay mit seinem Icon animorum (Bild der Seelen, 1614, zuletzt noch Frankfurt 1774), in welchem Werk er den "eigenen Geist" (proprium spiritum) der Zeitalter erkunden wollte. Montesquieu konstruierte dann schon ganz im Sinne nachmaligen "objektivierten Geistes" den "Geist der Gesetze" (De l‘esprit des lois, 1748) als Träger ganzer Rechts- und Staatsordnungen. Voltaire ging in geschichtsphilosophischer Perspektive zum "Geist der Nationen" über (Essai sur les moeurs et l‘esprit des nations, 1756), D. Tiedemann beschrieb in 6 Bänden den "Geist der spekulativen Philosophie" (1791-97), und J. Neeb handelte "Über den in verschiedenen Epochen der Wissenschaften allgemein herrschenden Geist und seinen Einfluß auf dieselben" (1795). Diese noch zaghaften aufklärerischen Geist-Hypostasen gerinnen im deutschen Idealismus zum "objektiven Geist", dessen allseitige Manifestationen die Wort- und Sachphilologien und die Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts aufarbeiten. Der Schleiermacherianer Heinrich Ritter formuliert das Programm der modernen Literatur- und Geistesgeschichte: "Nicht nur der Geist des einzelnen Philosophen soll erkannt werden, auch der Geist seiner Schule, der Geist seiner Zeit, der Geist seines Volkes, indem vorausgesetzt wird, daß in allen diesen Gestalten sich eine eigentümliche Art finde, nach welcher die Kraft der Menschheit sich äußere. Die höchste Aufgabe für die Geschichte würde es sein, wenn sie erreichbar wäre, den Geist der Menschheit selbst darzustellen" (Über die Bildung des Philosophen durch die Geschichte der Philosophie, 1817). Diese Tendenzen verschmelzen mit romantisch-lebensphilosophischer Auffassung vom Geist als "höheres Leben" und "Organismus" (Fr. Ast, 1807), dem sich "Geistesgeschichte", "Geisteschemie" und "Geistesphysik" (Fr. Schlegel, P. I. V. Troxler) - kurz: die romantische "Geisteswissenschaft" (Fr. Schlegel) - zu widmen habe. Sie verschmelzen auch mit der Herder-Humboldtschen Volksgeistlehre, die nachmals von Moritz Lazarus (1824-1903) und H. Steinthal (1823-1899) zu einer Völkerpsychologie und allgemeinen vergleichenden Sprachwissenschaft ausgebaut wurde (vgl. die von ihnen hsgg. "Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" 1860-1890 in 20 Bdn.). Ihre philosophische Grundlagentheorie aber war die Hegelsche "Phänomenologie des Geistes"(1807) mit ihrer Lehre vom "objektiven Geist", der sich in den verschiedenen Kulturgestalten manifestiert: "Die wesentliche Kategorie ist die Einheit aller dieser verschiedenen Gestaltungen, daß Ein Geist nur ist, der sich in verschiedenen Momenten manifestiert und auslegt" (Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie).

Für die philosophische Anthropologie war es von höchster Bedeutung, daß in solcher sprach-, kultur- und geschichtsphilosophischen Arbeit kulturelle, nationale und geschichtlich-epochale Typen des Menschentums etabliert wurden, die ihrerseits nicht minder wirksame Leitbilder für das Selbstverständnis des modernen Menschen in seinen Orientierungskrisen wurden, als es die klassischen "Autoritäten" professioneller Menschenbilder waren. Daß die Partizipation an Sprache, literarischer Gedankentradition und historischem Schicksal seiner Gemeinschaft den Menschen wesentlich prägt und zu dem macht, was er jeweils ist, das ergab sich als unverlierbares Resultat aller dieser Studien schon im 19. Jahrhundert.

Durch W. Dilthey (1833-1911) und seine Schule ist uns dieses Erbe ins 20. Jahrhundert überführt worden. Daß alle geisteswissenschaftliche Forschung letztlich anthropologische Forschung sei, das hat er in der Maxime ausgesprochen: "Was der Mensch sei, erfährt er nur durch die Geschichte."

Kritisch wird man anmerken müssen, daß die fortgetriebene historische Analyse des Menschen nur zeigt, daß der Mensch zu allen Zeiten und in allen Lagen verschieden und auch wiederum gleich war und ist, so daß sich aus historischer Forschung allein überhaupt kein Argument über das Wesen des Menschen ergibt. Geschichte als Faktenkunde liefert vielmehr Argumente für alles und nichts. Aus diesem historischen Dilemma war es denn auch kein Ausweg, daß die Existenzialphilosophie unter Berufung auf Dilthey den Menschen aus seiner "Geschichtlichkeit" erklären wollte und die Geschichtlichkeit geradezu zu seinem Wesensmerkmal machte. Um dem einen guten Sinn zu verleihen, kommt alles auf die ontologische Analyse von Geschichte selber an.

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