Annette Kolb


1903 Ölporträt von Hugo von Habermann,
 Mitbegründer der Münchner Secession 
und Nachbar der Kolbs.

 

 

 

 


Fotos der Ausstellung von F. Sirmen,
Düsseldorf

„Eine literarische Stimme Europas“

1870 Anna Mathilde (Annette) Kolb wird am 3. Februar in München als 3. Tochter des bayerischen Gartenarchitekten Max Kolbe und der französischen Pianistin Sophie Kolb Danvin geboren. Wenige Monate später begann der Deutsch-Französische Krieg.
1876-1882 Freistelle in der Klosterschule Thurnfeld bei Hall in Tirol, die von Salesianerinnen betrieben wurde. Französisch und Italienisch wurden intensiv betrieben. Die Klosterjahre empfand Annette Kolb als qualvolle Zeit.
1880 Mit der Geburt der Schwester Franziska umfaßt die Familie Kolb vier Mädchen und zwei Jungen.
1882ff. Besuch des Instituts Ascher in München. In der an Anregungen reichen Kulturstadt blüht das Mädchen auf.
1890 Mit 25 Jahren stirbt die musikalisch hochbegabte und schöne Schwester Louise, Vorbild für die Gestalt der Hespera in Die Schaukel.
1899 Erstes, selbstfinanziertes Buch Kurze Aufsätze . Reise nach England auf Einladung von Lady Violet Savile nach Rufford Abbey.


1900 Annette Kolb am Beginn
ihrer Laufbahn als Schriftstellerin

Frühes Bekenntnis einer Deutsch-Französin


Entscheidend für Annette Kolbs Entwicklung war ihre Binationalität: Die Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen war für sie ein existentielles Anliegen: "[...] und als ich aufwuchs, da lag mir immer mehr am Herzen, daß die Franzosen und die Deutschen sich so liebten, wie ich die beiden zusammen liebte, denn ich habe zu beiden im gleichen Maße gehört."

(A. Kolb, Ein Selbstportrait)

1900f. Erste Feuilletonartikel in verschiedenen Zeitungen, u.a. zu Musikthemen
1902 Beginn der Freundschaft mit dem englischen Diplomaten John Ford, Legationssekretär an der britischen Botschaft in München und Modell der Figur ‘Exemplar’ im gleichnamigen Roman.
1905 Torso, eine Novelle, erscheint in der Neuen Deutschen Rundschau bei S. Fischer, dem führenden Literaturverlag.
1906 L´Ame aux deux patries. Sieben Studien. Eine Sammlung ihrer frühen Feuilletonartikel über die französische und deutsche Mentalität.
Übersetzung der Briefe der heiligen Catharina von Siena. Kolb ist vor allem an der "Friedensstifterin" interessiert, "deren ganzes Geheimnis Friedensliebe ist und Mitgefühl".

L’ Ame aux deux patries: Eine Sammlung früher Feuilletonartikel, vorwiegend Reiseimpressionen. Erste Konzentration der Autorin auf ihr Anliegen, eine Brücke zwischen zwei so großen Nationen zu schlagen durch die Vermittlung von Kenntnissen über die kulturellen und mentalen Unterschiede. A. Kolb huldigt hier nicht nur ihrer Liebe für beide Länder, sie dokumentiert auch eine innere Zerrissenheit, im einen Land sich stets nach dem anderen sehnend.

1909 Franz Blei, Freund und Förderer, veröffentlicht von ihr Der Schatten. Ein Dialog in der von ihm und C. Sternheim herausgegebenen Zeitschrift Hyperion.
1911 Befreundet sich mit der französischen Diplomatengattin Pauline de Pange.
1913 Für den 1. Roman Das Exemplar (S. Fischer) erhält sie den Fontane-Preis

Rainer Maria Rilke zu Das Exemplar: "[...] aber nun kann ich Ihnen, gar nicht rasch genug für mein Bedürfnis, versichern, wie schön, wie vollkommen, wie meisterhaft der Schluß vom "Exemplar" ist. Wenn nicht diese infame Entfernung wäre, ich würde Ihnen alle Blumen ins Haus schicken, die ich zu sehen bekomme, um nur etwas zu tun, was meiner Freude und Ergriffenheit gleichkommt, denn Worte sind da schon zu weit und urteilerisch, so was müßte im Schweben bleiben und schwebend sich mitteilen." (Brief Rilkes an A. Kolb vom 9.1.1913)

1914 Wege und Umwege, lektoriert von Franz Blei, erscheint einen Tag vor Kriegsausbruch. Porträts großer Franzosen, ebenso Essays über die europäische Situation. Sie lernt René Schickele kennen.
1915 Rede vor der Literarischen Gesellschaft in Dresden am 11.1. über die pazifistische Internationale Rundschau, an deren Gründung sie beteiligt ist. Sie wendet sich gegen einen kriegstreiberischen Nationalismus und plädiert für die Anwendung von Vernunft und für eine europäische Völkerverständigung. Der Vortrag endet im Tumult.
1916 Abdruck der Rede im Anhang der Briefe einer Deutsch-Französin. In 13 Briefen umkreist sie das Thema Völkerverständigung. Wegen pazifistischer Umtriebe wird gegen sie vom Bayerischen Kriegsministerium eine Brief- und Reisesperre verhängt. Auf Betreiben von Walter Rathenau erhält sie die Möglichkeit, in die Schweiz auszureisen.
1917 A. Kolb lebt in Bern; Lettres d’une Franco-Allemande (Genf), eigene Übersetzung ihres Buches von 1916.
1918 Der Band Die Last enthält mehrere politische Aufsätze, die u.a. im Organ der Friedensbewegung, der Friedens-Warte erschienen sind, so Zum Aufruf an die Frauen, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.


Georg Kolbe : Annette Kolb
Bronzekopf um 1919 
(Kunstmuseum Bern)

Der mit ihr befreundete Diplomat Richard von Kühlmann über die Kolbe-Büste:

"Annette ist nie schön gewesen; solange ich sie kenne, ist sie nur schöner geworden. Jetzt hat sie, wie man in Künstlerkreisen sagt, einen ‘guten Kopf’, den Georg Kolbe meisterhaft in Bronze modelliert hat."

(R. von Kühlmann: Annette Kolb. In: Berliner Tageblatt, 3.2.1935)
1919 3.-10. Februar zusammen mit René Schickele Beobachterin beim 1. Internationalen Arbeiter- und Sozialistenkongreß in Bern.
1919-1923 Ohne festen Wohnsitz, ständig auf Reisen in Deutschland, der Schweiz, Frankreich und Italien.
1921 Ihr erster Artikel in der von Sigfried Jacobsohn herausgegebenen Weltbühne würdigte den Pazifisten Alfred H. Fried. Zarastro. Westliche Tage. Tagebuch über die Schweizer Jahre

Zarastro. Westliche Tage: In diesen ihren Schweizer Exilerinnerungen zeichnet sie u.a. ein Porträt von Harry Graf Kessler, der zeitweise Präsident der deutschen Friedensgesellschaft war. Er war Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei und verfolgte den Plan zu einem Völkerbund. Seit 1916 war er Leiter der deutschen Kulturpropaganda in der Schweiz, in Bern, wo die Autorin lebte. Mit ‘A.H. Pax’ portaitierte sie den Pazifisten und Friedensnobelpreisträger Alfred H. Fried. Die Gestalt des idealen Herrschers Zarastro wurde durch Romain Rolland inspiriert. Trotz dieser Ermutigungen ist der Grundzug der Erinnerungen "Enttäuschung" über die Vergeblichkeit ihrer transnationalen Vermittlungsbemühungen.

1923 Läßt sich in Badenweiler nieder als Nachbarin von René Schickele und seiner Frau. Sie erhielten Besuch von vielen Schriftstellern, Musikern, Malern und Politikern.
1924 Wera Njedin. Erzählungen und Skizzen.
1926 Teilnahme als deutsche Vertreterin an der 3. Generalversammlung des Verbandes für Kulturelle Zusammenarbeit in Wien. Ziele des Verbandes: geistige Annäherung und Kooperation der europäischen Staaten.

1926 Annette Kolb unter den Delegierten des
Verbandes für die Kulturelle Zusammenarbeit in Wien (in der Mitte der 2. Reihe)

Der Verband setzte sich für die "geistige Annäherung" und die Kooperation der europäischen Staaten ein. Wien und nicht Paris oder Berlin erschien ihr 1932 dazu berufen zu sein, die "aller würdigste Metropole in einem geeinten Europa" zu werden." (A.Kolb, Das Land, in dem ich leben möchte. In: Die literarische Welt)

1928 Der Roman Daphne Herbst erreicht in diesem Jahr die 8. Auflage. Besuch beim französischen Ministerpräsidenten Aristide Briand, als Vorbereitung für ihr Buch über Briand; Teilnahme an der 9. Tagung des Völkerbundes in Genf.
1929 Versuch über Briand. Porträt des Politikers und Friedensnobelpreisträgers

Versuch über Briand: Eine Auftragsarbeit des Rowohlt Verlags. Um ein Portrait des damaligen französischen Ministerpräsidenten Aristide Briand entwerfen zu können, besuchte sie ihn im Juli 1928 in Paris. Mit der Ausarbeitung der Locarno-Verträge hatte er Deutschland den Eintritt in den Völkerbund ermöglicht. Sie bewunderte ihn als einen wahren Friedenspolitiker. Briand und Stresemann erhielten 1925 den Friedensnobelpreis.Das Buch enthält im Anhang die große Locarnorede Briands vom 26.2.’26.

1930 Kleine Fanfare (Essays), u.a. ein Porträt des Friedensnobelpreisträgers Alfred H. Fried, Gründer der "Friedens-Warte" und eine Würdigung Romain Rollands.
1931 Sie erhält den angesehenen Gerhart-Hauptmann-Preis.
1932 Beschwerdebuch (Essays) 1.-5 Tsd.

Hermann Kesten zu Kolbs Exil ab 1933: "Annette Kolb ging ins Exil, entschlossen wie Dante gesagt hat: ‘die Freiheit geht er suchen, die so teuer ist, wie es weiß, wer für sie das Leben opfert.’ Sie ging, um fremdes Brot zu essen und fremder Leute Treppen auf und ab zu steigen, weil sie ohne Freiheit nicht leben, weil sie dem Frieden dienen wollte. Sie war eine deutsche Prophetin, mit politischem Weitblick, und wollte nicht durch Schweigen mitschuldig werden." (Hermann Kesten, Nachwort zu Wera Njedin)

1933 Annette Kolb flieht am 21.2. aus Deutschland. Aufenthalte in Luxemburg, an verschiedenen Orten in der Schweiz, in England, Irland und Frankreich. Neuer Wohnsitz in Paris, 23 rue Casimir Périer. Sie hat einen ausgedehnten deutsch-französischen Freundeskreis.
1934

Entfremdung von Deutschland: 
Die Nationalsozialisten stellen für sie die Verkörperung des Bösen dar. Ihnen sprach sie das Recht ab, im Namen der deutschen Tradition zu sprechen. "O, ich hätte eine so kategorische Entfremdung von Deutschland nicht für möglich gehalten. Abneigung, Kälte, so gern man die Natur und die Einzelnen hat, mais l’ensemble. - Es war keine schmerzhafte Trennung, aber es ist ein endgültiger Bruch, ein Nichtdazugehören bis ins Tiefste." (Brief an R. Schickele vom 23.3.1934)

Die Schaukel. (Eine Jugend in München), 1.-3. Aufl. bei S. Fischer. Eine Hymne auf die Symbiose von Bayerisch-Bodenständigem und Französisch-Urbanem.
Dank an die Juden: Der autobiographische Roman über eine musisch-künstlerische deutsch-französische Familie, Die Schaukel, wurde durch eine Fußnote zum Politikum, in der A. Kolb den deutschen Juden für ihren kulturellen Einfluß und ihr mäzenatisches Wirken dankte. Nach dem 5. Tausend mußte die Passage gestrichen werden : "Vom Tage an, da die Juden im geistigen Leben zu Einfluß gelangten, machten sich in der gefährdeten Existenz des Künstlers gewisse Chancen fühlbar, daß er nicht mit einer Mühsal wie bisher, die subjektiv gesehen nur zu oft einem Auf-der-Strecke-Bleiben gleichkam, sich durchzuringen hatte; mit anderen Worten und retrospektiv gesehen: daß ein Hölderlin vielleicht davor bewahrt geblieben wäre, den armen Hauslehrer zu spielen, Franz Schubert vielleicht nicht so jung und als ein derart armer Teufel gestorben wäre. Wie dem auch sei: wir sind heute in Deutschland eine kleine Schar von Christen, die sich ihrer Dankesschuld dem Judentum gegenüber bewußt bleibt." Von einem "dankenswerten Bekenntnis einer charakterfesten deutschen Dichterin" sprach das Israelitische Familienblatt am 25.10.1934.
1936 Sie erhält die beantragte französische Staatsbürgerschaft.
Der Paß des französischen Mutterlandes:
"Erst im Jahre 1936 wurde ich Französin. Und zufällig kam an diesem Tage Giraudoux zu mir. Und ich sagte ihm: ‘Gratulieren Sie mir’. Und er sagte: ‘Ich gratuliere uns!’. Und ich war entzückt von dieser politesse française." (A. Kolb: Ein Selbstportrait, 1967)
1937 Mozart. Sein Leben. 1.-4. Aufl. bei Bermann-Fischer, Wien. Erscheint 1938 übersetzt in Paris, mit einem Vorwort von Jean Giraudoux.
1938 Festspieltage in Salzburg und Abschied von Österreich, im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange.
1939 Im Mai Teilnahme am Internationalen PEN-Kongreß in New York
1940 Tod René Schickeles; A. Kolb verfaßt einen Nachruf in der Züricher Exilzeitschrift Maß und Wert.
Annette Kolb verläßt am 31. Mai nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich Paris, Aufenthalt in Vichy, von dort zurück in die Schweiz.
1941 Flieht im Alter von 71 Jahren über Madrid nach Lissabon und im April mit dem Flugzeug nach New York. Wechselnde Adressen in New York. Franz Schubert. Sein Leben, unter extremen Exilbedingungen entstanden, "unter Angstzuständen", erscheint bei Bermann-Fischer in Stockholm und 1942 bei Allert de Lange in Amsterdam.

Exilverleger Gottfried Bermann Fischer über Annette Kolb:
"Wie aber kann ich singen und sagen von der Herrlichen, Verehrungswürdigen, der Einmaligen, ANNETTE KOLB? Wer ihr nicht begegnet ist, hat die Bekanntschaft mit einer der wahrhaft großen Persönlichkeiten unserer Zeit versäumt. Sie ragt wie ein Monument aus der Wirrnis der Zeiten."
(G. Bermann Fischer in: Bedroht - Bewahrt. Der Weg eines Verlegers. 1967)

1945 Am 25. Oktober Rückflug nach Europa. Zunächst nach Irland, dann in die Schweiz und nach Frankreich. Hauptsächlicher Wohnsitz bis 1961 Hotel Cayré in Paris.
1947 König Ludwig II. von Bayern und Richard Wagner, Amsterdam. Querido Verlag.
1949 Aufenthalt in ihrem Haus in Badenweiler. Zuwahl zur Klasse "Literatur" der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz.
1950 Aufnahme in die Bayerische Akademie der Schönen Künste.
1951 Kunstpreis für Literatur der Stadt München für das Jahr 1950.
1954 Blätter in den Wind. Essays in deutscher und französischer Sprache. u.a. Mes Entretiens avec Camille Barrière.
Der französische Diplomat ging seit 1888 im Hause Kolb ein und aus; er blieb in seiner Gesandtschaftszeit in Bern und als Botschafter in Rom mit Annette befreundet. Er bemühte sich um eine Entspannungspolitik zwischen Frankreich und Deutschland. A. Kolb war davon überzeugt, daß er als Botschafter in Berlin viel zur Verhinderung des 1. Weltkriegs hätte beitragen können. 1954 veröffentlichte sie ihre Erinnerungen an den Diplomaten Barrère Mes Entretiens avec Camille Barrère, in: Blätter in den Wind.

 

 




Camille Barrère, 1903
Widmung : Annette Kolb, souvenir affectueux de Camille Barrère".

1955 Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt am Main in der Paulskirche.
1959 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, verliehen in Paris.
1960 Memento. Erinnerungen an die Emigration 1933-1945.

Mitgliedsausweis der Légion d’Honneur 1961

Ehrung durch den Französischen Staat:

Ihr lebenslanges Engagement für eine Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland wurde nach dem 2. Weltkrieg vielfach geehrt. Die höchste französische Auszeichnung war die Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion. Beim Ausfüllen der Mitgliedskarte setzte sie PARIS als Geburtsort ein. Ihre Begründung: "Pour la légion d’honneur il faut mettre Paris." In der Wertigkeit entspricht ihm der deutsche Orden Pour le mérite, den sie 1966 erhielt.

1961 Annette Kolb wird zum Chevalier de la Légion d’Honneur ernannt. Sie erhält den Bayerischen Verdienstorden und den Literaturpreis der Stadt Köln. Sie lebt nun wieder ganz in München, in der Händelstraße 1.
1964 1907-1964 Zeitbilder (Essays).
1966 Verleihung des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste. Großes Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
1967 Im März Reise nach Israel. Am 3. Dezember stirbt sie im Alter von 97 Jahren in München.