Einleitung;
Die Frage nach dem Sein
§ 2. Die Frage nach dem Sein im Wandel der Zeiten
Wem scholastisches
Denken fremd ist, der mag den Eindruck gewinnen, daß es sich
um eine theologische Fragestellung handle, weil von Schöpfer
und Geschöpf die Rede sei. Die späteren Ausführungen
werden zeigen, daß diesen Ausdrücken ein Sinn zukommt,
der sich rein philosophisch fassen läßt, obwohl dieser
Sinn sich erst den Denkern erschlossen hat, die durch die Offenbarung
Gott als den Schöpfer kennen gelernt hatten. Mit seiner Lehre
von Akt und Potenz steht der hl. Thomas durchaus auf dem
Boden der aristotelischen Philosophie. Die Herausarbeitung dieses
Gegensatzes durch Aristoteles bedeutete einen gewaltigen
Fortschritt in der Behandlung der Frage, die das griechische Denken
von seinen Anfängen an beherrscht hatte: der Frage nach dem
ersten und nach dem wahren Sein.
(...)
Der hl. Thomas hat die Frage nach dem Sein aufgegriffen, wie er
sie bei Aristoteles fand. Seine Auffassung der Philosophie als einer
Wissenschaft, die rein auf Grund der natürlichen Vernunft vorgeht,
gestattete ihm diese Anknüpfung. Andererseits war in den christlichen
Jahrhunderten durch die Zusammenarbeit von Philosophie und Theologie
die Philosophie vor Tatsachen und Aufgaben gestellt worden, von
denen sie in ihrem vorchristlichen Zustand noch nichts geahnt hatte:
Aristoteles wußte nichts von einer Schöpfung,
nichts von einem Gottmenschen, der zwei Naturen in einer Person vereinte, nichts von einer dreifaltigen Gottheit, von einer Natur
in drei Personen.
(...)
Wenn wir die Frage nach dem Sein als das Beherrschende sowohl im
griechischen wie im mittelalterlichen Denken ansehen können,
als das Unterscheidende aber, daß den Griechen diese Frage
angesichts der natürlichen Gegebenheit der geschaffenen Welt
aufging, daß sie sich aber den christlichen Denkern (in gewissem
Umfang auch den jüdischen und islamitischen) erweiterte durch
die übernatürliche Welt der Offenbarungstatsachen, so
ist das von der Überlieferung gelöste neuzeitliche Denken
dadurch gekennzeichnet, daß es an Stelle der Seinsfrage die
Erkenntnisfrage in den Mittelpunkt stellte und die Verbindung mit
dem Glauben und der Theologie wieder löste. (...) Die moderne
Philosophie sah in der offenbarten Wahrheit keinen Maßstab
mehr, mit dem sie ihre Ergebnisse zu prüfen hätte. Sie
war auch nicht mehr bereit, sich von der Theologie Aufgaben stellen
zu lassen, um sie dann mit ihren eigenen Mitteln zu lösen.
Sie betrachtete es nicht nur als ihre Pflicht, sich auf das "natürliche
Licht" der Vernunft zu beschränken, sondern auch, nicht
über die Welt der natürlichen Erfahrung hinauszugreifen.
Sie wollte in jedem Sinne selbstherrliche (autonome) Wissenschaft
sein. (...) Das katholische Geistesleben war weitgehend vom modernen abhängig geworden und hatte den Zusammenhang mit seiner großen
Vergangenheit verloren. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts
hat darin eine wirkliche Renaissance gebracht, eine Wiedergeburt
durch das Untertauchen in den besten Quellen. Ist es nicht erstaunlich,
daß es erst der Erlasse Leos XIII. und Pius' XI.
bedurfte, um das Thomasstudium wieder zu beleben (...)? (...) Wir
wissen, daß die großen Denker des christlichen Mittelalters
um dieselben Fragen gerungen haben, um die es auch uns geht, und
daß sie uns vieles zu sagen haben, was uns helfen kann.
Denn das ist die andere Seite der Sache: etwa zur selben Zeit, in der die Christliche Philosophie aus ihrem Dornröschenschlaf erwachte, machte die moderne Philosophie die Entdeckung, daß es auf dem Wege, den sie seit etwa drei Jahrhunderten verfolgte, nicht mehr weiterging. Aus dem Versanden im Materialismus suchte sie zunächst Rettung durch die Rückkehr zu Kant, aber das reichte nicht aus. Der Neukantianismus verschiedener Prägung wurde abgelöst durch die Richtungen, die wieder dem Seienden zugewandt waren. Sie brachten den verachteten alten Namen Ontologie (Seinslehre) wieder zu Ehren. Sie kam zuerst als Wesensphilosophie (die Phänomenologie Husserls und Schelers); dann stellte sich ihr die Existenzphilosophie Heideggers zur Seite und Hedwig Conrad-Martius' Seinslehre als deren Gegenpol. Die wiedergeborene Philosophie des Mittelalters und die neugeborene Philosophie des 20. Jahrhunderts - können sie sich in einem Strombett der philosophia perennis zusammenfinden? Noch sprechen sie verschiedene Sprachen, und es wird erst eine Sprache gefunden werden müssen, in der sie sich verständigen können.
(...)
§ 4. Sinn und Möglichkeit einer "Christlichen Philosophie"
(...)
So ist nach unserer Auffassung Christliche Philosophie nicht bloß
der Name für die Geisteshaltung des christlichen Philosophen,
auch nicht bloß die Bezeichnung für die tatsächlich
vorliegenden Lehrgebäude christlicher Denker - es bezeichnet
darüber hinaus das Ideal eines perfectum opus rationis, dem es gelungen wäre, die Gesamtheit dessen, was natürliche
Vernunft und Offenbarung uns zugänglich machen, zu einer Einheit
zusammenzufassen. Das Streben nach diesem Ziel fand seinen Niederschlag
in den Summen des Mittelalters ; diese großen Gesamtdarstellungen
waren die angemessene äußere Form einer auf das Ganze
gerichteten Forschung. Die Verwirklichung dieses Ideals aber - in
dem Sinn, daß alles Seiende in seiner Einheit und in seiner
Fülle erfaßt wäre - entzieht sich grundsätzlich
aller menschlichen Wissenschaft: schon das endliche Wirkliche ist
etwas, was sich begrifflich nicht ausschöpfen läßt,
um so mehr das unendliche Sein Gottes. Die reine Philosophie als
Wissenschaft vom Seienden und vom Sein aus seinen letzten Gründen,
soweit die natürliche Vernunft des Menschen reicht, ist auch
in ihrer denkbar größten Vollendung wesenhaft ein Unvollendetes.
Sie ist zunächst offen zur Theologie hin und kann von daher
ergänzt werden. Aber auch die Theologie ist kein geschlossenes
und je abschließbares Gedankengebilde. Sie entfaltet sich
geschichtlich als fortschreitende gedankliche Aneignung und Durchdringung
des überlieferten Offenbarungsgutes. Darüber hinaus aber
ist zu bedenken, daß die Offenbarung nicht die unendliche
Fülle der göttlichen Wahrheit in sich befaßt. (...)
Die vollendete Erfüllung dessen, worauf die Philosophie, als
Streben nach Weisheit, abzielt, ist allein die göttliche Weisheit
selbst, die einfache Schau, mit der Gott sich selbst und alles Geschaffene
umfaßt. Die für einen geschaffenen Geist - freilich nicht
aus eigener Kraft - erreichbare höchste Verwirklichung ist
die selige Schau, die Gott ihm schenkt, indem Er ihn mit
sich vereinigt: er gewinnt Anteil an der göttlichen Erkenntnis,
indem er das göttliche Leben mitlebt. Die größte
Annäherung an dieses höchste Ziel ist während des
Erdenlebens die mystische Schau.
(...)
Eine Christliche Philosophie wird es als ihre vornehmste
Aufgabe ansehen, Wegbereiterin des Glaubens zu sein. Gerade darum
war es dem hl. Thomas so sehr am Herzen gelegen, eine reine
Philosophie auf Grund der natürlichen Vernunft aufzubauen:
weil sich nur so ein Stück gemeinsamen Weges mit den Ungläubigen
ergibt; wenn sie einwilligen, diese Strecke mit uns zu gehen, werden
sie sich in der Folge vielleicht noch etwas weiter führen lassen,
als es ihre ursprüngliche Absicht war. Vom Standpunkt der Christlichen
Philosophie besteht also kein Bedenken gegen eine gemeinsame
Arbeit. Sie kann in die Schule der Griechen und der Modernen gehen
nach dem Grundsatz: "Prüfet alles und das Beste behaltet",
sich aneignen, was ihren Maßstäben standhält.
(In: Werke, Bd. II, Freiburg, Basel und Wien 1986)