HEINEAGE

"Alter" in der literaturwissenschaftlichen Begriffsbildung der Germanistik

Team:
Dr. Christoph auf der Horst, Institut für Geschichte der Medizin
Dr. Anja Schonlau, Institut für Germanistik

Ergebnis:
Die kritische Auseinandersetzung der Germanistik mit den eigenen Paradigmen und der eigenen Begrifflichkeit gehört zu den zentralen Arbeitsfeldern der jüngeren Wissenschaftsgeschichte des Fachs, die sich im Anschluss an die Methodendebatte der 1990er Jahre mit hohem Reflexionsanspruch positioniert hat. Es fällt aber auf, dass die konstante Anwendung von "Alter" als literaturwissenschaftliche Kategorie bislang fast unbeachtet blieb. Die Germanistik verwendet "Alter" als literaturwissenschaftliche Kategorie, wie die Werkphasen- und Stilbegriffe "Alterswerk" und "Altersstil" explizit und Epochenbegriffe wie "Sturm und Drang" implizit zeigen. Hinzu kommen literarische Typisierungen wie "Alterslob", "Altersklage", "Altersspott" und Altersmotive wie "senex amans" oder "vetula". Gerade Komposita mit dem Wortteil "alt" – wie "Alterswerk" und "Altersstil" – haben kaum Eingang in Fachlexika gefunden, obwohl sie in der Fachsprache allgemein geläufig sind. Die Verwendung von Altersbegrifflichkeit in der Germanistik muss dabei als Teil einer umfangreicheren Diskussion und im diskursgeschichtlichen Zusammenhang der Geistes- und Kulturwissenschaften gesehen werden. Damit wurde eine historische Herleitung der disziplinären Anwendung von Altersbegrifflichkeit notwendig.

Es zeigte sich, dass (1.) die geistesgeschichtlichenWurzeln der Altersbegrifflichkeit in der Antike liegen, dass sich (2.) in der frühen Neuzeit ein entscheidender Umbruch im Diskurs vollzieht und dass (3.) eine weitere Neubewertung um 1800 durch Goethes Neudefinition, die um 1900 in den akademischen Diskurs eingeht, erfolgt.

1. Weder "Alterswerk" noch "Altersstil" existieren in der Antike als Begriffe. Diskutiert wird Alter vor allem in der klassischen Literatur. Hier finden sich bereits die Ursprünge dreier unterschiedlicher Bewertungen, die sich bis in die Gegenwart verfolgen lassen. Die positive Sichtweise auf das Alter betont die Altersreife, die negative hebt die Altersschwäche hervor und in einer dritten Bewertung wird die Altersschöpfung als genialer Höhepunkt gerühmt. "Alterswerk" und "Altersstil" zeichnen sich in der Antike weiterhin durch anthropologische Merkmale aus, die Anknüpfungspunkte für die spätere Altersbegrifflichkeit bieten: So wird das "vom Menschen gemachte" Werk analog zum Modell des "lebendigen Organismus" gedacht. Nach Aristoteles besteht es aus einer "Handlung mit Anfang, Mitte und Ende, damit das Werk einheitlich und abgeschlossen wie ein 'Lebewesen'" sei. Mit dieser antiken Dreiteilung wird später das Gesamtwerk eines Künstlers in eine Jugend-, Reife- und Altersphase unterteilt. Auch für "Stil" gilt, dass der Begriff trotz seiner Abstraktionsfunktion in enger Beziehung zum Menschen gesehen wird. Zwischen der sprachlichen Ausdrucksweise eines Menschen und seiner geistigseelischen Disposition wird ein enger Zusammenhang behauptet.

2. In der Frühen Neuzeit wird das Verhältnis zwischen Alter und schöpferischer Kraft vor allem in der bildenden Kunst erörtert. Das Kunstwerk wird nicht länger wie von der Antike bis zum Mittelalter als Ergebnis göttlicher Inspiration, sondern als charakteristischer Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers verstanden. Gleichzeitig thematisiert die Kunstkritik erstmals das Alter des Künstlers in Bezug auf seine Leistungskraft. Die Betonung des Verlusts des handwerklichen Könnens steht im Vordergrund dieser kunstkritischen Altersdiskussion. Auch die Künstler selbst zeigen eine veränderte Wahrnehmung: Michelangelo ist der erste bekannte Künstler, der literarisch über die Einschränkung seiner Fähigkeiten durch das Alter klagt. Bemerkenswert ist, dass gleichzeitig erste medizinische Traktate zum Alter und zu Verjüngungskuren entstehen. Es ist anzunehmen, dass neben dem veränderten Werkbegriff auch die Aktualität dieser Schriften das Bewusstsein gewandelt hat bzw. beide Phänomene ein verändertes Bewusstsein für die Körperlichkeit des Alters ausdrücken. Die Frühe Neuzeit verändert den Diskurs also durch die Betonung der visuellen und motorischen Verluste des alten Künstlers in der Kunstkritik grundlegend.

3. Erst im späten 18. Jahrhundert lässt sich der Begriff des Alterswerks erstmals nachweisen, wobei die Kunstwissenschaft in der Regel bei Goethe ansetzt. Gesichert ist, dass Goethes Auseinandersetzung mit der Altersbegrifflichkeit einen entscheidenden Einfluss auf den akademischen Diskurs hat, der um 1900 einsetzt. Seine Formel vom Alter als „stufenweises Zurücktreten aus der Erscheinung“ prägt die folgende Diskussion in Kunst und Literatur ebenso entscheidend wie seine Analyse des Spätstils Tizians. Der endgültige Durchbruch der Altersbegrifflichkeit erfolgt um 1900 vor dem Hintergrund eines romantisch-subjektivierten Künstlerbegriffs. 

Homepage des Teilprojektes (Stand 2006)

 

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