Marianne Tilch zur Erinnerung

Rede von Professor Manfred Windfuhr,
gehalten am 23. Juni 2014 im Heine-Institut Düsseldorf

Der Tod reißt schmerzliche Lücken, die man provisorisch mit Erinnerungen füllt, um damit fertig zu werden. Heine kannte sich gut aus mit der Erinnerung und widmete ihr viele Gedichte und Prosatexte. In den „Elementargeistern“ nannte er die Vergangenheit die „eigentliche Heimath“ der Seele (DHA IX, 52) und verstand sich auf die Merkmale der Mnemonik, der Lehre von der Erinnerung. Man ersieht es aus dem 10. Kapitel des „Schnabelewopski“ im Zusammenhang mit dem kleinen Simson (DHA V, 181). Mnemonik leitet sich ab von Mnemosyne, bei den Griechen die Muse der Erinnerung. Auch in diesem Punkt kann man von Heine lernen.

Marianne Tilch starb am 24. Mai 2014 im Alter von 71 Jahren. Als ich sie kennenlernte, war sie gerade 30 und begann als Späteinsteigerin ihr Studium hier am Düsseldorfer Seminar. Sie hatte schon Berufserfahrung, u. a. als Buchhändlerin, also praktischen Umgang mit Drucken. Bei mir lernte sie den Umgang mit Handschriften. Sie wurde Mitglied der textkritischen Arbeitsgruppe, die ich zur Vorbereitung der Düsseldorfer Heine-Ausgabe eingerichtet hatte, um auf der Grundlage von Heine-Handschriften und mit Hilfe des Heine-Index Heines Schreibweise näher zu bestimmen, die Eigenheiten seiner Orthographie, Interpunktion und seines Wortgebrauchs. Wir kamen zu dem Ergebnis, daß Heine entgegen der damaligen Annahme nicht willkürlich, sondern nach bestimmbaren Regeln verfuhr, Grundlage für das Prinzip der Restitutionen in der Ausgabe.

Marianne Tilchs eindeutige Qualifikation für dieses hochspezialisierte Arbeitsfeld war Anlaß, sie als Mitarbeiterin bei der DHA einzustellen. Wir haben 25 Jahre aufs engste im Bereich der Handschriftenanalyse, Lesartendarstellung und Textkritik zusammengearbeitet, neben der Kommentararbeit das philologische Zentrum einer historisch-kritischen Ausgabe. Ab 1986 betreute Marianne Tilch als Redakteurin die deutschsprachigen Teile von neun Einzelbänden, nämlich der Bände II – V, VII, IX, X, XIII und XIV. Beim letzten Band XVI, der 1997 erschien, fungierte sie als Bandbearbeiterin für die Nachträge und Korrekturen. Nach Abschluß der Ausgabe wechselte sie zum Heine-Institut in verwandten Funktionen als Archivarin, noch einmal gut zehn Jahre lang bis 2008.

Ich erinnere mich aus der Anfangszeit, daß ihr das Staatsexamen wie ein Pflasterstein auf der Seele lag. Mit Anfang 30 noch in eine Prüfung zu gehen, das paßte ihr gar nicht, das hielt sie für überflüssig, wo wir doch schon so eng zusammenarbeiteten. Was sollte da noch ein förmlicher Akt? Aber sie stellte sich der Nervenprobe und ich half ihr mit bei der Überwindung der Klippe.

Noch genauer erinnere ich mich natürlich an ihre fachlichen Qualitäten: Unbestechlichkeit, Nüchternheit und Scharfsinn. Ein Scharfsinn, aus winzigen Indizien produktive Schlüsse zu ziehen, eine ausgesprochen kriminalistische Begabung. Verbunden mit einem ständig wachsenden Detailwissen entwickelte sich hier eine Kollegin, der im Heinebereich nur ganz wenige das Wasser reichen konnten.

Aber ich hebe nicht allein ab auf die Quantität des Wissens, über Detailkenntnisse verfügen manche, sondern mehr noch auf Mariannes messerscharfes Urteilsvermögen. Um fachlich erstklassige Ergebnisse zu erzielen, braucht man auch ein hohes Maß an Vorurteilsfreiheit, gesundem Menschenverstand, kritischem Tiefenblick. Vorgefaßte Meinungen, theoretische Konstrukte sind eher hinderlich, den konkreten Einzelfall zu erfassen und zu lösen. Man braucht auch Selbstkritik, um sich zu korrigieren. Wir haben oft zusammen gesessen und Fehleranalysen vorgenommen, um Fehler nicht zum zweiten Mal zu machen.

Neben ihrer herausragenden Kompetenz als Heine-Expertin verfügte Marianne Tilch über persönliche Eigenschaften, von denen wir alle profitiert haben. Ich nenne ihre Arbeitskraft und ihre ungewöhnliche Hilfsbereitschaft, mit der sie ihr Wissen bereitwillig weitergab: beim Einarbeiten nachrückender Kolleginnen und Kollegen ins Handschriftenlesen, bei der Lösung kniffliger Detailfragen, bei Auskünften über die entlegensten Heine-Bezüge usw. Und es gab als besondere Eigenschaft ihren von vielen gepriesenen Humor. Eine Trauerarbeit sollte sich nicht auf die fachlichen Seiten einer Verstorbenen beschränken, sondern die Persönlichkeit insgesamt im Blick behalten. Vielleicht begegnen wir ihr noch direkter als bei den vorher umrissenen Eigenschaften bei den folgenden Kostproben ihres Humors.

Als erstes zitiere ich den ganz ungewöhnlichen Schluß ihres Nachworts zu Band XVI, wo sie nach dem Dank an viele Helfer noch an andere Helfer erinnert. Auf S. 833 schreibt sie:

„so möchte ich zum Schluß nur noch einen Dank besonderer Art abstatten. Er gilt einigen schnurrenden Geschöpfen, die uns über lange Jahre der Arbeit an der DHA begleiteten und durch ihre liebenswürdige Anwesenheit erfreuten: Luxus, Grappa, Lili, Lou und Larry.“

Der Dank an die fünf Katzen im Hof des Instituts ist gewiß eine nicht alltägliche Huldigung in einer anspruchsvollen, von vielen ehrwürdigen Institutionen geförderten Ausgabe. Die Katzen traten übrigens nicht alle gleichzeitig auf, sondern nacheinander, höchstens zu zweit.

Bei der zweiten Kostprobe handelt es sich um Nachbildungen im Heine-Stil, die von dem Heine-Freund und Heine-Fälscher Friedrich Steinmann stammen. Steinmann hatte bekanntlich nach Heines Tod in mehreren Publikationen unautorisierte Nachträge zu den Werken unseres Autors herausgegeben, in denen er dreist Originaltexte mit eigenen und fremden Nachbildungen vermischte. Nach heftiger öffentlicher Kritik blieb ein ursprünglich für den Verlag Binger in Amsterdam vorgesehener Teil ungedruckt und befindet sich heute in der Koninklijken Bibliotheek in Den Haag. Marianne Tilch schrieb über diesen spektakulären Vorgang 2004 einen instruktiven Aufsatz1 und schenkte mir zu meinem 70. Geburtstag einen hübschen Auszug aus diesen Steinmann-Falsifikationen. Ihr ironischer Titel lautete: „Lyrische Kostbarkeiten von Heinrich Heine“. Zur Illustration lese ich einige Beispiele daraus; das erste paßt gut zu den Katzen im Hof.

See-Katzenjammerlied

Kennt Ihr den Katzenjammer zu Land
Und den Katzenjammer zur See?
Vom Spiritus rührt der Eine her,
Der Zweite vom Wasser – o weh!
O weh, o weh, o weh!
Wer Einen genommen über’n Durst,
Und nimmer gegangen in See,
Der kennt wohl den Einen, den Andren nicht,
Den Katzenjammer zur See. O weh! usw
Erzvater Noah viel lieber trank
Ein Schöppchen als eine Tass’ Thee.
Bei der Sündfluth in seinem Kasten er schwamm
Hoch auf der stürmischen See. Juchheh!
Da litt der arme Erzvater gar sehr
Am Katzenjammer zur See,
Verwünschte das Wasser und sehnte sich
Nach dem Lande zurück – o weh!
Und als er vor Anker am Ararat lag,
Da war ihm nicht mehr so weh;
Da griff er durstig zum Gläschen und sprach:
Ich gehe nicht wieder zur See. Juchheh!
Erzvater Noah, du bist mein Mann!
Du trankst dir ’nen tüchtigen Zopf.
Ich mach’ es wie du, und faßt mich auch
Der Katzenjammer beim Schopf.
Der Katzenjammer zu Lande ist
Ein Jammer des Jammers – o weh!
Allein der Schrecken der Schrecken ist
Der Katzenjammer zur See.
O weh, o weh, o weh!

Ich

Lachen darf der Großmogul nicht,
Küssen nicht der Pabst,
Wein der Sultan trinken nicht:
Alles du, Himmel, mir gabst!
Pabst, Großmogul, Sultan ich
Mögte drum nicht sein:
Mich erfreu’n, so oft ich will,
Scherz und Kuß und Wein.

Noble Passion in Lappmarken

In Lappland’s eisigen Marken
Ist’s nasenkalt und graus.
Dort lebt allein der Lappe,
Das Rennthier und die Laus,
Der Lapp’ in schlechter Hütte,
Das Rennthier auf der Haid’,
Die Laus auf Lappenkopfe,
Behaglicher als Beid’.
Der Lappe lebt vom Renne,
Das Renn vom Moose gut,
Doch besser noch als Beide
Die Laus von Lappenblut.
Der Sonntag ist ein schlimmer
Tag für die arme Laus;
Dann zieht der Lapp’ zur noblen
Passion der Lausjagd aus.
Nicht hat der Lappen-Junker
Das Recht der Jagd und Hetz;
Ein Jeder frei darf knicken,
Ist gleich vor dem Gesetz.
Ihr uckermärkischen Granden,
Ihr Herren an Elb’ und Rhein,
Lappland’s Aristokraten
Laßt euch ein Beispiel sein!

Man könnte manches sagen zu dieser Mischung von Angelesenem und Holprigkeiten, eine gewisse burschikose Komik ist diesen Versuchen im Heine-Stil aber nicht abzusprechen.

Die letzten Proben stammen aus Tilchs und Kruses im Insel-Verlag erschienenen Bändchen „Heine für Boshafte“ (2008). Darin wird der geistreiche und oft ätzende Ton unseres verehrten Meisters nicht nur nachgebildet, sondern original in einer Blütenlese vorgestellt. Marianne war von Prüderie weit entfernt und hätte es gewiß nicht als Taktlosigkeit empfunden, wenn bei diesem Anlaß auch einige Krassheiten zur Sprache kommen. Ich zitiere nur Briefstellen und Prosanotizen.

Brief an Mutter Betty vom 4. Dezember 1847:

"Meine Frau hat mir bereits mein Weihnachtsgeschenk gekauft (für ihr erspartes Geld) nemlich einen prächtigen Nachtstuhl, der wirklich so prächtig, daß sich die Göttinn Hammonia desselben nicht zu schämen brauchte. Ich vertausche ihn nicht gegen den Thron des Königs von Preußen. Ich sitze darauf ruhig und sicher und scheiße allen meinen Feinden was!" (HSA XXII, 267)

An Gustav Kolb, 17. April 1849:

"Hier ist Alles still, denn wir haben, was wir wollen und sogar ein alter Bonapartist wie ich bin, mag allenfalls zufrieden gestellt seyn, wenn er vive Napoléon rufen hört! Dem Kommunismus geht es auch gut, obgleich er über schlechte Zeiten jammert. Wir haben alle kein Geld mehr und somit existirt de facto die communistische Gleichheit. Auch haben wir Weibergemeinschaft; nur die Ehemänner wissen es noch nicht." (HSA XXII, 309)

An Schwester Charlotte, 8. Mai 1824:

"Wann gedenkst Du niederzukommen? Siehst Du jetzt, wie gut es ist wenn man rechnen gelernt hat? Schone Dich nur, laufe nicht zuviel, nasche nichts während Deiner Schwangerschaft sonst wird Dein Kind ein Näscher, auch lese jetzt keine Verse, sonst wird das Kind das Du bekommst, ein Poet, – welches wohl ein großes Unglück genannt werden kann." (HSA XX, 158)

Zum Alexander Weill-Vorwort, 1847:

"Als ich Heine frug ob der Wihl ihn wirklich 200 Fr koste, antwortete er: Ja, aber es war nöthig zu seiner Abreise, und ich ward ihn los. Mit köstlicher Laune erzählte Heine die Mystifikazionen die er an dem armen Wihl ausgelassen, von dessen Narrenstreichen man hier noch viel erzählt und die alle aus der fixen Idee hervorgingen, daß er ein großer Dichter sey. Heine charakterisirte ihn sehr richtig mit den Worten: Wihl ist wahnsinnig, hat aber lichte Momente wo er bloß dumm ist." (DHA X, 309)

Aus den Prosanotizen:

"Wenn das Laster so großartig, wird es minder empörend. Die Engländerinn beim Anblick eines ungeheuren Herkules, sie die sonst eine Scheu vor nackten Statuen, war hier weniger chockiert: „bei solchen Dimensionen scheint mir die Sache nicht mehr so unanständig." (DHA X, 325)

An Franz Liszt vom 12. Oktober 1836 über den Pianisten und Komponisten Kalkbrenner:

"Kalkbrenner nemlich befindet sich wohl und gesund. Wir reisten jüngst mit einander auf einem Dampfboote die Seine hinauf, von Paris nach Corbeil; diese Reise dauert gewöhnlich fünf Stunden, wenn man aber mit Kalkbrenner fährt, fährt man von Paris nach Corbeil in zehn Stunden. Gegen diese Windstille des Geistes hilft keine Dampfmaschine. Wir sprachen von der Kunst im Allgemeinen und von der Musik ins Besondere." (HSA XXI, 164)

An den ominösen Friedrich Steinmann vom 4. Februar 1821:

"Indessen ich kenne zu gut das Gemüth des Dichters, um nicht zu wissen, daß ein Poet sich weit eher die Nase abschneidet, als daß er seine Gedichte verbrennt. Letzteres ist nur ein stehender Ausdruck für Beiseitelegen. Nur eine Medea kann ihre Kinder umbringen. Und müssen nicht Geisteskinder uns viel theuerer sein als Leibeskinder, da letztere oft ohne sonderliche Mühe in einer einzigen Nacht gemacht werden, zu erstern aber ungeheure Anstrengung und viel Zeit angewendet wurde?" (HSA XX, 37)

An August Lewald vom 15. Januar 1837:

"Ihrem Style muß ich die höchsten Lobsprüche zollen. Ich bin kompetent in der Beurtheilung des Styls. Nur bei Leibe vernachläßigen Sie sich nicht und studiren Sie immer fort die Sprachwendungen und Wortbildungen von Lessing, Luther, Göthe, Varnhagen und H. Heine; Gott erhalte diesen letzten Classiker!" – (HSA XXI, 177 f.)

Manchmal weiß man nicht, welchen Gefühlen eine Träne geschuldet ist: der Trauer oder der Freude, hier dem Vergnügen an der witzigen Überraschung und perfekten Pointe. Auch durch diese ausgewählten Proben dringt etwas von der unverwechselbaren Eigenart der Anthologistin hindurch.2

Diese Züge zu einem Marianne-Tilch-Porträt mögen genügen, damit wir sie im Gedächtnis behalten. Wir sind es ihr schuldig; wir werden sie nicht vergessen.

Anmerkungen

  1. Vgl. Marianne Tilch: „Impertinenz und Unverschämtheit“, „Zudringlichkeit und freche Stirn“. Friedrich Steinmanns Heine-Fälschungen – In: „… und die Welt ist so lieblich verworren“. Heinrich Heines dialektisches Denken. Festschrift für Joseph A. Kruse. Hrsg. Von Bernd Kortländer und Sikander Singh. Bielefeld 2004, S. 477-490.
  2. Ein schöner Beleg für Belesenheit und Texterschließung ist auch der stattliche Düsseldorf-Band, den Marianne Tilch zusammen mit Beatrix Müller herausgegeben hat. Darin wird die Stadt am Niederrhein durch Berichte von Bewohnern und Besuchern vom Barock bis zur Gegenwart farbig aufgeschlossen, meist von Künstlern aller Sparten. Das Vorspiel bildet ein fiktives Interview von Italo Calvino mit einem Neandertaler, bei dem im Kommentar nur Angaben darüber vermißt werden, „wann, wo und vor allem in welcher Sprache es geführt wurde“ (Düsseldorf. Texte und Bilder aus vier Jahrhunderten. Stuttgart 1991, S. 13).