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Leverkusen

Sonderbericht

In Leverkusen gibt es Liebhaber des Exotischen. Schon vor vielen Jahren hatte sich hier der verstorbene Vorsitzende des Aufsichtsrates der IG, Duisberg, ein kleines fremdländisches Paradies errichten lassen. Betrat man sein Haus, verschwand die technische Landschaft der Türme und Kessel Leverkusens, und man befand sich plötzlich in einer zarten Landschaft Japans. Pavillons lehnten sich an Teiche, an deren Oberfläche rosafarbene Lotosblumen schaukelten. Leicht geschwungene Bambusbrücken umspannten klare Flüßchen und Zedern, winzige Eukalyptusbäume und blühende Kirschbäume zeichneten sich fremd und wie verirrt gegen den grau umwölkten Himmel. Aber die künstlichen Gummiplantagen haben freilich nichts mit den japanischen Gärten des Herrn Duisberg zu tun. Das heißt, einiges doch. Für japanische Gärten, die in Leverkusen blühen, braucht man viel Geld, und künstliche Gummiplantagen können möglicherweise viel Geld bringen und viel Macht, sowohl Deutschland wie der IG-Farben.
Man macht ungeheuere Propaganda für Autos, aber die Reifen, diese unumgänglich notwendigen Reifen, die muß man aus dem Ausland beziehen und muß dafür Gold zahlen. Gold, das man gar nicht hat. Es kann aber noch eine Zeit kommen, wer weiß, wo man Gummi, wo man Reifen noch notwendiger brauchen wird als heute und man sie noch viel schwerer bekommen wird, wo man sie vielleicht nicht einmal für Gold erwerben kann. Also könnte Gummi sehr wertvoll werden. Wertvoller als Gold!
Große Herren zwangen die Alchemisten einst, Gold zu machen. Heute zwingen andere große Herren die Alchemie der Neuzeit, die Chemiker, Rohstoffe zu machen.
Rohstoffe, über die sie nicht verfügen, die sie aber brauchen. Rohstoffe, die wertvoller sind als Gold.
Die Alchemisten von einst mochten versagen. Die modernen Alchemisten lösen jede Aufgabe, die man ihnen stellt. Wie sollten sie auch nicht? Wir leben ja im Zeitalter des Fortschritts.
In Leverkusen stellt man Gummi her: auch Gummi. Die Welt erstickt zwar an Gummi. Die Javaner verhungern, weil sie nicht mehr die Milch der Kautschukbäume sammeln dürfen. Am Tapajos, in den Urwäldern Brasiliens, verkommen Arbeiter aus allen Ländern, weil Ford die Plantagen, die er dort erst mit ungeheuren Kosten anpflanzen ließ, nicht mehr ausbeuten läßt. Er hatte eine ganze neue Stadt aufbauen lassen, mitten im Urwald. Jetzt braucht er sie nicht mehr.
Die Engländer, die jahrelang für Gummi die höchsten Preise forderten und auch erhielten, liefern jetzt billiger. Auf dem Weltmarkt notiert Gummi niedrig. In Leverkusen aber wird man doch Gummi herstellen, um jeden Preis. Kosten spielen keine Rolle.
Wie macht man eigentlich Gummi? Die Aufgabe scheint erst gar nicht so schwer. Man zerlegt das Kautschuk in seine Bestandteile und versucht dann, diese Bestandteile aus anderen Stoffen zu gewinnen und sie chemisch zu vereinigen. Aber die Natur arbeitet unendlich verwickelter und feiner als die Gelehrten, und auch ihnen fällt es nicht so leicht, auf diese Schliche zu kommen. Wie produzieren die Kautschukbäume die Milch? Warum wird diese Milch, wenn die trocknet, so elastisch und haltbar? Viel elastischer und haltbarer als die synthetischen Stoffe der Wissenschaftler. Doch nur Geduld! Sie werden das noch herausbekommen.
Leverkusen hat schon eine Tradition. Im dritten Kriegsjahr begann man hier künstlichen Gummi herzustellen. Zweieinhalb Millionen Kilo Kunstgummi wurden in diesem Kriegsjahr in Leverkusen fabriziert. Das war schon echter Kriegsgummi; brüchig, ohne die weiche Biegsamkeit des echten. Ihm fehlte ganz die dienstbereite Fähigkeit, die Holprigkeit der Straßen aufzufangen. Wenn er sich um die Räder spannte, beflügelte er sie nicht wie der echte, sondern wurde zu einem Klotz. Er war nicht zu viel nütze.
Heute wird er in einem kleinen Erinnerungszimmer gezeigt, mehr zum Spaß. Der unbeholfene, etwas lächerliche Ahne der neuen, siegreichen Erfindung. Kriegsgummi erzeugte man aus Kohlenwasserstoff. Er war eine Synthese des Methyl-Isobroms. Bei der Herstellung des neuen Stoffes hat man ganz die alten Wege verlassen. Über die früheren Versuche, ihre Wege und Irrtümer spricht man ganz offen, aber das Geheimnis der Herstellung des neuen künstlichen Gummis wird eifersüchtig gehütet. Man zeigt es nicht einmal.
Sachverständige versichern, daß nur ein gewiefter Fachmann den Unterschied zwischen dem künstlichen und dem echten Gummi wahrnehmen würde. Aber man steht ja erst am Anfang. Man will besseren, haltbareren Gummi herstellen, als die Natur ihn zustande bringt.
Vor einiger Zeit wurden auf dem Nürburgring Versuchsfahrten mit Rennautos veranstaltet, die zum Teil mit künstlichem, zum Teil mit echtem Gummi bereift waren. Verschiedene künstliche Gummireifen haben weniger Pannen erlitten als die echten.
Alle diese Versuche spielen sich vorläufig noch im Laboratorium ab. Wird man also bald in Deutschland Fabriken errichten, die künstlichen Gummi herstellen?
Vorläufig ist nicht daran zu denken, denn einen Haken hat diese wunderbare Erfindung der Chemiker von Leverkusen. Sie ist ungeheuer teuer. Der Kautschuk der Urwälder ist noch in Deutschland zehnmal billiger als der aus chemischen Retorten.
Aber freilich, es können Ereignisse eintreten, da der Preis gar keine Rolle mehr spielt. Deshalb sucht man so fieberhaft in Leverkusen das Geheimnis des künstlichen Kautschuks.*

1936

* Der Text wurde dem Band entnommen: Maria Leitner: Elisabeth, ein Hitlermädchen. Erzählende Prosa, Reportagen und Berichte. Berlin und Weimar, Aufbau-Verlag 1985

 

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