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Kagura: ein Tanz für die Götter – aber wie lange noch?

Kagura Titelbild

Foto: Thomas Ladurner

In den Semesterferien waren einige unserer MA-Studierenden zusammen mit Prof. Shingo Shimada zu einer Exkursion in der Präfektur Shimane und haben dort die Auswirkungen des demographischen Wandels für den ländlichen Raum in Japan erforscht. Wir starten dazu nun eine Serie von Artikeln, in denen uns die MA-Studierenden von ihren Erlebnissen berichten. Den Anfang macht heute Thomas Ladurner, der von einem Tanz für die Götter berichtet:

Und im Nu sprang die achtköpfige Riesenschlange hervor und verschlang die Prinzessin Inada. Mit dieser Szene eröffneten die Schausteller des Kagura-Ensembles ihre Performance. Kagura? Noch nie davon gehört? Auch wir Teilnehmer der fünftägigen Japan-Exkursion konnten uns anfangs wenig unter diesem Begriff vorstellen.

Was ist Kagura?
„Halb Nō, halb Kabuki, ein Mix aus beidem kennzeichnet diese theatrale Unterhaltungsform“, erklärt uns zu Beginn der Aufführung Frau Sumikawa, Leiterin des Michikawa Kagura-Ensembles. Und hauptsächlich hier sei dieses Schauspiel anzutreffen, in der zweitkleinsten Präfektur Japans: Shimane.

Kagura zählt zu den ältesten darstellenden Künsten Japans – älter als die Kabuki- und Nō-Schauspielkunst, jedoch weniger bekannt. Wiederfinden lässt sich der Ursprung von Kagura in der jahrhundertealten mythologischen Niederschrift Japans, dem Kojiki (712). Der Legende nach flüchtet die Sonnengöttin Amaterasu-Ōmikami aufgrund der frevelhaften Untaten ihres Bruders Susanoo in eine Felsenhöhle – und die gesamte Welt verfällt in Finsternis. Daraufhin versammeln sich die Götter tanzend und musizierend vor der Felsenhöhle. Dieses musikalische Spektakel lockt, voller Neugierde, die Sonnengöttin aus ihrer Höhle hervor, sodass die Welt wieder im Licht erhellt. Daher liegt es nicht fern, dass sich der Begriff „Kagura“ aus den Zeichen für Götter (kami; 神) und Musik (gaku; 楽) zusammensetzt. Sinngemäß übersetzt bedeutet dieses Kompositum: „die Götter unterhalten“.

Amaterasu

Abb. 1: Die Sonnengöttin beim Verlassen der Felsenhöhle: „Der Ursprung von Kagura“ (Shunsai Toshimasa, 1887). Wikimedia Commons

Anfänglich wurde Kagura nur an Shintō-Schreinen dargeboten – als theatralisches Ritual mit Musik, Tanz, Gesang und einzig zu Ehren der Götter. Im Laufe der Edo-Zeit (1603-1868) erfuhr es eine zunehmende Verbreitung und Beliebtheit unter dem Bürgertum und der Landbevölkerung. Weder bei den ausgelassenen Festen zur Reisernte auf dem Land noch bei den größer angelegten Frühlingsfesten zur Zeit der Kirschblüte in den Straßen der Städte, eine Kagura-Performance durfte nicht fehlen. In den ländlicheren Regionen entstanden aus Dorfgemeinschaften ganze Kagura-Ensembles – der Shintō-Priester, einst einzig und allein in der Position des Schaustellers, wurde vom Dorfbewohner abgelöst. Jedes Ensemble zeichnete sich durch seine eigene Aufführungsform aus. Den aufgeführten Geschichten wurden symbolträchtige Gegenstände (tori-mono) wie Schwerter, Stäbe, Hellebarden, Bogen und Pfeile hinzugefügt. Musik, Tanz, Gesang und prunkvolle Kostüme begeisterten das Publikum – Kagura wurde massentauglich gemacht. Und die bekanntesten aller Ensembles zu jener Zeit sowie auch heute: die Kagura-Ensembles aus der Region Iwami.

Michikawa

Abb. 2: Das Michikawa Kagura-Ensemble aus der Region Iwami in Aktion (eigene Fotos).

Was macht Iwami-Kagura einzigartig?
Rasante Musikrhythmen, wirbelnde Tänze, prunkvolle Kostüme – in der dünn besiedelten Küstenpräfektur Shimane hat sich eine sehr populäre Form von Kagura entwickelt: das Iwami-Kagura. Zusätzlich kennzeichnen einfache Geschichten diese Unterhaltungsform aus der Region Iwami – daher der Name. Rund dreißig Geschichten zählen zum Repertoire der Kagura-Ensembles. In jeder Geschichte kämpfen Götter gegen Dämonen. Die bekannteste und wohl spektakulärste unter ihnen: „Orochi“, die Geschichte von Susanoos Kampf gegen die achtköpfige Riesenschlange Yamata-no-Orochi und die Befreiung von Prinzessin Inada aus deren Schlund. Uns Exkursionsteilnehmer zog die Performance in den Bann.

Orochi

Abb. 3: Die Geschichte von Orochi, Susanoos Kampf gegen die achtköpfige Riesenschlange. (Quelle)

Wer macht Kagura wie, wo und wie lange noch?
Eine jede Geschichte wird mit einem rituellen Tanz eröffnet. Musiker begleiten am Bühnenrand die tänzerische Darbietung der Schausteller. Mit ihren Instrumenten geben sie der Geschichte Rhythmus. Die Klänge der Bambusflöte, die dumpfen Trommelwirbel und das metallische Klirren der Tschinellen verleihen der Performance ihren musikalischen Charakter. Die Kagura-Schausteller tragen ihren Text in gesungener Sprache dem Publikum vor – ähnlich dem Kabuki-Theater. Die aufwendig gestalteten und mit echten Gold und Silber verzierten Holzmasken, die kostbaren Kimonos der Schausteller, die teils über zehn Kilogramm schweren Kostüme sowie die Bühnendekoration und -aufstellung erinnern an das Nō-Theater. Rund dreißig Minuten lang lebt die Bühne – ehe die Kagura-Performance beendet wird und nur noch der Nachhall der Trommel zu spüren ist.

Laut des Iwami Tourism Promotion Committee existieren in der ländlichen und dünn besiedelten Region mehr als 130 aktive Kagura-Gruppen, Schulgruppen ausgeschlossen. Jedes Ensemble besteht aus 20 bis 30 Mitgliedern. Das ist bemerkenswert, bedenkt man, dass die Bevölkerungszahl der Region Iwami laut der jüngsten Volkszählung von 2015 bei rund 190.000 Personen liegt. Ein knappes Drittel der Einwohnerzahl von Düsseldorf, auf einer Fläche so groß wie das gesamte Ruhrgebiet. Und so wie in Düsseldorf die Karnevalvereine allen anderen Vereinen zahlenmäßig überlegen sind, verhält es sich auch mit den Kagura-Gruppen in Iwami.

Video 1: Die Welt des Iwami-Kagura (Quelle: Youtube)

Die Kinder lieben die Darbietungen der Kagura-Schausteller und in einigen Schulen der Region Iwami gehören Kagura-Proben zum festen Bestandteil des Lehrplans. Einige professionelle Tänzer haben mit Kagura ihre Karriere begonnen. Ein Ansporn für viele Jugendliche. „Für eine Karriere muss ein großer Teil der jungen Leute die Region Iwami verlassen, um in den benachbarten Städten Hiroshima, Osaka oder in der Metropole Tokio einer Arbeit nachzugehen“, erklärt uns Professor Sakuno von der Universität Shimane. So wie in allen ländlichen Regionen Japans sei auch in Iwami ein beängstigender Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen. Vor allem in den kleineren Dörfern fehle es an allen Ecken und Enden an jungen Leuten. In manchen Dörfern betrage das Durchschnittsalter der Bewohner 65 Jahre.

Diese Bevölkerungsentwicklung bringt auch Konsequenzen für das Kagura-Schauspiel mit sich: wie lange es noch an jüngere Generationen weitergegeben werden kann, ist ungewiss. Ermutigend klingen da die Worte des zehnjährigen Seiji. Voller Stolz verkündet uns der Junge: „Wenn ich groß bin, will ich Kagura-Schausteller werden! Ich will hierbleiben!“. Ein kleiner Lichtblick für das Kagura-Ensemble und die Region Iwami. Vielleicht besitzt gerade Kagura – anders als manche Programme seitens der 
Regierung – genügend Potenzial, um eine ländliche Region wie Iwami ansatzweise zu revitalisieren. Um junge Leute zurückzuholen, mit Aussicht auf Arbeit, mit Perspektive auf ein dortiges Leben. Es wäre schön, wenn das Kagura-Schauspiel auch künftig noch für nachfolgende Generationen erhalten bliebe, ein Tanz vor jungem Publikum – nicht nur vor den Göttern.

Thomas Ladurner

 

Weiterführende Informationen rund ums Thema Kagura

Literatur
Irit, Averbuch (1998): „Shamanic Dance in Japan: The Choreography of Possession in Kagura Performance“. In: Asian Folklore Studies 57/2, S. 293–329.
Mikami, Toshimi (2001): O-Kagura. Nihon rettō no yamiyo o yurugasu [O-Kagura. Die finstere Nacht Japans ins Wanken bringen]. Tōkyō: Heibonsha.
Petersen, David (2007): Invitation to Kagura: Hidden Gem of the Traditional Japanese Performing Arts. Morrisville: Lulu Press.

Homepage
Natsukashi no kuni Iwami (2013): „Iwami. Exploring Unfamiliar Japan“. Stand: 06.03.2018.

Video
Shimanekko channel (2016): „Iwami-kagura Performance: Fighting off the fire-breathing dragons!“. [YouTube-Video], bereitgestellt am 01.03.2016. Stand: 06.03.2018.

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